Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Am 20. November wurde mir erlaubt, die Klinik zu verlassen. Ich siedelte in die Wohnung über, wo mich Schwester Veronika, die mir das St. Vinzenz-Haus zur Verfügung gestellt hatte, betreute. Die Prüfung war auf den 10. Dezember festgesetzt worden. Die Tage gingen in ruhiger Arbeit für das Examen . . . Noch konnte ich wenig gehen – aber die tägliche Besserung war unverkennbar . . . Ich lag meistens, manchmal auch hielt ich es schon mehrere Stunden am Schreibtisch aus. Die Wohnung war für den 15. Dezember gekündigt, Germaine hatte Adrian und mich für Winter und Frühling auf ihr Gut »Los Naranjos« bei Valencia eingeladen, so daß die Frage, wo ich ganz genesen solle, gelöst war . . .

Da brachte die Morgenpost des 2. Dezember jene Nachricht, die abermals alle Berechnungen über den Haufen warf und mich einer völlig neuen Lage gegenüberstellte. Unter den zahlreichen Briefen dieses Tages fiel mir ein großer gelber Umschlag auf, der die Schriftzüge Hinrichsens trug. Ich öffnete, noch zu Bett liegend und gerade mein Frühstück nehmend. Eine ziemlich umfangreiche Broschüre fiel mir entgegen, die den Titel trug: »Die dichterische Technik Victor Hugos«. Es handelte sich um die Anfang November erschienene Dissertation eines Philologen aus Breslau. Hinrichsens Brief aber lautete folgendermaßen:

»Lieber Herr Benrath: Habent fata sua et dissertationes! Ich bin unglücklich, Ihnen die einliegende 321 Arbeit senden zu müssen, die mir vor etwa acht Tagen zuging. Ich hatte – in Berücksichtigung Ihres Zustandes – nicht den Mut, Ihnen früher schon Bescheid zu geben, da ich Ihnen Aufregungen ersparen wollte, die Ihnen vielleicht hätten schädlich sein können. Ich hoffe, Sie sind heute gekräftigt genug, um diesen Schlag schicksalsmäßig, d. h. mit der Ruhe und Besonnenheit hinzunehmen, mit denen einen ähnlichen schon mancher bedeutende Gelehrte hinnehmen mußte. Lediglich Ihre schwere und im ungünstigsten Augenblick eintretende Erkrankung hat dieser Duplizität des Falles eine folgenschwere Bedeutung gegeben, die sie post festum – d. h. nach Ihrer erstmals auf den 2. November festgesetzten Prüfung – nicht mehr gehabt hätte. Sie wissen, daß zwei Dissertationen des gleichen Stoffgebietes und Titels nebeneinander nicht bestehen können. Ich kann Sie – auf Grund des Tatbestandes – zu meinem allergrößten Bedauern mit der mir eingereichten Arbeit – mag sie auch noch so große Vorzüge haben – nicht promovieren lassen. Ich will Ihnen aber sofort zwei Vorschläge machen, die Ihnen – zur raschen Korrektur unverschuldeten Mißgeschickes – vielleicht annehmbar erscheinen. Entweder Sie machen die gleiche Arbeit für Dumas père, oder Sie bauen den ausgezeichneten Anhang in einem von mir noch näher zu umschreibenden Sinne aus. Wollen Sie mich durch eine Zeile wissen lassen, ob es Ihnen recht wäre, wenn ich 322 übermorgen, Dienstag, 3. Dezember, um 12 Uhr in Ihre Wohnung käme, um sogleich alles Notwendige eingehend mit Ihnen zu besprechen. Ich weiß, daß Ihr Zustand Ihnen noch keinen Besuch bei mir erlaubt.

Ich bin mit besten Grüßen und Wünschen

Ihr ergebener         
Prof. Dr. Uwe Hinrichsen.«

Was in mir vorging nach dem Lesen dieses Briefes, geht vielleicht vor in einem Verwundeten, dem man die eben vernarbende Wunde wieder aufreißt – oder in einem hinterlistig Überfallenen, dem man mit dem Hammer auf den Kopf schlägt, oder in einem Rennfahrer, dem man einen Meter vor dem Ziel einen Knüppel in die Speichen des Rades wirft. Eine Raserei bemächtigte sich meiner – ich warf das Kaffeegeschirr zu Boden, zerriß die Bettdecke mit den Händen, schleuderte die Broschüre mitsamt dem Brief Hinrichsens ins Zimmer und brüllte auf . . .

