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Inzwischen hatte Jeremias Stickles sämtliche Vorbereitungen für seinen Angriff auf das Doonethal getroffen. Er kam noch am selben Abend zurück, und sobald sein Vorhaben bekannt ward, geriet die ganze Bevölkerung in Aufregung. Leute, welche sich noch vor kurzem gescheut hätten ein Wort gegen die Geächteten zu wispern, schärften jetzt ihre alten Hirschfänger und Heugabeln und prahlten mit ihren künftigen Heldenthaten. Natürlich waren die Doones längst von unsern feindlichen Absichten unterrichtet, und wir mußten uns auf starke Gegenwehr gefaßt machen; das heißt, ich schwankte noch, ob ich an dem Zug teilnehmen wollte.
Stickles lachte herzlich über Annchens verzauberten Rahm. Um so ernster wurde er, als er erfuhr, wie kostbar die gestohlenen Edelsteine waren.
»Eine schlimme Geschichte, mein Sohn,« rief er. »Ich fürchte, Ihr werdet den Verlust ersetzen müssen, und wie wollt Ihr das anstellen?«
Mich überlief es kalt. »Den Verlust ersetzen – das wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst wenn wir unsere Habe bis zum letzten Heller hergeben, und unser Lebenlang arbeiten wie die Knechte, wir brächten nicht den zehnten Teil zusammen.«
»Ein furchtbarer Schlag für deine gute Mutter und dich, John. Es thut mir in der Seele weh. Wie lange ist denn dies Freigut schon in Eurer Familie?«
»Mindestens sechshundert Jahre,« antwortete ich mit thörichtem Stolz. »Man sagt, König Alfred habe es einem meiner Vorfahren verliehen zum Lohn für die Treue mit der er während seiner Flucht vor den Dänen bei ihm ausgeharrt hat. Die Ridds sind stets gute Unterthanen gewesen; man wird uns sicherlich unsern Besitz nicht nehmen, außer wenn wir Hochverrat begehen.«
»Daß nur ja deine Mutter nichts von meiner Befürchtung erfährt, John! Behalte alles für dich und denke so wenig wie möglich daran. Vielleicht irre ich mich auch und sehe viel zu schwarz.«
»Nein, Stickles, dabei beruhige ich mich nicht. Denkt Ihr, ich könnte essen, trinken, schlafen und den Leuten ins Gesicht sehen, als sei noch alles wie früher, während ich nicht weiß, ob uns vielleicht keine Rute Land, ja nicht einmal unser alter Schäferhund noch zu eigen gehört? – Sprecht Euch aus, Stickles, und laßt mich das Schlimmste hören.«
Stickles sah sich erst vorsichtig um, ob auch beide Thüren geschlossen seien. »Nun gut,« sagte er, »du sollst wissen, was ich schon seit längerer Zeit vermute; die Geschichte mit dem kostbaren Halsband hat mich von neuem in meiner Ansicht bestärkt. Versprich mir aber, daß du kein Wort davon verlauten lassen wirst.«
»Ich gelobe es bei meiner Mannesehre, bis Ihr mich selbst von dem Schweigen entbindet.«
»Das genügt mir und ich will dir vertrauen. In einer Beziehung vermag ich dich übrigens zu beruhigen, wenn ich dich auch in anderer erschrecken muß. Irre ich nicht, so liegt dir die Mitteilung, die Euch der alte Bösewicht gemacht hat, ehe er den Schmuck raubte, noch schwerer auf dem Herzen als der Diebstahl selbst.«
»Das leugne ich nicht. Nur meiner Lorna wegen und um die Absicht des Rats zu vereiteln, nahm ich die Sache auf die leichte Achsel. Müßte ich wirklich glauben, daß ihr Vater den meinigen erschlagen hat, ich würde nie wieder froh werden.«
»Zum Glück kann ich dich von dieser geheimen Sorge befreien, mein Sohn. Aber du wirst Mut und Kraft brauchen, um den neuen Kummer zu tragen, den ich dir bereiten muß.«
»Ich werde mein Möglichstes thun,« sagte ich.
