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Eigentlich hatte ich bei meinem Unternehmen nichts anderes im Sinn, als den Bergkamm zu erreichen und von da aus ins Doonethal hinabzusehen. Befanden sich die sechs Rabennester noch an Ort und Stelle, so wußte ich wenigstens, daß Lorna in Sicherheit war, und wo ich sie zu suchen hatte. Sobald ich ins offene Feld gelangte dehnte sich eine endlose Schneefläche vor mir aus und nirgends bot sich Schutz vor Sturm und Kälte. Über Wiese und Moor, über Berg und Thal und Strom lag die weiße Decke gebreitet, Klüfte und Schrunden waren ausgefüllt, jede Unebenheit geglättet; nur in weichen Wellenlinien hob und senkte sich das Land.
Der glitzernde Schnee blendete mich so sehr, daß mir die Augen schmerzten, aber ich kam gut vorwärts und glitt leicht über die Stellen hin, an denen ich mit gewöhnlicher Fußbekleidung tief eingesunken wäre. Es hatte nämlich während der ganzen Zeit nicht einmal getaut und so war der Schnee, trotz der grimmigen Kälte, nirgends hart geworden, sondern leicht und flockig geblieben; er lag an den niedrigsten Stellen mindestens drei Fuß tief und türmte sich haushoch auf, wo der Wind ihn zusammenwehte.
Als ich meinen Auslug glücklich erklommen hatte, fand ich die Gegend völlig verändert; nur dem scharfen wachsamen Auge der Liebe war sie noch erkennbar. Das immergrüne Doonethal glich jetzt einer großen weißen Puddingform oder Schüssel; Baum und Strauch und Fluß, alles hatte der Schnee zugedeckt. Also auch hier war der Frost eingedrungen, das hatte ich mir nicht träumen lassen. Konnte es denn kalt sein in Lornas Nähe? Wer weiß, ob sie nicht ebenso gelitten hatte wie wir in den letzten Wochen; vielleicht schlossen ihre Fenster schlecht, oder es fehlte ihr wohl gar an warmen Decken. Der Gedanke ließ mir keine Ruhe, und da nirgends ein Doone zu sehen war, faßte ich rasch den kühnen Entschluß, über die Felswand hinunter ins Thal zu gleiten und Lorna aufzusuchen. Verfolgte man mich, so konnte ich auf meinen Schneeschuhen leicht entkommen und bei solcher Witterung ging gewiß kein Schuß los. Es fing auch schon wieder an zu schneien, die Flocken fielen so dicht, daß wer sich nicht wie ich Tag für Tag im Freien daran gewöhnt hatte, kaum die Hand vor den Augen sehen konnte.
So stemmte ich mich denn mit Rücken und Ellenbogen fest gegen einen Schneehaufen, sprach ein Stoßgebet und glitt mit Windesschnelle in die Tiefe. Ehe ich mich versah, war ich unten wohlbehalten in einer Schneewehe angelangt, nur meine trefflichen Schuhe hatten ein wenig bei der Thalfahrt gelitten. Ich raffte mich munter auf und schritt ohne Furcht und Zagen auf dem kürzesten Wege nach dem Hause des Hauptmanns hinüber, das lange nicht so tief eingeschneit war wie das unsrige.
Hätte Lorna aus dem Fenster gesehen, sie würde den wandelnden Schneemann mit den seltsamen Schuhen kaum erkannt haben. Auf dem großen Schaffell, das ich um die Schultern trug, stand zwar ein rotes ›J. R.‹, das Zeichen unserer Herden, aber der Schnee verbarg alles. Die Fenster waren dick zugefroren und mit Eisblumen bedeckt; sie hätten mir keinen Blick in das Innere gestattet, selbst wenn ich so unbescheiden gewesen wäre, in ein Frauengemach zu spähen. Mir blieb daher nichts übrig als an die Thür zu klopfen, wobei ich mir nicht verhehlte, daß eine Flintenkugel mir Antwort geben könne. Das geschah jedoch nicht. Ich hörte drinnen ein Flüstern und eilige Fußtritte, dann fragte eine schrille Stimme durch das Schlüsselloch: »Wer ist da?«
»Ich bin es, John Ridd,« erwiderte ich, worauf sich ein leises Lachen und Schluchzen vernehmen ließ; nun öffnete sich eine Spalte der Thür, die drinnen noch mit einer Eisenstange verwahrt war, und dieselbe Stimme rief:
»Stecke deinen Finger mit dem alten Ring hindurch, junger Mann. Ist es aber nicht der rechte, so ziehst du ihn nie wieder zurück, das sage ich dir.«
Lachend über Gwennys furchtbare Drohung, zeigte ich den Ring in der Spalte; sie ließ mich sofort ein und schloß hinter mir die Thür mit Blitzesschnelle.