Schwester Veronika kam aus dem Arbeitszimmer gestürzt – Kädda rannte aus der Küche herbei . . .

– Um Gottes willen, schrie Schwester Veronika, wie sehen Sie denn aus?

Mein Herz flog . . .

Kädda rannte – weinte . . .

Schwester Veronika flößte mir eine Mischung aus Baldrian und Brom ein . . .

Ich glitt in die Kissen zurück . . . 323

Und wie es meiner Natur eigen ist, sammelte sie sich auch diesmal umso rascher, je heftiger der Schlag gewesen war. In unheimlicher Geschwindigkeit ordneten sich die Gedanken zur Abwehr gegen den Überfall – lichteten die Lage auf – bestimmten schon mit herrischer Klarheit die Aktion.

– Bringen Sie mir bitte Briefpapier, Schwester . . . Danke . . .

Ich bat Toggenburg, Hinrichsens Brief zu lesen und mir umgehend mitzuteilen, ob er bereit sei, seine früheren Zusagen aufrecht zu erhalten. Ich wußte, daß er Dienstag vormittag keine Vorlesungen hatte, konnte also in einer halben Stunde Bescheid haben . . .

Statt eines Briefes kam er selbst, außer sich.

– Was bedarf es denn noch einer Zusicherung? fragte er fast beleidigt. Selbstverständlich können Sie nach der Erfüllung der von mir für notwendig erachteten Durcharbeitung Ihrer zweiten Fassung sofort bei mir promovieren, wenn Sie sich für Philosophie als Hauptfach sicher genug fühlen . . .

– In einem halben Jahre also, ohne gezwungen zu sein, hier zu bleiben?

– Aber natürlich. Wir ändern den Titel, das ist unerläßlich. »Beitrag zur Psychologie Victor Hugos«. Ganz schlicht, ganz allgemein.

– Ich bin Ihnen zu äußerstem Dank verpflichtet . . .

– Wollen Sie Professor Hinrichsen jetzt schon Ihren Entschluß mitteilen? 324

– Nein.

– Lieber Herr Benrath, sagte Toggenburg, Sie werden nie vergessen, daß Professor Hinrichsen und ich Kollegen an der gleichen Hochschule sind – also demselben Lehrkörper angehören?

– Herr Professor: seien Sie ohne Sorge! Ich weiß dreifach, was ich Ihnen schuldig bin. Ich habe mich ausgetobt. Ich hätte vielleicht einen Herzschlag bekommen können . . . Ich habe ihn nicht bekommen . . . Diese Welle kommt nicht wieder. Professor Hinrichsen ahnt nicht, daß schon lange eine zweite Fassung für Sie besteht. Ihr Name wird überhaupt nicht fallen. Erst, wenn ich so weit bin, um mich bei Ihnen zur Prüfung melden zu können. Darauf will ich Ihnen mein Wort geben, wenn Sie es wollen.

– Ich will es gar nicht!

Er rieb sich die Hände:

– Ich freue mich, ich freue mich, Sie so kämpferisch zu sehen. Ich dachte nicht, daß Sie das in solchem Maße sein könnten. Beweist übrigens, daß es Ihnen wieder gut geht . . .

– Wenn mich etwas ganz mir selber wiedergegeben hat, so war es dieser Schlag. Seien Sie sicher, daß sich die körperliche Gesundung dem moralischen Impetus anpassen wird!

– Und wen wollen Sie für die Nebenfächer nehmen?

– Erlauben Sie mir, Ihnen dies später zu sagen.

Toggenburg sah mich an . . . Seine Augen blitzten 325 einen Augenblick lang auf und loschen wieder in ihren gewöhnlichen Lichtgrad zurück . . . Er sagte kein Wort. Er wußte –

Als er gegangen war, schrieb ich an Hinrichsen, ich danke ihm für seine Absicht, mich zu besuchen und stehe ihm zu der von ihm bestimmten Stunde zur Verfügung. Josef Mulch trug diesen Brief in das Romanische Seminar, wo Hinrichsen um elf Uhr eine phonetische Übung abhielt. Er besorgte auch eine Depesche, in der ich Adrian bat, sofort nach Philippinenthal zu kommen und mich Ende der Woche nach »Los Naranjos« zu bringen. Auf dieser Reise – so war mein Plan – würde ich bei meinen Eltern einige Tage Rast machen und ihnen mündlich erklären, was vorgefallen war . . .