Stickles setzte sich hierauf behaglich in dem Lehnstuhl zurecht und that einen tiefen Zug aus seiner Pfeife.
»Vor mehr als einem halben Jahr,« begann er seine Mitteilung, »ritt ich einmal von Dulverton nach Watchett –«
»Von Dulverton nach Watchett!« rief ich – »das erinnert mich ja an – –«
»Unterbrich mich nicht, John, sonst sage ich kein Wort mehr. – Es dunkelte bereits und ich war matt und müde; auch ärgerlich obendrein, denn ich hatte mich in Dulverton vergebens bemüht, von den Mitbürgern des würdigen Herrn Huckaback etwas über dessen geheimnisvolles Treiben zu erfahren. Der Weg ward immer beschwerlicher und führte endlich steil zur Küste hinab. Als ich um einen Felsvorsprung bog, sah ich die tosende Brandung dicht vor mir. Mein Pferd scheute und that erschreckt einen Seitensprung, denn der Nordwind, der nach dem Lande zu blies, überschüttete uns mit Schaum und Sprühregen. Am Fuß der Felsen, die dort nicht schroff ins Meer fallen, blieb auf dem breiten Uferrand Platz genug für Roß und Reiter; von der Stadt Watchett war noch nichts zu sehen, eine Anhöhe schob sich dazwischen; aber wo der gelbe Sand aufhörte, lag in einem geschützten Winkel ein sauberes Häuschen, aus dem mir ein gastliches Licht entgegenblickte. Sofort lenkte ich mein Pferd darauf zu, denn ich hoffte dort ein behagliches Nachtquartier zu finden. Auf mein Klopfen erschien oben ein Gesicht am Gitterfenster und gleich hernach ward der Riegel an der Thür fortgeschoben. Eine Frau öffnete mir. Sie mußte wohl eine Südländerin sein, nach ihren schwarzen Augen und der dunkeln Hautfarbe zu urteilen; auch wartete sie, bis ich sie anredete, was keine unserer Landsmänninnen gethan hätte.
»›Finde ich hier ein Unterkommen zur Nacht,‹ fragte ich, unwillkürlich den Hut lüftend; ›wir sind beide müde und hungrig, mein Pferd und ich.‹
»›Ein Bett können wir Euch geben,‹ lautete die Antwort. ›Ob Euch aber das Essen behagen wird, weiß ich nicht. Die Fischer konnten ihre Netze nicht auswerfen, wegen der hohen See. Doch haben wir geräuchertes – wie nennt man es doch – Fleisch vom Schwein.‹
»›Geräucherten Speck, meint Ihr. Das ist gut, dazu ein halb Dutzend Eier und einen Krug Bier. Wahrhaftig, Ihr macht mir den Mund wässern danach. Ist das Grausamkeit oder Gastfreundschaft?‹
»Sie lachte hell auf. ›Ihr seid anders wie die Männer hier zu Lande; Ihr habt Verstand und könnt Späße machen.‹
»›Ja, und besonders tüchtig essen. Ihr sollt noch staunen über meinen Appetit.‹
»Ob es meine Weltgewandtheit war, oder mein Mutterwitz, oder die Ausdauer, mit der ich ihren Speisen zusprach, was die reizende Wirtin für mich einnahm, weiß ich nicht. Reizend war besonders ihre Kochkunst und ihr lebhaftes Wesen; ihr Äußeres wäre niemand mehr gefährlich gewesen.
»Wir plauderten bald vertraulich zusammen und ich verwunderte mich höchlich, durch welche Laune des Schicksals diese kluge Frau, die früher einmal sehr hübsch gewesen sein mußte und durchaus nicht unter das Bauernvolk paßte, in dies einsame Gasthaus am Strande verschlagen worden war. Wie kam sie zu dem linkischen Gatten, der den Tag über als Töpfergeselle in Watchett arbeitete, und was bedeutete das seltsame Schild über ihrer Thür: eine häßliche Katze, die auf einem abgebrochenen Baumstamm saß?