Auf der Diele konnte ich mich mit den Schneeschuhen kaum im Gleichgewicht halten. »Was geht denn hier vor?« fragte ich besorgt.
»Nichts Gutes, sondern viel Schlimmes,« lautete Gwennys Antwort. »Wir getrauen uns weder selbst hinauszugehen noch jemand zu uns hereinzulassen, und müssen hier verhungern. Könnte ich dich nur anbeißen, junger Mann, ich verspeiste dich auf einen Niedersitz.«
»Barmherziger Gott!« rief ich erschreckt, denn gieriger Hunger schaute ihr aus den Augen. Rasch zog ich ein Stück Brot aus der Tasche, das ich für alle Fälle mitgenommen hatte, und gab es ihr. Sie biß hastig hinein, schalt sich dann ein gefräßiges Ding, hielt das Brot weit ab vom Munde und lief eilends davon, vermutlich um es ihrer Herrin zu bringen. Während ich nun meine Schneeschuhe abschnallte fragte ich mich verwundert, warum mir denn Lorna nicht entgegenkomme? Die Ursache erfuhr ich bald; Gwenny rief mich, ich lief herzu und sah mein Herzlieb mit geschlossenen Augen und bleich wie der Schnee in einem Stuhl zurückgelehnt. Hunger und Kälte hatten sie so geschwächt, daß ihr bei meiner überraschenden Ankunft die Sinne geschwunden waren. Ich fand Gwenny eifrig beschäftigt, ihr Brocken des groben Schwarzbrots in den Mund zu stecken.
»Schnell, hole mir Wasser oder Schnee, du einfältiges Kind,« rief ich, »das Brot iß nur selber, ich habe noch mehr.«
Gwenny ließ sich das nicht zweimal sagen; während ich noch bemüht war, meine Lorna ins Bewußtsein zurückzubringen hatte sie schon die Hälfte des Brotes heißhungrig verschlungen.
Endlich erwachte die Geliebte zu neuer Hoffnung, Liebe und Lust. »O John, ich glaubte schon, ich würde dich nie wiedersehen, ich war entschlossen zu sterben, fern von dir und ohne daß du darum wußtest.«
Diesen schrecklichen Gedanken verscheuchte ich so rasch wie möglich auf die wirksamste Weise; da überzog eine zarte Glut Lornas abgezehrte Wangen und ihre matten Augen leuchteten in feuchtem Glanz. Als sie mir die schmale Hand reichte, konnte ich es nicht hindern, daß eine Thräne darauf fiel. »Nun sehe ich doch, Lorna,« rief ich scherzend, um ihr ein Lächeln abzugewinnen, »daß Gwenny mich weit mehr liebt als du; sie wollte mich gleich aufessen.«
»Das thue ich auch noch, junger Mann, sobald ich hier fertig bin,« meinte Gwenny lachend, »deine roten Backen sehen ja zum Anbeißen aus, es ist gar zu verlockend.«
»Iß nur das Schwarzbrot bis auf die letzten Krumen; für deine Herrin habe ich etwas Besseres mitgebracht. Sieh' hier, Lorna, das wird dir schmecken; seit Weihnachten bewahre ich die Kuchen für dich auf, als Probe von Annchens Kunst.« Ich zog die köstliche Speise aus meinem Papiersack und reichte sie der Geliebten, die mich mit dem süßesten Kuß belohnte. Zuerst dankte sie dann Gott innig für seine Gabe und steckte Gwenny ein Stück Kuchen in den Mund.