Später, als ich aufgestanden war, ließ ich Kädda rufen.

– Frau Mulch, sagte ich, hier gibt es Überraschungen. Erschrecken Sie nicht. Hier gibt es diese Woche noch Aufbruch und Abreise.

Sie stand mit offnem Mund . . . Sie weinte nicht, sie sprach nicht . . . sie starrte mich an wie ein Mensch, der einfach nicht mehr versteht.

– Herr Bodenbach oder Herr Kallenbach wird Ihnen erklären, was vorgefallen ist. Ich kann es nicht. Es würde mich zu sehr erregen. Und mir genügt der Anfall von heute morgen. Bestellen Sie bitte für Donnerstag vormittag um elf Männer zum Abholen 326 des Flügels und zwei Dienstleute zum Büchereinpacken. Und machen Sie heute noch alle Rechnungen fertig, damit ich weiß, wieviel Geld ich auf der Bank holen lassen muß.

Sie trabte davon, unfähig zu begreifen . . .

Etwa um die Mittagsstunde kam Dr. Waldtner. Er fluchte das Blaue vom Himmel herunter. Er wollte die Sache im Casino breittreten. Die ganze akademische Welt müsse einen solchen Fall zu dem ihren machen. Ich ließ ihn austoben. Dann sagte ich:

– Lieber Herr Doktor: wenn Sie mir jetzt mein Schachspiel nicht verderben wollen, dann geben Sie mir Ihr Wort darauf, daß Sie bis morgen abend reinen Mund halten . . . Was Sie von morgen nachmittag sechs Uhr an erzählen, ist mir gleichgültig. Denn ich gehe. Diese Woche noch.

– Ich verspreche Ihnen, zu schweigen. Ich komme morgen nachmittag wieder, um fünf, wenn Sie wollen. Ich möchte Sie noch einmal untersuchen, ehe Sie reisen . . . Aber Sie können sicher sein: ruhen werde ich später nicht! Die Jugend muß vor solchen Ungeheuerlichkeiten geschützt werden! Ich habe Ihre Arbeit neulich gesehen – Dr. Kallenbach hat mir das Duplikat gezeigt: ich weiß, was eine derartige Dissertation an Kraftaufwand bedeutet!

– Bitte klären Sie Frau Mulch auf. Sagen Sie ihr, daß sie sich ruhig verhält . . . Ich habe jetzt soviel zu 327 ordnen und zu überdenken, daß ich keinerlei Tumult mehr gebrauchen kann.


Manfred und Kallenbach, die nach dem Mittagessen nach Hause kamen, standen fassungslos . . .

Manfred saß ganz still neben meinem Bett. Ich hatte mich wieder hingelegt, da die gefährliche Erregung nun erst körperlich nachzitterte. Er war solchen Dingen nicht gewachsen. Er fand keine Worte. Sein Gesicht war eine rührende Anklage gegen das böse Leben, das uns solche Widerwärtigkeiten nicht erspart – –

– Wißt ihr was, sagte ich, ich bekomme eben eine unbändige Lust, heute abend zwei Stunden auszugehn . . . Bis zu »Hassel« langt es . . . Ich bin diese Herumlunzerei müde . . . Es soll nichts übertrieben werden – aber ich will einmal hier heraus . . .

– Ich verbiete! sagte Schwester Veronika mit einer Bestimmtheit, die mich lachen machte . . .

– Und wenn ich doch gehe?

– So gehe ich im selben Augenblick. Ich kann diese Verantwortung nicht tragen . . .

– Auch ich verbiete, sagte Kallenbach . . .

– Ich würde abgeraten haben, sagte Manfred.

– Gut. Ich füge mich. Aber dann wird etwas anderes gemacht. Holt mir den kleinen Edgar, der mir heute früh einen reizenden Brief geschrieben 328 hat . . . Ich lasse Essen für uns alle hier richten. Punkt acht. Schluß halb elf. Einverstanden, Schwester Veronika?

– Sie sind mir ein schönes Weltkind, Herr Benrath! Heute morgen erst diese schreckliche Sache und nun –

– Gerade nun! Die Kräfte sind wieder da! Ich spüre wieder, daß ich lebe!