»Meine Neugier wurde jedoch auf keine zu harte Probe gestellt, denn kaum hatte sie erfahren, ich sei Regierungsbote, eine Art königlicher Beamter, so empfand sie das dringendste Bedürfnis, mir alles zu erzählen. Längst schon hatte sie gewünscht, einem klugen, rechtschaffenen Manne zu begegnen, der des Gesetzes kundig sei. Denn die Richter der Umgegend gaben ihr alle kein Gehör, weil sie behaupteten, sie hätte einen Sparren zu viel im Kopf und sei eine gottlose Ausländerin.
»Sie versicherte mir, vom ersten Tage an habe sie das Schicksal verwünscht, das sie hierhergeführt. Aus freiem Willen würde sie nun und nimmermehr dies Unglücksland aufgesucht haben, in dem ein halbes Jahr Nebel herrsche und die übrige Zeit der Regen nicht aufhöre.
»Sie hieß Benita, war von Geburt Italienerin und aus ihren Heimatbergen in Apulien nach Rom gekommen, um ihr Glück zu suchen. Flink und anstellig wie sie war, fand sie bald Beschäftigung in einem großen Hotel und konnte ihren Eltern ab und zu kleine Geldsummen schicken. Es ging ihr gut, und sie hätte in ihrem sonnigen Vaterland bleiben, später heiraten und ein reichliches Auskommen haben können. Da führte ihr böses Geschick eines Tages eine reiche englische Adelsfamilie nach Rom, die den Papst sehen wollte. Das war jedoch nicht der einzige Grund, weshalb sie auf Reisen gingen. Benita erfuhr, sie hätten einer schlimmen Fehde wegen England verlassen müssen. Den eigentlichen Zusammenhang konnte sie nie recht verstehen, sie wußte nur, daß es sich um großen Landbesitz handle und daß die kürzlich verstorbene Schwester des Lords die Gattin seines verhaßten Widersachers gewesen sei.
»Diese vornehmen und sehr freigebigen Leute suchten ein Kammermädchen, das die Pflege der Kinder sowie die Bedienung der Dame übernehmen und ihnen unterwegs die italienische Sprache verdolmetschen sollte. Als Benita die Stelle angetragen wurde, willigte sie mit Freuden ein, ohne zu ahnen, was für ein schlimmes Ende die Sache nehmen werde. Sie hatte die Kinder sehr lieb und wurde reich beschenkt, so daß sie ihrem Vater einen alten Schuh voll Geldstücke schicken konnte. Freilich ward ihr gleich von Anbeginn etwas bange zu Mute, denn das Schicksal verhieß ihr nichts Gutes. Die Lorbeerblätter, die sie ins Feuer warf, krachten kein einziges Mal, und bei der Abreise mußte sie tief aufseufzen – ein sehr schlechtes Zeichen.
»Trotzdem ging zuerst alles gut. Der junge Lord besonders war voller Lust und Leben. Er saß fast nie mit im Reisewagen, sondern galoppierte voraus, so oft ein Reitpferd zu haben war. Unbewaffnet, sorglos und glücklich wie ein Kind, ritt er über Stock und Steine; der blaue Himmel, die köstliche Luft entzückte ihn. Wer in seine Nähe kam mußte seine Freude teilen. Den Anblick von Kummer und Armut ertrug er nicht.
»Benita trocknete sich die Augen, bevor sie in ihrem Bericht fortfuhr, was mich sehr für sie einnahm. Dann erzählte sie weiter, wie sie mit der Familie durch Norditalien und das südliche Frankreich gereist sei, teils zu Wagen, teils auf Maultieren, manchmal auch zu Fuß, aber stets unter Frohsinn und Heiterkeit. Die Kinder waren lustig und guter Dinge und gediehen zusehends, besonders das kleine Fräulein, das älter war als ihr Brüderchen. Wer hätte da noch an böse Vorbedeutungen glauben sollen? –
»Leider bestätigten sich aber Benitas schlimmste Befürchtungen nur zu bald. Die Reisenden befanden sich auf der französischen Seite der Pyrenäen, als der Lord eines Tages wieder vorausreiten wollte, nach einem berühmten Aussichtspunkt. Er versprach seiner Gemahlin alles so genau zu beschreiben, als hätte sie es selbst gesehen, denn die beiden waren unzertrennlich von einander und teilten jeden Gedanken und jeden Genuß. Zum Abschied warf er ihr und den Kindern noch eine Kußhand zu und war bald auf seinem feurigen Renner um die nächste Ecke verschwunden.