Wie trefflich mir auch selbst schon mancher gute Bissen geschmeckt hat, noch niemals habe ich etwas so sehr genossen, als da sich nun Lorna in die Höhe richtete, zum Zeichen, daß sie sich wieder stark fühle, und mit den Perlenzähnchen zu essen begann. Ich bat sie, recht kleine Stückchen zu nehmen und langsam zu kauen, damit es ihr nicht schade, aber sie lachte mich aus, weil ich glaubte, sie könne sich so wenig bezwingen.
Manche Menschen bedürfen nicht vieler Nahrung und meine Lorna war schon gesättigt, als sie einen halben Kuchen verzehrt hatte; die andere Hälfte bekam Gwenny, die sehr gut damit fertig wurde, obgleich sie das Stück Schwarzbrot gegessen hatte.
»Aber nun möchte ich auch wissen, was das alles zu bedeuten hat,« sagte ich.
»Nichts als Unheil,« versetzte Lorna traurig, »auch sehe ich keine Hilfe. Man will uns hier aushungern, bis ich zugebe, daß sie nach Gefallen mit mir verfahren.«
»Das heißt, bis du in die Heirat mit Carver Doone willigst, der dich langsam umbringen wird.«
»Nicht langsam, John; eine Woche würde genügen mich zu töten. Ich habe solchen Abscheu vor ihm.«
»Und ich hasse ihn noch weit mehr als Ihr ihn verabscheut,« rief Gwenny.
Daß diesem Zustand der Dinge ein Ende gemacht werden müsse, gaben beide zu, aber sie sahen keinen Ausweg. Selbst wenn Lorna jetzt bereit war, sich in den Schutz meiner Mutter zu begeben, wie ich ihr so oft vorgeschlagen hatte, schien es fast ein Ding der Unmöglichkeit, das zarte Geschöpf durch den berghohen Schnee bis nach Plover Barrows zu bringen. Überdies war es eine sehr ernste Sache, die uns leicht Haus und Hof kosten konnte. Aber jedes Bedenken mußte schwinden.
»Willst du mir folgen, Lorna,« rief ich mit leidenschaftlichem Ungestüm, »wenn ich verspreche, dich ohne große Angst und Beschwerde in Sicherheit zu bringen?«
»Gewiß, wohin du willst, Geliebter,« erwiderte das holde Mädchen. »Mir bleibt nur die Wahl, hier zu verhungern oder mit dir zu gehen.«
»Und wie steht es mit dir, Gwenny? Hast du den Mut, deine Herrin zu begleiten?«
»Na, zurückbleiben werde ich doch nicht,« war Gwennys entschlossene Antwort.
Wir verabredeten nun alles Nähere, denn wie die Sachen standen, mußte die Flucht so rasch wie möglich ins Werk gesetzt werden. Der Rat Doone hatte kein Mittel unversucht gelassen, seine Nichte zu bewegen ihm den Willen zu thun, und schließlich den grausamen Befehl gegeben, ihr jede Nahrung zu entziehen, bis sie gehorchen würde. Carver und er hielten abwechselnd scharfe Wache, damit niemand ihr Speise oder Trost bringen könne. Nur an diesem Abend hatten sie notgedrungen den Posten verlassen, denn alle Thalbewohner waren bei ihnen zu Gaste geladen zur Feier ihrer Übernahme der Führerschaft. Wie sehr sich aber auch Gwennys Eßlust steigerte, als eine Frau ihr alle leckern Gerichte beschrieb, die man für das Festmahl zubereitete, dennoch hatte sie sich tapfer bezwungen und erwidert:
»Sagt nur Carver Doone und seinem Vater, in deren Auftrag Ihr kommt, wir würden trotz alledem viel besser tafeln als sie.« Daß sich diese Prophezeiung buchstäblich erfüllen sollte, ahnte sie damals freilich nicht.