– Ich spüre auch, daß Sie wieder leben!

– Na, sind Sie denn nicht froh darüber?

– Und ob ich froh bin!

– Schwester Veronika, Sie müssen mit uns essen – Sie müssen einen Schwips bekommen heute abend!

– Aber Herr Benrath!

– Was ist denn dabei? Sie glauben gar nicht, wie anders die Welt dann aussieht! Sie sieht dann nämlich nur halb so irrsinnig aus, als sie ist . . .

– Stimmt! stimmt! rief Kallenbach. Also zechen wir heute abend! Ich stifte Burgunder . . .

– Und ich Rheinwein, rief Manfred. Eignes Gewächs . . . Trinken ist dir doch erlaubt?

– Angeordnet sogar!

– Herrlich! Herrlich! begeisterte sich Kallenbach . . . Er rannte an den Flügel und spielte die Trinkszene aus der »Fledermaus« . . .

Schwester Veronika wiegte ganz leicht auf ihrem Sessel hin und her – und ihre Haube wiegte noch leichter mit – und die großen Stricknadeln auch . . . 329

Und Manfred lächelte – und ich summte die Melodie, und Kallenbach sang sie laut – und Kädda kam ins Zimmer mit einem Gesicht, als höre sie eine Messe, aber nicht eine Operette, und hatte eine große Rechnung in der Hand . . .

– Frau Mulch, rief ich, Frau Mulch – kommen Sie her und lachen Sie mit . . . Der Spuk ist vorbei . . . Sie sind entbunden von dem, was Ihnen Dr. Waldtner aufgetragen hat . . .

Ich nahm sie an den Händen . . .

– Morge, Herr Benrath, morge . . . Heut kann ich noch net. Ich bin noch zu uffgeregt! So eine Schand, so eine Rotzekotzeneununneunzigmalverdammte Schinnosschand! Aber ich sage nichts mehr heute – gar nichts mehr sage ich. Ich weiß, wann ich was sage un wem! In die Zeitung bring ich's! Ich kann's beschwören, wie Sie geschuft hawwe! Ich kann's beschwören vorm Reichsgericht! Aber es gibt keine Gerechtigkeit mehr! Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Uffspieße müßt man den Hutsch – ins Fegfeuer setze, bis ihm die Giftgall brate tät . . . Oh, mein Herz, ach, mein Herz . . . Ich ertrage es nicht mehr! – – Hier is die Rechnung, bis gestern, zwölf Tag, alles zusamme. Auch die Nahrung für die Schwester. Wenn ich was vergesse hab, dann sage Se's . . .

Sie ging. Manfred und Manuel kamen an mein Bett, und wir lasen gemeinsam das Dokument. 330

 
Rechnung
von Frau K. Mulch für Hern Hennry Benrat.
vom 20. November bis 2. Dezember 1912

Saffeladswurscht 1.10
7 Pfund Siessrambuter 9.30
¼ Z. Kadofl 1.20
Reiss 1.—
Äppel Goldpermeene 2.25
Konjak Kissenjee 6.50
Laxschinke 4.15
Schuh gesoold 3.—
Schambanjer (von Hasel) 12.—
1 Pfund Kafee 2.80
¼ " Tee 2.50
Lekdrisch Licht 2.—
Butzfrau 1.—
Schneiter, Anzug gebichelt 2.50
30 Eier 3.—
Mehl 1.—
Piplotekdiener Tringelt 1.—
Straafpoto —.20
Fleisch für Gehaktes 26.—
Rotwei Bordo 6 Fl 12 —
Trasbord 94.50
Brötger 2.16
Weisbrot —.96
Schillee 1.54
Gemies u. Salad 11.20
Kombott, Firsig, Renneklo, Mirapel 15.05
Abotek siehe Exdrarezebder 11.10
12 Dibbcher Bier (für Schwester) 1.20
Wäsch ohne Bitschama 8.90
Bettzeuch (Schwester geleent) 1.—
Riezius —.40
————————————
End-Suma          148.01

alles mit für Schwester Feroniga,
Gas Küch kommt noch, wenn gemesen,

Dankent erhalden:
 

Obwohl wir ähnliche Schriftstücke oft genug erhalten hatten, lachten wir, daß uns die Tränen über das Gesicht liefen. Schwester Veronika kam herbeigerannt . . .