»Die Seinigen warteten auf ihn, Tage und Nächte lang, doch er kehrte nicht wieder zurück. Erst nach Ablauf einer Woche ward sein zerschmetterter Leichnam in einer Felsschlucht gefunden und auf dem kleinen Friedhof im Gebirge beigesetzt.
»Seine Gattin blieb noch sechs Monate am Ort. Sie konnte ihren Verlust nicht fassen, legte auch keine Trauerkleider an und duldete kein Zeichen des Kummers, kein Weinen und Klagen in ihrer Nähe. Sie wollte nicht an das Unglück glauben und hoffte immer noch auf Gottes Hilfe. Dabei beharrte sie auch bis zum letzten Tag.
»Als der Oktober kam, die Wölfe in den Pyrenäen heulten und Schnee den kleinen Friedhof zudeckte, beredete man sie endlich, die Heimreise nach England anzutreten. Es war hohe Zeit, denn die Geburt ihres dritten Kindes stand nahe bevor.
»Zehn oder elf Jahre sind es jetzt her, da landete die verwaiste Familie an der Küste von Devonshire, hielt sich mehrere Tage in Exeter auf und reiste dann weiter nach Watchett im Norden von Somerset. In jener Gegend besaß die Lady ein kleines Schloß, das sie zu beziehen wünschte, um in aller Stille die Rückkehr ihres Gatten abzuwarten, der, wie sie sagte, sofort kommen werde, um sein neugeborenes Kind zu sehen.
»Das erste Nachtquartier nahmen sie in Bampton und fuhren am frühen Morgen von dort ab, in der Hoffnung, ihr Reiseziel noch vor dem Abend zu erreichen. Aber auf den schlechten Wegen brach die Axe der Kutsche und mußte in Dulverton ausgebessert werden. Dadurch gingen drei Stunden verloren und es wäre klüger gewesen die Fahrt erst am nächsten Tage fortzusetzen; jedoch die Lady wollte davon nichts hören, sie sagte, sie müsse nach Hause, ihr Mann erwarte sie.
»So wurden denn an jenem Nachmittag im Dezember die Pferde wieder eingeschirrt, und die Kutsche schleppte sich schwerfällig den Hügel hinauf. Die Dame saß mit ihren beiden Kindern und Benita im Wagen; das zweite Dienstmädchen und die beiden Diener, jeder mit einer Muskete bewaffnet, auf dem Bock und drei Postillone auf den Pferden. Zwar hatte man den Reisenden viel von den mächtigen Räubern erzählt, welche die Straßen unsicher machten und denen jeder seinen Zoll entrichten müsse, und sie wiederholt gewarnt, aber die Lady hatte stets erwidert: ›Fahrt nur zu, ich weiß was Brauch ist bei den Herren von der Landstraße. Frauen und Kinder greifen sie nicht an.‹
»Durch den Nebel und Schlamm ging die Fahrt weiter, bald sank der Wagen tief ein im Sande und drohte umzuwerfen, bald schlugen die Pferde aus und wollten nicht von der Stelle. Es dunkelte schon als die Postillone den Abhang hinab zur Seeküste lenkten und Gott dankten, daß der Weg nach Watchett nun vor ihnen lag.
»An derselben Stelle, wo mein Pferd gescheut hat, sprang der kleine Knabe vom Sitz auf und klatschte entzückt in die Hände, als er das Meer sah. Und hier sollte sie auch ihr Schicksal ereilen.