Lange saßen wir zusammen und pflogen Rats, denn wenn ich bei Lorna war, hatte ich niemals Eile fortzukommen, es beglückte mich schon, dem Silberton ihrer Stimme zu lauschen. Mir wurde trotz der Kälte ganz warm ums Herz und auch das liebe Mädchen war seelenvergnügt bei dem Gedanken, daß sie nun bald frei sein werde, in Frieden und Ruhe leben und es so gut haben wie nie zuvor.
»Komm' hier an das gefrorene Fenster, John,« rief sie; »mach' dir ein Guckloch und sieh wie die Doones ihr Freudenfeuer anzünden. Sie ahnen nicht, wer ihnen dabei zusieht. Kannst du es nicht thun? Wart', ich zeige es dir.« Sie hauchte dreimal mit den kirschroten Lippen auf die Scheiben und wischte dann mit den zarten Fingern darüber hin, bevor die Eisblumen wieder zufroren. Ich fand das geradezu reizend und bat sie immer wieder, das Fenster für mich aufzutauen. Das that sie auch unermüdlich, denn jetzt liebte sie mich so warm wie ich sie liebte; sie war bereit es mir zu zeigen, und ich freute mich über jeden neuen Beweis dieser seligen Gewißheit.
Draußen sah ich, wie eine Flamme vom Boden emporzüngelte, sich rasch verbreitete, in die Höhe stieg und sich in feurige Arme auseinander spaltete.
»Weißt du, was da geschieht?« fragte Lorna lustig. »Die Doones zünden das Leuchtfeuer von Dunkery an, zu Ehren ihres neuen Hauptmannes.«
»Nicht möglich, wie käme das hieher?«
»Die jungen Leute haben die Leuchtpfanne gleich nach Großvaters Tode, noch vor dem Schneefall, von der Spitze des Berges geholt. Sie war ihnen schon längst ein Dorn im Auge, weil sie so unverschämt ihren Weg beleuchtete, wenn sie zur Nachtzeit auszogen. Nun soll sie hier als Fackel dienen. Sieh nur, wie jetzt der Theer brennt!«
Lorna betrachtete die Sache nur als Spaß, aber sie hatte auch ihre sehr ernsten Seiten. Der freche Raub würde alle Gemüter mehr gegen die Doones aufbringen, als wenn sie hundert Schafe gestohlen oder zwanzig Häuser geplündert hätten. Der Feuerturm nützte zwar an sich wenig, denn er brannte immer nur, wenn das Unheil bereits geschehen war, wie auf den Tod das Grabgeläute folgt, aber er war der Stolz der ganzen Grafschaft und allein unser Sprengel hatte zur Erhaltung der großartigen Einrichtung jährlich sieben und einen halben Schilling zu zahlen.
Immer höher loderte die Flamme empor und Gwenny erzählte, die Männer hätten drei Tage lang gearbeitet, um den Schnee fortzuschaufeln, Holz herbeizuschleppen und es in einem riesigen Haufen aufzutürmen. Das schien mir ein großes Hindernis für mein Unternehmen, denn geriet erst der ganze Haufen in Brand, so mußte der Feuerschein die Gegend ja tageshell erleuchten. Schon wollte ich die Flucht bis zur nächsten Nacht verschieben, als mir zum Glück noch einfiel, daß sich eine solche Gelegenheit nie wieder bieten werde. Bevor drei Stunden um waren, würden die Doones allesamt sinnlos betrunken sein; bis dahin war dann auch das Feuer fast heruntergebrannt und sein ungewisser Schimmer erleichterte das Entkommen. Keinesfalls durfte Lorna noch länger hier bleiben, denn welchen Schutz boten ihr Thür und Riegel gegen die Wut jener Unholde, wenn der Branntwein sie erhitzte?
Dieser Gedanke erschreckte mich so sehr, daß ich ohne Aufschub ans Werk gehen wollte.
