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Der Waldgott

Als Clayton den Knall der Feuerwaffe gehört hatte, geriet er in eine entsetzliche Angst. Er dachte, der Schuß müsse von einem der Matrosen abgefeuert worden sein. Aber da fiel es ihm ein, daß er Jane Porter den Revolver gelassen hatte; in seiner nervösen Überreizung sagte er sich, sie sei jedenfalls von einer großen Gefahr bedroht, vielleicht habe sie sich gerade in diesem Augenblick gegen einen wilden Menschen oder ein wildes Tier verteidigen müssen. Welches die Gedanken seines Führers waren, konnte er nur vermuten, aber daß er den Schuß ebenfalls gehört hatte und in irgend einer Weise davon beeinflußt wurde, war klar, denn er bewegte sich jetzt in den Bäumen mit großer Schnelligkeit weiter.

Clayton suchte ihm zu folgen, aber binnen weniger Minuten stolperte er ein Dutzend mal und gab es daher bald auf, mit ihm gleichen Schritt zu halten.

Da er fürchtete, jetzt unwiederbringlich verloren zu sein, rief er dem wilden, sich über die Bäume dahinschwingenden Manne laut nach, und hatte alsbald die Genugtuung, ihn aus den Zweigen herniederkommen zu sehen.

Einen Augenblick sah Tarzan sich den jungen Mann aus der Nähe an, als ob er noch nicht wüßte, was er wohl am besten tun könne; dann bückte er sich vor Clayton nieder und bedeutete ihm, ihn um den Hals zu fassen. Als er den Engländer auf dem Rücken hatte, kletterte er wieder auf einen Baum, und nun ging die Reise in der luftigen Höhe über die Äste weiter.

Der junge Engländer hatte noch nie so etwas erlebt, und diese Minuten sollte er auch nie vergessen. Über die sich beugenden Äste wurde er fortgetragen und zwar, wie es ihm schien, mit einer unglaublichen Schnelligkeit, wohingegen Tarzan über sein langsames Fortkommen ungehalten war.

Von einem hohen Ast schwang sich der behende Wilde mit Clayton auf dem Rücken in einem schwindelnden Satze auf den nächsten Baum; dann wieder folgten seine Füße einem Durcheinander von Ästen, wobei er wie ein Seiltänzer hoch über der dunklen Tiefe dahinwanderte.

In den ersten Augenblicken hatte Clayton nur das Gefühl einer schaurigen Furcht. Dann aber bewunderte und beneidete er diese rissigen Muskeln und den wunderbaren Instinkt, der diesen Waldgott so leicht und so sicher durch die dunkle Nacht führte.

Zuweilen kamen sie an eine Stelle, wo das Laub über ihnen weniger dicht war, so daß Clayton im Mondlicht den seltsamen Weg bewundern konnte, den der Wilde einschlug.

Wenn er in die Tiefe schaute, so stand ihm fast der Atem still, denn sie waren oft hundert Fuß über der Erde.

Trotz der scheinbaren Schnelligkeit kamen sie verhältnismäßig langsam vorwärts, denn Tarzan mußte immer Äste von genügender Stärke suchen, die auch imstande waren, ein doppeltes Menschengewicht zu tragen.

Nun waren sie an der Lichtung bei der Küste. Dank seinem geübten Ohr hatte Tarzan das Geräusch gehört, das die Löwin machte, als sie durch das Gitter des Fensters hineinzudringen versuchte; er stieg denn auch mit einer solchen Eile hinunter, daß es Clayton vorkam, als seien sie heruntergeflogen. Und doch berührten sie die Erde mit einem kaum merkbaren Ruck.

Kaum hatte Clayton den Affenmenschen losgelassen, als dieser auch schon wie ein Eichhörnchen auf die entgegengesetzte Seite der Hütte eilte.

Der Engländer sprang schnell hinter ihm drein, und konnte eben noch sehen, wie der hintere Teil eines gewaltigen Tieres durch das Fenster in der Hütte verschwand.

Als Jane Porter die Augen wieder öffnete und die Gefahr erkannte, die sie jetzt unmittelbar bedrohte, gab ihr wackeres junges Herz die letzte Hoffnung auf. Sie drehte sich um, um nach der Waffe zu greifen, denn sie wollte lieber sich selbst entleiben, ehe sie von den grausamen Zähnen der Löwin zerrissen würde.