»Die Wellen brachen sich gegen die Klippen, die Flut bespülte den Ufersand und trotz der herrschenden Dämmerung gewahrten die Reisenden einen Reitertrupp, der unter einem Felsvorsprung hielt, bereit im nächsten Augenblick über sie herzufallen. Angesichts der drohenden Gefahr hieben die Postillone auf die Pferde, die geradeswegs ins Meer hinausstürmten; die Diener hielten ihre Musketen bereit und duckten sich ängstlich nieder, während die Dame hoch aufgerichtet, und ohne einen Laut des Schreckens auszustoßen, bemüht war, den Knaben mit ihrem Leibe zu decken.
»Noch ehe die Pferde den Wagen ganz ins Wasser gezogen hatten, war derselbe von zwanzig wildblickenden Männern umringt. Sie fluchten auf die Postillone, schnitten die Stränge durch und zerrten die Deichselpferde zurück, die sich wie rasend geberdeten. Während der Wagen schwankte und umzufallen drohte, schrie plötzlich die Dame gellend auf: ›Den Mann kenne ich. Er ist unser Todfeind!‹ Benita aber, die Plünderung voraussehend, griff rasch nach dem wertvollsten Schmuckstück der Lady, einem kostbaren Brillantenhalsband, legte es dem kleinen Mädchen um und verbarg es unter ihrem Reisemäntelchen. Da wälzte sich eine große Woge heran und warf den Wagen auf die Seite, das Wasser strömte hinein, Benita hörte noch das Klirren der Scheiben und lautes Angstgeschrei, dann schwanden ihr die Sinne.
»Als sie wieder zu sich kam – ein Schlag auf den Kopf hatte sie betäubt, die Narbe war noch zu sehen – lag sie auf dem Sande und einer der Diener wusch ihr die Schläfen. Die Räuber waren verschwunden, auf einem Felsblock aber saß ihre Herrin, hielt ihren toten Knaben im Schoß und schaute bald diesen an, bald blickte sie suchend umher nach dem andern Kinde.
»Es kamen Leute herbei, man brachte Fackeln und Windlichter, aber keiner traute sich in die Nähe der Unglücklichen. Es war gar zu grauenhaft anzusehen, wie sie mit thränenlosen Blicken dasaß und auf ihr totes Kind starrte. Alle scheuten davor zurück, nur Benita schlich leise zu ihr hin und flüsterte: ›Es ist Gottes Wille.‹
»›In Ewigkeit,‹ stieß die arme Mutter hervor und fiel Benita schluchzend um den Hals. Man schaffte sie noch am Abend bis nach Watchett, und bevor die Morgensonne aufging, war die Schwergeprüfte mit ihrem Gatten vereinigt. Sie ruht auf dem Friedhof in Watchett, ihr Sohn und Erbe neben ihr, und das Neugeborene hat man an ihrer Brust gebettet. –
»Eine erbärmliche Geschichte,« unterbrach sich Jeremias Stickles tief aufatmend. »Reiche mir die Branntweinflasche, John. Ein Narr, wer sich mit andrer Leute Jammer das Herz beschwert. Komm', gieße dir auch ein Glas ein, du siehst ja ganz trübselig aus.«
Obgleich sich Stickles alle Mühe gab, seine Mannhaftigkeit zu zeigen, sah ich doch, daß ihm die Augen naß wurden, und ich konnte meine eigenen Thränen kaum zurückhalten.
»Wie hieß denn die edle Dame?« fragte ich, »wo ist das kleine Mädchen hingekommen? Und warum wohnt die Italienerin noch in jener Gegend?«
»Wie, wo, warum – das richtige Fragespiel, John. Da schilt man immer auf die Neugier der Weiber. Laß mich mit der Beantwortung von hinten anfangen: Benita blieb an dem Unglücksort, weil sie nicht fortkonnte. Die Doones – daß sie die Räuber waren, wirst du dir wohl denken – plünderten die Kutsche und nahmen alles mit fort, bis auf den letzten Heller; ob naß oder trocken war ihnen gleich. Benita konnte nicht einmal ihren rückständigen Lohn erhalten. Die ganze Angelegenheit schwebt noch bei dem Kanzleigericht.«
»O weh,« rief ich, denn mir fielen meine eigenen Londoner Erlebnisse ein.