»Lebe wohl, mein Herz,« sagte ich, »in zwei Stunden bin ich wieder bei dir. Verwahre die Thür gut und laß Gwenny Wache halten. So lange sie trinken und schmausen, bist du sicher vor ihnen, und ich kehre zurück, bevor ihr Mahl zu Ende ist. Packe nur das Nötigste zusammen und halte dich bereit. Ich werde einmal laut anklopfen und dann nach einer Pause noch zweimal leise, das nimm als Zeichen.«
Nachdem ich Gwenny noch wiederholt eingeschärft hatte, auf ihrer Hut zu sein, schloß ich Lorna in die Arme. Sie schmiegte sich ängstlich an mich – dann trennten wir uns rasch.
Um die Geliebte aus der Gewalt ihrer Quäler zu befreien, wußte ich kein anderes Mittel als mit ihr durch das Doonethor, den Haupteingang, zu entfliehen. Daß ich den Klippenweg nicht wählen durfte, besonders bei ihrem jetzt so geschwächten Zustande, wußte ich, und Gwenny's Thür, wie wir die kleine Pforte in der Waldschlucht nannten, war längst völlig zugeschneit. Aber wie gefährlich, wie dunkel und schwierig war jener Weg, wie endlos lang die Fahrt vom Doonethal über die Berge und das verschneite Moor! Es schien kein leichtes Wagestück.
Jedenfalls galt es jetzt auf dem kürzesten Pfade heimzukehren. Zwischen dem Freudenfeuer und der Felswand hatte sich der Schnee lawinenartig angehäuft und bildete eine Art Schirm, hinter dem ich unbemerkt vorüberglitt. Bevor ich den Bergpfad erreichte, den ich schon so unzählige Male erklommen hatte, kam mir plötzlich das Verlangen, erst einmal einen Blick auf meinen alten Freund, den Wasserfall zu werfen, wie der sich wohl ausnehmen möchte unter seiner Schneelast. Mich dort hinab zu wagen lag mir gänzlich fern, ich hielt es für ein Ding der Unmöglichkeit. Wie staunte ich jedoch, als ich die enge Schlucht fast frei von Schnee fand, nur auf den überhängenden Felsen waren große Massen aufgestaut, der Wasserfall aber hatte sich in eine förmliche Eisbahn verwandelt, die der rauhe Nordost immer wieder fegte und säuberte. Dabei waren eine Menge kleiner Stufen im Eise entstanden, weil der Frost den Lauf des Wassers nur allmählich zu hemmen vermochte, und die Büschel dürren Wassergrases, die mit eingefroren waren, bildeten mancherlei Unebenheiten auf der abschüssigen Fläche.
Eine bessere Bahn hätte ich mir gar nicht wünschen können, um Lorna auf dem Schlitten hinunterzufahren. Nur mußte ich sehr vorsichtig zu Werke gehen, damit wir nicht allzu schnell hinabglitten und in den schwarzen Strudel gezogen wurden, der nicht gefroren war und, rings von Schnee umgeben, noch schauerlicher aussah als sonst. Zum Schutz gegen diese Gefahr rollte ich unten einen Baumstamm quer davor. Freilich war noch zu befürchten, daß der Schnee vom Felsen herabstürzen und uns verschütten könnte, aber ich hoffte, die Vorsehung werde dies Unglück verhüten.
Mit Windeseile lief ich nun nach Hause und bat Mutter, um Gottes willen die nötigen Anordnungen zu treffen und wach zu bleiben bis zu meiner Rückkehr. Man sollte ein tüchtiges Feuer anzünden, heißes Wasser und warmes Essen für viele Personen bereit halten und das beste Bett im Gastzimmer gut lüften und durchwärmen. Mutter lächelte zwar über meine Aufregung, aber sie selbst war im Grunde nicht minder besorgt und unruhig. Auch Annchen gab ich die genauesten Anweisungen, nebst einem brüderlichen Kuß, und sprach sehr freundlich mit Elise, um sie bei guter Laune zu erhalten.