Schon war das Tier fast durch die Öffnung hindurch, als Jane die Waffe fand. Rasch richtete sie den Revolver gegen ihre Schläfe, um den häßlichen Rachen der Löwin nicht mehr zu sehen.

Einen Augenblick zögerte sie, um noch ein kurzes stilles Gebet zu ihrem Schöpfer emporzusenden, als ihr Blick auf die arme Esmeralda fiel, die unbeweglich, aber noch lebend, neben dem Schranke lag.

Konnte sie die arme treue Dienerin den unbarmherzigen gelben Fängen überlassen? Nein, sie mußte der bewußtlosen Frau eine Kugel ins Herz schießen, ehe sie die kalte Mündung gegen sich selbst richtete.

Das war ihr zwar ein schrecklicher Gedanke, aber wäre es nicht tausendmal grausamer, wenn das gute schwarze Weib, das sie mit mütterlicher Liebe und Sorgfalt großgezogen hatte, unter den zerreißenden Tatzen der großen Katze die Besinnung wieder erlangen würde?

Schnell sprang Jane Porter auf und eilte zu der Schwarzen. Sie drückte die Mündung fest gegen das treue Herz, schloß die Augen und – da stieß die Löwin ein fürchterliches Gebrüll aus.

Bestürzt feuerte Jane den Schuß ab und wandte sich dem Tiere zu, indem sie gleichzeitig die Waffe gegen ihre eigene Schläfe richtete.

Sie feuerte aber keinen zweiten Schuß ab, denn zu ihrem Erstaunen sah sie, daß das gewaltige Tier aus dem Fenster zurückgerissen wurde, und dahinter erblickte sie im Mondlicht die Köpfe und Schultern zweier Männer.

Als Clayton um die Ecke der Hütte geeilt war, um das Tier zu sehen, bemerkte er, wie der Affenmensch den langen Schwanz mit beiden Händen erfaßt hatte und, sich mit den Füßen gegen die Wand stemmend, all seine Kraft anwandte, um das Tier herauszuzerren.

Clayton wollte ihm dabei hilfreiche Hand leisten, aber der Affenmensch plapperte etwas in einem so entschiedenen Tone, daß der Engländer es als einen Befehl auffaßte, obschon er kein Wort davon verstand.

Er half aber weiter, an dem Löwen zu ziehen, und endlich gelang es ihren vereinten Anstrengungen, das schwere Tier aus dem Fenster herauszubringen.

Nun erst bekam Clayton einen Begriff von der tollkühnen Tapferkeit seines Gefährten.

Es war in der Tat der höchste Heldenmut von seiten eines nackten Menschen, einen brüllenden und kratzenden Löwen mit dem Schwanz aus einem Fenster herunterzuziehen, um ein unbekanntes weißes Mädchen zu retten.

Bei Clayton war es schon etwas ganz anderes, denn das Mädchen war nicht bloß von seiner eigenen Art und Rasse, sondern auch das einzige weibliche Wesen auf der Welt, das er liebte.

Obschon er wußte, daß die Löwin kurzen Prozeß mit ihnen beiden machen würde, half er mit ganzer Willenskraft, sie herunterzuziehen, bloß um sie von Jane Porter abzuhalten. Dann erinnerte er sich des Kampfes zwischen diesem Mann und dem großen Löwen mit der dunklen Mähne, dessen Zeuge er heute gewesen war, und fing an, wieder mehr Vertrauen zu fassen.

Tarzan erteilte noch immer Befehle, die Clayton nicht verstand. Er versuchte, dem dummen weißen Mann zu sagen, er sollte der Löwin die vergifteten Pfeile in den Rücken und die Seiten stoßen und ihr Herz mit dem langen dünnen Jagdmesser, das an seiner Hüfte hing, durchbohren, aber der Mann verstand ihn nicht, und Tarzan wagte es nicht, von dem Tiere abzulassen, denn er wußte, daß der schwächliche weiße Mann nicht imstande wäre, die Löwin auch nur eine Minute lang allein zu halten.

Langsam kam die Löwin aus dem Fenster heraus. Zuletzt waren auch die Schultern draußen.