– Herr Benrath! Wollen Sie gefälligst an Ihre Wunde denken!

– Aber liebste Schwester, ich spüre doch keine Schmerzen mehr!

– Ganz gleichgültig – wenn man solche Schnitte im Bauchfell hat, hält man sich vorsichtiger . . . Es muß überhaupt jetzt mehr Ruhe werden . . . Dieser Leichtsinn artet aus . . . 332

– Also gut . . . Ich verspreche von nun an Mäßigung. Die Herren gehn ja so wie so jetzt in die Stadt – ich werde noch etwas ruhen und um sieben aufstehen . . . Geben Sie mir bitte mein Mittel . . . und dann lesen Sie zu Ihrer Freude auch diese Rechnung . . . Wenn Sie gut zusammenzählen können, prüfen Sie sie bitte nach – –

Als ich eben gerade am Eindämmern war, hörte ich das glucksende Lachen Schwester Veronikas im Musikzimmer . . . Aber ich schlief dennoch ein – und wachte erst auf, als Edgar um sieben kam . . .

– Ich gehe nicht in die Burgundia, sagte er plötzlich im Laufe des Gespräches – Mit Vahrenkamp ist Schluß. Ich gehe mit den beiden Wondras, die Sie ja auch kennen, nach Wien . . .

– Und dabei, Edgar, bleiben Sie aber auch – ja?

Er nickte und lächelte . . . Ein glückliches Lächeln . . .


Mit Kerzen, Blumen, Wein und einem leichten Essen, das Kädda unter der Aufsicht der Schwester Veronika gekocht hatte, begann dieser Abend des 2. Dezember . . . Mit neuem Wein und guten Gesprächen ging er weiter – und dann kam das Schönste: Kallenbach, als ob er frei werde in einer Kurve, die der Kurve meines eignen Auflebens angeglichen sei, öffnete den Flügel . . .

Ich lag auf dem Diwan, Edgar saß vor mir, den römischen Kopf im flimmernden Kerzenlicht – Manfred 333 kauerte – wie immer – auf seinem Kissen am Boden, und Schwester Veronika hielt sich unbewegt und gerade in einem hohen Lehnsessel . . .

– Wer weiß, was ich spielen werde? rief Kallenbach.

– Ich weiß es, Manuel.

– Nun?

– Mozart natürlich. Die C-Dur-Sonate!

– Richtig geraten . . .

Und schon rieselte die süße Klarheit durch den Raum . . .

Schwester Veronika hatte den Kopf zurückgelehnt und hielt die Augen weit geöffnet . . . Diese Augen tranken die Musik . . . Wußte einer – ahnte einer nur, was sie schauten? Wer war – Schwester Veronika?


Ich hatte am nächsten Vormittag – nach einer ruhig durchschlafenen Nacht – Zeit genug, mich auf den Besuch Hinrichsens vorzubereiten. Er hatte mir auf einer Postkarte noch einmal bestätigt, daß er um zwölf bei mir sein werde. Die Strategie meines Vorgehens war mir klar, nachdem der übersteigerte Wutanfall des vergangenen Tages alle gefühlsmäßigen Elemente aus der Phalanx entfernt hatte. Ich wußte, während ich über das Kommende nachdachte, noch nicht, daß die Taktik, die ich mir ausgedacht hatte, die Kampftaktik meines ganzen Lebens bleiben würde.

Schwester Veronika hatte mich auf dem Liegestuhl 334 meines Arbeitszimmers zurechtgebettet. Kädda war ermahnt worden, zu schweigen, das Zimmer während der Unterredung nicht zu betreten und sich bei Hinrichsens Weggang nicht die geringste Bemerkung entschlüpfen zu lassen.

Hinrichsen erschien kurz vor halb eins. Er entschuldigte seine Verspätung mit einer unvorhergesehenen Sitzung auf dem Rektorat.

– Wie schön Sie hier wohnen, sagte er, nachdem er sich »eingehend« nach meinem Befinden erkundigt hatte . . . Und dieses reizende pied à terre wollen Sie jetzt also wirklich aufgeben?

– Die Umstände zwingen mich dazu, Herr Professor. Es wird mir leid tun. Aber ein Bedauern hat keine entscheidende Kraft . . .