Nun holte ich aus dem Schuppen unseren neuen Pony-Schlitten heraus, der nicht nur für Holzfuhren sondern auch zum Vergnügen der Mädchen benutzt wurde. Ich mußte ihn selber ziehen, denn den Pony durfte ich nicht vorspannen; er wäre mit den Hufen im lockern Schnee eingebrochen, auch pflegte er laut zu wiehern wenn ihn fror. Ich band mir ein dickes Strohseil kreuzweise über die Brust, damit es nicht einschneiden sollte, und warf noch ein zweites Seil in den Schlitten; der Rücksitz war weich mit Wolle ausgepolstert, auch nahm ich mehrere warme Decken mit, ferner ein Fläschchen Branntwein gegen die Kälte und verschiedene Eßwaren.
Als ich eben abfahren wollte, kam noch Annchen atemlos gelaufen, barhaupt und eine Laterne in der Hand.
»O John, sieh nur den prächtigen Pelzmantel, den dir Mutter schickt. Seit Jahren hält sie ihn mit Kampfer und Lavendel in dem großen Schrank verwahrt und hat ihn uns noch niemals gezeigt; Lieschen meint, es sei Seehundsfell und mindestens fünfzig Pfund wert!«
»Wenn er nur weich und warm ist,« sagte ich, den Pelz sorglos in den Schlitten werfend. »Ich werde Lornas Füße damit zudecken; sage Mutter das.«
»Lornas Füße – du bist wohl nicht gescheit, John,« rief Annchen empört; »sie darf stolz darauf sein ihn um die Schultern zu tragen.«
»Nicht einmal für ihre Füße ist er gut genug. Aber das braucht Mutter nicht zu wissen; ich lasse ihr herzlich danken.«
Nun setzte ich meine Bugsierstange in den Schnee, die Seile zogen sich straff, ich schritt wacker aus und der Schlitten kam wie ein Hund hinter mir drein. Annchen mit der Laterne sah von weitem bald nur noch wie ein schwaches Lichtpünktchen aus.
Der Vollmond war aufgegangen und strahlte in silbernem Glanze über Berg und Thal. Alles Nahe erschien fern und alles Ferne nah in seinem täuschenden Schein. Die schneebeladenen Klippen und Bäume warfen lange Schatten und mein eigenes verzerrtes Abbild lief, einer Riesenspinne gleich, vor mir den Abhang hinunter. Die Nacht war bitterkalt, doch schneite es nicht und der Wind hatte sich gelegt. Mir selbst konnte der Frost wenig anhaben, ich hatte Arbeit und Bewegung genug; aber würde ich auch Lorna schützen und warm halten können?
Den Felsensteg hinauf durfte ich mich mit dem Schlitten nicht wagen; ich zog ihn behutsam durch die enge Kluft auf der Eisbahn in die Höhe bis zu der Stelle, an der ich als Knabe meine Lorna zum erstenmal gesehen hatte. Dort band ich ihn fest und schritt unbekümmert weiter ins Thal hinaus.
Der Holzstoß war noch immer in Glut, doch verbreitete er nur wenig Licht; viele der jüngeren Doones, samt den Weibern und Kindern, trieben dort ihre Kurzweil; die ernsten alten Krieger aber waren wohl beim Schmause in den hell erleuchteten Häusern versammelt, an denen ich rasch vorbeieilte. Unbemerkt und ohne Aufenthalt erreichte ich Lornas Haus, schnallte die Schneeschuhe ab, klopfte an die Thür, wie wir verabredet hatten, und lauschte mit verhaltenem Atem.
Doch niemand kam mir zu öffnen, ich sah auch kein Licht; nur einen schwachen Ton, der dem Ächzen des Windes glich, glaubte ich zu vernehmen. Nachdem ich noch einmal laut geklopft und keine Antwort erhalten hatte, stemmte ich mich mit aller Kraft gegen die Thür. Sie sprang auf, ich trat ein und schlich leise durch den Gang, bis zu Lornas Zimmer. Hier aber, in dem vom Mondlicht erhellten Raum, bot sich mir ein Anblick, der mir fast die Besinnung raubte.