»Das arme Ding mußte sich die Rückkehr nach Apulien aus dem Sinn schlagen. Sie verließ die neblige Küste nicht wieder und wurde die Frau eines Töpfergesellen, der in Watchett arbeitet. Der Mann hatte sich ihrer unglücklichen Herrin aus Mitleid angenommen und bot auch ihr ein Obdach. Dort lebt das Ehepaar jetzt, sie haben drei Kinder, und du kannst sie aufsuchen sobald du willst.«
»So weit ist mir die Geschichte klar. Aber nun zu meiner zweiten Frage: was ist aus dem kleinen Mädchen geworden?«
»Bist du denn ganz vernagelt? – Wenn das irgend jemand aus Gottes Erdboden weiß, so bist du es doch.«
»Wüßte ich es, so würde ich Euch nicht fragen.«
»Nun gut, du sollst es aus meinem Munde hören, aber werde nur nicht allzu stolz: So wahr ich hier stehe, das kleine Mädchen ist niemand anders als – Lorna Doone.«
Ein solcher Dummkopf, wie Stickles glaubte, war ich denn doch nicht. Daß meine Lorna das Kind jener unglücklichen Eltern sei, hatte ich gleich vermutet und war jetzt fest davon überzeugt. Es schnürte mir das Herz in der Brust zusammen, wenn ich an die Trübsal der edlen Dame, ihr Vertrauen auf die Vorsehung und ihren jammervollen Tod dachte und mir vorstellte, wie sehr es mein Lieb betrüben würde, das alles zu erfahren. Hauptsächlich um meine Rührung zu verbergen, hatte ich Stickles so mit Fragen bestürmt.
Als er die schwerfällige Kutsche erwähnte, der bei Dulverton die Axe gebrochen war, und ihre Insassen beschrieb, war eine Fülle von Erinnerungen über mich hereingeströmt. Das Jahr, die Zeit, die Witterung, alles paßte genau. Ich sah mich wieder an dem Pumpbrunnen mit der ausländischen Kammerzofe, die mich küssen wollte, sah wie der Reisewagen den Hügel heraufkam; die schöne Dame, ihr Söhnchen mit der weißen Kokarde am Hut, und vor allem die reizende schwarzhaarige Kleine auf dem Rücksitz, die mich schon damals mit den tiefen seelenvollen Augen meiner Lorna anschaute – ich erkannte sie alle wieder.
Sobald aber Stickles von dem kostbaren Halsband sprach und dem Verschwinden des kleinen Mädchens, stieg ein anderes Bild vor mir auf: das Feuer des Leuchtturms, das einsame Moor, der dröhnende Hufschlag, die Reiterschaar in der Schlucht und das hilflose Kind, das mit dem Kopf nach unten hing. Ich erinnerte mich an den Drohruf, den ich in knabenhafter Entrüstung ausgestoßen, und staunte über die langen und seltsam verschlungenen Pfade, auf denen das Geschick uns zum Ausgangspunkt zurückführt. Dann gedachte ich an meine eigene traurige Heimkehr und den Jammer meiner Mutter. War es nicht eine merkwürdige Schicksalsfügung, daß derselbe Tag, der das bitterste Leid in mein junges Leben brachte, auch meiner Lorna das schwärzeste Unglück bereitet hatte?
Den Namen der edlen Dame, die vermutlich Lornas Mutter war, verschwieg mir Stickles einstweilen. Er mochte wohl seine guten Gründe dafür haben, und ich drang nicht weiter in ihn. Erstens glaubte ich jetzt, das alles auf eigene Hand entdecken zu können und dann war mir auch bange, Lornas Familie möchte so reich und vornehm sein, daß der einfache John Ridd es nicht wagen dürfe den Blick zu ihr zu erheben. Daß mein Lieb selbst mich aufgeben würde, war ich zwar weit entfernt zu glauben, allein ich fürchtete die Einmischung anderer und mehr noch, daß ich es für meine Pflicht halten könnte ihr zu entsagen. Der bloße Gedanke benahm mir fast den Atem.