– Haben Sie sich meine Vorschläge einmal überlegt?

– Nein.

– Nein? – Also Sie lehnen sie ab?

– Nein. Sie lehnen sich durch sich selbst ab.

– Aber was soll denn da werden?

– Es gibt eine einzige Möglichkeit, die das Geschehene ungeschehen machen kann . . .

– Und die wäre?

– Sie erklären sich bereit, Ihre Ablehnung zurückzunehmen und mich – auf Grund der abgelieferten Arbeit – am 10. Dezember promovieren zu lassen. 335

– Aber lieber Herr Benrath, das geht doch nicht . . .

– Ich glaube, daß dies sehr wohl geht, wenn Sie nur wollen. Es ist nachzuweisen, daß die Arbeit des Herrn Klaus Dietrich Werner aus Breslau unabhängig von der meinen entstanden ist und umgekehrt. Es ist außerdem nachzuweisen, daß zwischen den beiden Texten nicht der geringste Zusammenhang besteht, ja, daß die Endergebnisse verschieden sind. Im Falle Werner handelt es sich – ohne mich im geringsten überheblich zeigen zu wollen – um eine rein registrierende Philologenarbeit. In meinem Falle handelt es sich ~ selbst nach Beseitigung der psychologischen Deutungen – um eine neue Synthese, die sich zu einem grundlegenden Werk ausbauen läßt. Die Arbeiten stehen auf verschiedenen Ebenen. Das macht sie voneinander genau so verschieden, wie Arbeiten aus verschiedenen Stoffgebieten . . .

– Es gibt in der Literarhistorie nur eine Ebene, Herr Benrath: die literarhistorische. Aber darum dreht es sich ja gar nicht. Es ist nicht Sitte, nicht Brauch, nicht akademische Gepflogenheit, daß eine schon erschienene Dissertation nicht den Vorrang vor der gleichen noch nicht gedruckten habe . . .

– Auch nicht, wenn force majeure vorliegt?

– Nein. Es kann ja eigentlich – in einem Falle wie dem Ihren – immer nur force majeure vorliegen . . .

– Sie halten sich nicht für befugt, diese 336 force majeure durch einen persönlichen Akt der Großzügigkeit auszuschalten?

– Nein. Ich kann mich nicht gegen ein sakrosanktes, wenn auch ungeschriebenes Gesetz auflehnen. Ich riet Ihnen doch, das Vorgefallene schicksalsmäßig zu nehmen.

– Ich glaube nicht, Herr Professor, daß man irgend einem Menschen einen solchen Rat erteilen könne. Es steht bei mir allein, ob ich meinen »Fall« schicksalsmäßig auffasse oder nicht. Seinem Schicksal gegenüber hat man weder Bundesgenossen noch Berater . . .

Hinrichsen verzog seinen Mund und strich sich den Bart.

– Ja, Herr Benrath, da wären wir ja in einer schönen Sackgasse . . .

– Wir sind in gar keiner Gasse mehr nach Ihrer Weigerung, Ihre Ablehnung rückgängig zu machen. Wir sind am Ende. Ganz einfach am Ende . . .

– Wie meinen Sie das? rief Hinrichsen, erregt aufstehend und sich gegen die gewundene Säule des Büfetts lehnend . . .

Ich sah ihn schweigend an . . .

– Ja, wollen Sie denn wirklich meine gutgemeinten Vorschläge ablehnen? In Bausch und Bogen ablehnen?

Ich richtete mich ein wenig auf . . .

– Herr Professor – haben Sie ernsthaft geglaubt, daß ich mich auf Ihre Vorschläge einlassen werde?