Lorna kauerte mit flehend erhobenen Händen hinter einem Stuhl im Winkel. Mitten im Zimmer lag Gwenny Carfax und hielt noch in halber Betäubung das Fußgelenk eines Mannes umklammert, der sich ihr zu entwinden suchte. Ein anderer Mann wollte eben den Stuhl fortziehen, welcher Lorna schützte; aber schon hatte ich den Schurken mit den Armen erfaßt und schleuderte ihn zum Fenster hinaus, daß die Scheiben krachten. Den zweiten Eindringling packte ich so fest am Genick, daß ihm die Bitte um Gnade im Halse stecken blieb; ich trug ihn aus dem Hause und erkannte im Mondlicht Marwood de Wichehalse. Weil er mein Schulkamerad gewesen war, schonte ich sein Leben und warf ihn nur voller Entrüstung in die nächste Schneewehe, die über ihm zusammenschlug. Dann sah ich mich nach dem Kerl um, den ich durch das Fenster befördert hatte. Er lag bewußtlos in seinem Blute und gab noch keinen Laut von sich; ich glaubte ihn zu erkennen – es war der schöne Charleworth Doone.
Ohne einen Augenblick zu verlieren, befestigte ich meine Schneeschuhe, nahm Lorna auf die Arme und rief Gwenny zu, uns zu folgen. Dann lief ich im Sturmschritt bis zu der Stelle, wo ich den Schlitten verborgen hatte. Ich war noch beschäftigt die Geliebte bequem zurecht zu setzen und den warmen Pelzmantel über sie zu breiten, da kam auch schon Gwenny in meiner Spur durch den Schnee getrabt, mit zwei Säcken auf dem Rücken. Ich setzte sie neben ihre Herrin in den Schlitten, damit sie Lorna stützen und wärmen könne. Noch einen letzten Abschiedsblick warf ich auf das Thal, das so lange die Heimat meines Herzens gewesen war, dann hielt ich mich hinten am Schlitten fest und wir fuhren hinunter auf der gefahrvollen Bahn.
Ueber uns hingen die Schneemassen, die bei der geringsten Erschütterung herabstürzen und uns begraben konnten; vor uns lag der steile, Lorna völlig unbekannte Pfad, aber sie war so ruhig und glücklich wie ein Kind im Mutterarm. Als ich sie bat nicht zu sprechen, drückte sie mir schweigend die Hand; sie fürchtete nichts, denn ich war ja bei ihr. Gwenny dagegen hatte Mühe still zu bleiben; ihre Angst war groß, weil ihr das hingebende Vertrauen fehlte, das reine Liebe verleiht. Von Fels zu Fels setzte ich die Stange ein, das Gewicht meines Körpers diente als Hemmschuh, und so gelang es mir, den Schlitten sicher zu lenken und die Schnelligkeit der Fahrt zu mäßigen. Glücklich kamen wir unten an, fuhren um den schwarzen See herum und erreichten jenseits die Wiesen. Die Fahrt ging nun bergauf und ich mußte tüchtig ziehen; Gwenny wollte mir zwar die Last erleichtern und von hinten schieben, aber ich litt nicht, daß sie aus dem Schlitten sprang, sie sollte Lorna warm halten bei der eisigen Kälte. Wäre Gwenny ruhig unter der Pelzdecke geblieben, sie würde sich nicht die Nase erfroren haben; ich mußte auf offenem Felde halt machen, um sie ihr mit Schnee zu reiben; dabei ärgerte sich das kleine Ding noch und schalt über mich, als wäre es meine Schuld. Auf die arme Lorna waren Schrecken, Angst und Freude an diesem Abend so plötzlich eingestürmt, daß die Aufregung im Verein mit der furchtbaren Kälte ihr alle Kraft benahm. Als ich einen Augenblick die warmen Hüllen lüftete, um sie anzusehen, lag sie regungslos da und bleich wie Wachs, sie schien eingeschlafen um nie wieder zu erwachen. Da stählte die Furcht meine Glieder, ich spannte alle Muskeln an und es ging rasch vorwärts, freilich unter argem Rütteln und Schütteln. Hätten Gwennys starke Arme meine Lorna nicht festgehalten, sie wäre sicher aus dem Schlitten gefallen. Nach Ablauf einer Stunde erreichten wir unsern Hof trotz aller Hindernisse. Mein Herz klopfte laut und meine Wangen glühten, als der Schlitten, vom Gebell der Hunde begrüßt, an der offenen Hausthür hielt. Mutter, Annchen, Lieschen, Betty Muxworthy und die alte Molly, alle kamen herbeigeeilt, um uns zu empfangen. Ich drängte die andern zurück, nahm Mutter bei der Hand und sagte: »Komm' und sieh deine Tochter. Annchen wird dir leuchten.«
Mit bebenden Händen schob Mutter die Falten des Mantels zurück. Da lag Lorna mit geschlossenen Augen wie im süßen Schlummer, das bleiche Antlitz vom dunkeln Haar umrahmt. »Gottes Segen über sie, John,« sagte Mutter, während sie sich niederbeugte und ihr einen Kuß auf die Stirn drückte. Dann brach sie in Thränen aus.