Und dann sah Clayton etwas, was er noch nie erlebt hatte. Tarzan hatte sich nämlich den Kopf zerbrochen, wie er wohl allein mit dem rasenden Tier fertig werden könne. Da erinnerte er sich plötzlich seines Kampfes mit Terkop, und als nun die großen Schultern aus dem Fenster kamen, so daß das Tier nur noch mit den Vordertatzen am Rande hing, ließ er seine Hände von ihm los.

Mit der Behendigkeit einer Schlange stürzte er sich auf den Rücken der Löwin. Er suchte sie so zu umfassen, wie er es damals in seinem blutigen Ringkampfe mit Terkop getan hatte.

Mit einem lauten Gebrüll wandte sich die Löwin, um über ihren Feind herzufallen, aber dieser hielt sich an ihr fest.

Mit den Pfoten schlagend und kratzend, wälzte das Tier sich hin und her, um den sonderbaren Feind von sich abzuschütteln, aber immer fester drückte sich der eiserne Griff, der sie bezwang, auf ihre Brust.

Immer höher kletterte der Feind ihr am Nacken hinauf, indes ihre eigenen Anstrengungen immer schwächer wurden.

Zuletzt sah Clayton im Mondlicht, wie Tarzan in einer äußersten Kraftanstrengung seiner gewaltigen Muskeln der Löwin das Genick brach.

Ein scharfer Knacks, – und sie war erledigt.

Im Augenblick war Tarzan auf den Beinen, und zum zweiten Mal an diesem Tage hörte Clayton das wilde Siegesgeschrei.

Als Jane Porter dies aber vernahm, rief sie in Todesangst: Cecil – Mr. Clayton! O was ist das? Was ist das?

Schnell zur Tür eilend, rief Clayton ihr zu, alles sei in Ordnung, und bat sie, zu öffnen. So schnell wie sie nur konnte, entfernte sie die große Stange von der Tür, so daß Clayton eintreten konnte.

Was war das für ein schrecklicher Schrei? fragte sie flüsternd, indem sie ängstlich näher an ihn herankam.

Es war der Kampfruf aus der Kehle des Mannes, der Ihnen eben das Leben gerettet hat, Miß Porter. Warten Sie, ich will ihn holen, damit Sie ihm danken können.

Das noch immer ängstliche Mädchen wollte nicht allein bleiben und so ging sie mit Clayton nach der Hüttenwand hinaus, wo der Körper der Löwin lag.

Tarzan hatte sich schon entfernt.

Clayton rief ihm mehrmals, erhielt aber keine Antwort, und so gingen beide zu ihrer größeren Sicherheit wieder ins Innere.

Welch ein schrecklicher Ton! rief Jane Porter aus. Mir schaudert schon bei dem Gedanken daran. Ich kann nicht glauben, daß eine menschliche Kehle einen so häßlichen, furchtbaren Schrei ausstoßen kann.

Und doch ist es so, Miß Porter, antwortete Clayton, und wenn es keine menschliche Kehle ist, so ist es die eines Waldgottes.

Dann erzählte er ihr seine Erlebnisse mit diesem sonderbaren Geschöpf, wie der wilde Mann ihm zweimal am Tage das Leben gerettet, er sprach ihr von seiner wunderbaren Stärke, Gewandtheit und Tapferkeit, von seiner braunen Haut und seinem schönen Antlitz.

Ich kann mir das alles nicht erklären, sagte er zum Schluß. Zuerst dachte ich, es könnte wohl der Assen-Tarzan sein, aber er spricht kein Englisch und versteht es auch nicht, so daß diese Annahme unhaltbar ist.

Nun, rief das Mädchen, was er auch sein mag, wir schulden ihm unser Leben. Möge Gott ihn segnen und ihn in dieser wilden Dschungel in seinen Schutz nehmen!

Amen! antwortete Clayton inbrünstig.

Da erblickten sie Esmeralda, die aufrecht auf dem Boden saß. Ihre großen Augen rollten hin und her, als ob sie nicht daran glauben könnte, daß sie noch am Leben sei.

Und dabei wußte sie nicht einmal, daß ihre eigene Herrin sie hatte töten wollen. Der Schrei der Löwin hatte sie gerettet, denn Jane Porter war dadurch so zusammengefahren, daß der Schuß sein Ziel verfehlte und die Kugel nur in den Fußboden drang.

Jetzt machte sich auch bei Jane Porter der Rückschlag geltend. Sie sank auf die Bank und fiel in ein nervöses Weinen.


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