– Ja, warum denn nicht? 337

– Herr Professor: Sie haben geglaubt, ich versündige mich an der Kraft meiner besten Jahre, indem ich die hundert Bände dieses Dumas père kritisch durcharbeite? Dieses zügellosen Vielschreibers, der die Welt mit seiner Produktion überschwemmte, um Geld zu schaffen? Oder Sie haben geglaubt, ich ließe mich auf den Ausbau der Tabellen ein? Auf eine Sache, die jeder beliebige Student machen kann, sofern er nur über das nötige Sitzfleisch und das nötige Hörigkeitsgefühl verfügt? Wenn Sie eine solche Unmöglichkeit nur eine Sekunde lang für möglich gehalten hätten, so müßte ich annehmen, daß Sie von dem Wesen Ihres Schülers, der seit drei Jahren mit Ihnen und im Vertrauen auf Sie gearbeitet hat, wirklich eine ganz falsche Vorstellung hätten . . . Erlauben Sie mir bitte, in voller Offenheit zu sprechen und dieser Unterredung, voraussichtlich der letzten, die zwischen Ihnen und mir stattfindet, einen überpersönlichen Charakter zu geben . . . Es hilft nichts, irgend einen Fall jenseits der äußeren Gegebenheiten zu deuten, innerhalb derer er sich vollzieht. Wollte ich ein philologisches Staatsexamen machen, wäre ich also – glatt herausgesagt – auf Sie angewiesen: so hätte ich – zähneknirschend – so tun müssen, als ob ich mich fügte. Ich hänge aber nicht von Ihnen ab – und mein zukünftiger Weg erst recht nicht. Ich war Ihr Schüler – gern und willig – gut. Ich bin es geworden, nachdem ich Ihnen die Voraussetzungen bekannt gegeben hatte, unter denen 338 ich es werden würde. Das war mein Recht. Diese Voraussetzungen sind von Ihnen ohne weiteres angenommen worden und – für mich – auch heute noch für meine Entscheidungen ausschlaggebend.

– Sie haben also schon Entscheidungen getroffen?

– Unwiderrufliche, nachdem Sie die letzte Möglichkeit der Verständigung – die Rückgängigmachung – abgelehnt haben.

– Ich kann nicht – ich kann nicht! rief Hinrichsen. Wollen Sie mich doch verstehen!

– Wenn ich tausendmal wollte: ich würde es niemals können . . . Herr Professor: ich kann niemals einen formalistischen Leerlauf verstehen . . . Ich kann es auch nicht verstehen, daß wissenschaftliche Arbeit neben dem Menschen herlaufen solle, der sie vollbringt! Es genügt mir, die Titel mancher Dissertationen zu sehen, um das Gruseln zu bekommen! »Gold- und Silbermünzen in der französischen Literatur« . . . »Schwert und Degen in den mittelalterlichen Epen« . . . »Die Kopfbedeckungen im Provenzalischen« . . . Welche Rückverbindung haben solche Arbeiten noch mit dem Sinn eines menschlichen Ablaufs? Welche seelisch oder geistig formende Kraft haben sie? Ich erspare mir die Antwort.

– Wollen Sie die Suprematie der Wissenschaft leugnen?

– Ja, das will ich! Ich kann sie nur gelten lassen im Rahmen des größeren Hoheitsbereiches, welcher 339 »der Mensch« heißt. Wo sie tötet, erstickt oder auch nur galvanisiert: muß sie bekämpft werden mit der ganzen Kraft, die in lebendigen Menschen wirkt. Der namenlose Hochmut des Gespenstes, das heute als » Wissenschaft« durch die Welt geistert, muß gebrochen werden. Leben, das heißt Formung des Menschen, ist wichtiger als sinnlose Dissertationen – als noch sinnlosere Doktortitel, die schon so allgemein geworden sind, daß ein wirklich geistiger Mensch kaum noch einen allzu großen Wert darauf legen dürfte, sie vor seinen Namen zu setzen . . .

– Das ist Revolution!

– Allerdings, Herr Professor – und zwar eine sehr notwendige! Ich bin mir mehr als klar darüber, daß mit dem rein mechanischen Promovieren, so wie es heute oft genug – nicht immer – gehandhabt wird, Schluß zu machen sei! Die Universitäten selbst haben alles Interesse daran, daß der Doktorgrad wieder ein ganz anderes, allgemeines Bildungsniveau voraussetze, als es heute der Fall ist. Er muß unendlich viel schwerer zu erlangen sein, damit er wieder eine wirkliche Auszeichnung werde. In allen Fakultäten . . .

– Warum, wenn Sie keinen Wert auf diesen Titel vor Ihrem Namen legen, haben Sie denn promovieren wollen?