»Jetzt wird unsereins sie doch wohl auch anrühren dürfen,« rief die alte Betty eifersüchtig. »Du meine Güte, ist das eine Schönheit!«
Die Frauen umringten nun Lorna und man trug sie ins Haus, ohne daß meine Hilfe dabei verlangt wurde. So holte ich denn Gwenny herein, die verlegen von ferne gestanden hatte, und setzte ihr einen Topf voll Speck und Erbsen vor, den sie mit großem Behagen auslöffelte.
Von ihr erfuhr ich auch, wie es gekommen war, daß die beiden Schurken Einlaß erhielten. Der eine hatte in seiner Trunkenheit laut geklopft, der andere zufällig zweimal leiser, dann habe Lorna gerufen, ihr John sei da, und Gwenny hatte die Thür geöffnet.
Das Mädchen war kaum mit dem Bericht zu Ende, als ich rasch zu Lorna entboten wurde. So lange ich lebe werde ich ihren Anblick nicht vergessen. Sie saß mit Kissen gestützt aufrecht auf einem Sessel und ließ ihre Augen wie suchend umherschweifen, aber ohne Bewußtsein oder Verständnis. Nur zuweilen hob sie die zarten Hände hilfeflehend empor und ihre bleichen Lippen bebten.
»Geht alle hinaus,« sagte ich ruhig aber fest, »nur Mutter soll hier bleiben.«
»O John,« rief Mutter als wir allein waren, »ich fürchte, der Frost ist ihr ins Gehirn geschlagen; man sagt es giebt solche Fälle.«
»Sie wird schon wieder zu sich kommen, Mutter, sei ohne Sorge. Überlaß sie nur mir allein, aber bleibe in der Nähe.«
Ich wußte, daß Lorna mich erkennen würde, wenn man sie nur in Ruhe ließ. Lange saß ich still bei ihr und wartete, bis endlich der unsichere, zweifelnde Blick, mit dem sie mich betrachtet hatte, klarer wurde und freudig aufleuchtete. Allmählich wich die Erstarrung; Vertrauen und Liebe strahlten mir wieder aus ihren Augen entgegen, die sich mit Thränen füllten. Errötend wandte sie sich einen Moment ab, aber ihre lieben Hände suchten unwillkürlich den Schutz der meinigen und ruhten dort sicher und geborgen.
In seligem Entzücken saßen wir so eine Weile da und vergaßen die ganze Welt umher über dem Wonnegefühl einander nahe zu sein. Da hörten wir ein leises Schluchzen; Lorna erriet, wer da sei, sprang rasch empor und lief nach dem alten Lehnstuhl in der Ecke, auf dem Mutter mit dem Strickzeug saß. Sie nahm ihr die Arbeit fort, legte sich Mutters Hände aufs Haupt, kniete nieder und schaute bittend zu ihr auf.
»Gott segne Euch, schönes Fräulein,« sagte Mutter, zu ihr gebeugt. »Gott segne dich, meine geliebte Tochter,« verbesserte sie sich, von Lornas Blick bezwungen.
So fand Lorna den Weg zu Mutters Herzen ebenso schnell wie sie ihn einst zu dem meinigen gefunden, denn wie hätte Mutter ihrer Anmut und ihrem rührenden Liebreiz zu widerstehen vermocht?