Stickles bestand darauf, seine Entdeckung geheim zu halten, weder Lorna noch meine Mutter, noch sonst eine Menschenseele sollte etwas davon erfahren.
»Es muß ganz unter uns bleiben, hörst du, John,« sagte er mit großem Nachdruck; »das Geheimnis gehört mir, samt allem Ruhm und Vorteil, den es einbringen wird, und ich allein habe das Recht zu bestimmen, wann es enthüllt werden soll. Der Himmel teilt seine Gaben verschieden aus. Manchen Menschen gibt er Verstand, andern Geld und Gut. Du hättest den Zusammenhang der Dinge dein Lebtag nicht begriffen, ich bin wie der Blitz dahinter gekommen. Jeder muß thun was er kann: du arbeitest mit der Hand, ich mit dem Kopf. Wir wollen sehen, wer es am weitesten bringt.«
»Aber Stickles, wenn Ihr Euch so den Kopf zerbrecht, um Nutzen aus der Sache zu ziehen, weshalb macht Ihr mir das Scheunenthor auf und laßt mich Euer gedroschenes Korn sehen?«
»Mit gutem Grund, mein Sohn. Zwei Männer dreschen immer besser als einer. Du sollst deinen Dreschflegel mit mir im Takte schwingen und doch das Korn nicht eher einheimsen dürfen, als bis ich's haben will.«
»Oho,« rief ich, »dann gebührt mir aber auch die Hälfte von jedem Scheffelmaß.«
»Die sollst du haben, mein Junge, wenn das Glück uns hold ist. Auf dein Teil kommt Schönheit, Liebe und hoher Rang, und ich behalte nur das Geld für mich.«
Er sagte das so trocken und doch so salbungsvoll, daß ich unwillkürlich laut auflachen mußte.
»Das hättet Ihr mir doch vorher sagen müssen,« rief ich, »wie, wenn ich nun auf solche Bedingungen nicht eingehen will?«
»Davor ist mir nicht bange. Ich kenne dich, John Ridd, du bist keiner Gemeinheit fähig. Ich habe dir die Geschichte aus reiner Gutherzigkeit erzählt, um deine Sorgen zu erleichtern. Das bindet dich fester als tausend Schwüre. Auch ohne daß du es versprichst, vertraue ich dir und weiß, du wirst schweigen, bis ich dir erlaube zu reden.«
»Ihr mögt recht haben, Stickles, doch hättet Ihr mir zuvor die Wahl lassen sollen, ob ich in den Vertrag willigen wollte. Aber, gesetzt wir zwei verlieren das Leben bei dem großen Angriff auf das Doonethal – den ich jetzt aus allen Kräften fördern werde – soll Lorna dann nie erfahren, was für sie von so unendlicher Wichtigkeit ist?«
»Zum Henker, John, die Doones werden uns doch nicht alle beide totschießen – zwar sie zielen verflucht sicher. Aber weißt du was – wir lassen der Landwehr den Vortritt. Ich überschaue als Feldherr das Schlachtfeld vom Hügel aus und du versteckst dich hinter den größten und dicksten Baum, den wir finden. Zum Kanonenfutter sind wir beide viel zu gut.«
Ich mußte lachen, denn ich kannte seine Kühnheit, seinen unerschütterlichen Mut. Auch hätte kein Feigling solche Reden führen dürfen.
»Für den äußersten Fall will ich indessen die nötigen Vorkehrungen treffen,« fuhr Stickles nachdenklich fort. »Ich werde die ganze Sache zu Papier bringen und Anweisung geben, daß das Siegel nur erbrochen werden soll, wenn – und so weiter. – Genug davon, mein Sohn. Jetzt schenke mir noch einmal ein und gib mir eine Zigarre, dann will ich meinen Kriegern aus Somerset entgegengehen.«