– Von mir aus, Herr Professor, habe ich das niemals gewollt! Ich habe mich nur einem begreiflichen Wunsche meiner bürgerlichen Eltern gefügt, denen 340 ich mich unendlich verpflichtet fühle, weil sie mir ihr ganzes Vertrauen geschenkt und die freie Entscheidung über meinen Weg gelassen haben. Und ich habe mir schließlich gesagt, daß ja auch einem künstlerischen Menschen die geistige Disziplinierung durch wissenschaftliche Arbeit nur nützen kann, sofern diese Arbeit in sein Lebensgesetz einmündet, also der Gesamtheit seines geistigen Seins und Schaffens dient. Eine solche Arbeit hatte ich Ihnen eingereicht in der ursprünglichen Fassung . . . Auch die von Ihnen verlangte Fassung mochte noch – im großen ganzen – meinen Forderungen an mich selbst entsprechen, obwohl sie schon ein reichliches Zugeständnis darstellt. Darüber hinaus aber gibt es keine Möglichkeiten mehr, sofern ich vor mir selbst ein ehrlicher Mensch bleiben will. Ich habe als selbstverständlich angenommen, daß es, um diesen Grad zu erwerben, der sich Dr. phil. nennt, darauf ankomme, seine wissenschaftliche Befähigung unzweideutig erwiesen zu haben – aber nicht auf die ernsthafte Berücksichtigung von Zufällen, denen jede, noch so bedeutende Leistung von neuem ausgesetzt sein könnte. Meine Befähigung ist wohl erbracht – ich brauche ja nur Ihre Briefe und Ihre Worte in die Waagschale zu werfen. Ihre Bedenken aber sind für mich unannehmbar, weil sie dem Edelsten ins Gesicht schlagen, das es in einem jungen Menschen gibt: seiner Würde! Sie können auch sagen: seinem Selbstachtungsgefühl! 341

Hinrichsen stand ratlos. Er putzte sich die Nase, schob seine Brille zurecht und hüstelte . . .

– Und Sie wollen wirklich diese drei Jahre vergebens gearbeitet haben, sagte er zögernd . . . Sie wollen Ihre ganze Mühe ungenutzt lassen?

– Weder das eine, noch das andere . . . Erstens hat man niemals vergebens gearbeitet, wenn man mit seiner ganzen Kraft gearbeitet hat – und zweitens habe ich mehrere Möglichkeiten, mit meiner Arbeit zu promovieren, falls es mir oder meinem Vater noch darauf ankommen sollte . . .

Hinrichsen hob den Kopf:

– ?

– Ich brauchte zum Beispiel nur meine erste und zweite Fassung zusammenzufügen, umzuschreiben und meinem langjährigen Lehrer an der Sorbonne, Gaston Thibaudet, einzureichen. Er hat mir mehr als einmal nahegelegt, bei ihm zu promovieren . . .

– Und Sie haben abgeschlagen?

– Jawohl. Ich hatte ja Ihnen mein Wort gegeben. Außerdem erachtete ich es für selbstverständlich, daß ein Deutscher sein Doktorexamen an einer deutschen Universität ablege. Diesen Standpunkt vertrete ich auch heute, mag mir, was sich hier ereignet hat, noch so grotesk erscheinen. Es gibt Dinge, die man unter keinen Umständen tut, auch dann nicht, wenn man vielleicht menschlich das Recht dazu hätte . . . Im übrigen habe ich nichts weniger nötig als die 342 Sorbonne, um zu meinem Ziel zu kommen. Ich kann mich ja ganz einfach entschließen, hier in Philippinenthal, wo ich mich vorzüglich eingelebt habe, ein anderes Fach als Hauptfach zu wählen, die Arbeit auf ein anderes Gebiet zu verlegen, wozu sie tausend Handhaben bietet – und Französisch als Nebenfach zu nehmen . . .

– Französisch als Nebenfach?

– Würden Sie es mir abschlagen können, mich in Französisch als Nebenfach zu prüfen, wenn ich Sie darum bäte?

Abermals fand Hinrichsen keine Antwort. Er kaute an einem alten Zahnstocher, den er aus der Westentasche gezogen hatte, und starrte auf meinen Schreibtisch, wo ihm Germaine aus dem silbernen Rahmen entgegenlächelte. Ich weiß nicht, ob er dieses Bild sah – – Ich weiß nur, daß ich plötzlich Mitgefühl mit diesem Manne hatte. In einer jähen Aufhellung hatte ich begriffen, daß ja auch er nur ein »Opfer von Umständen« war . . . Ich hatte ihn eine Zeitlang für böse gehalten. Nein, nein. Er war nicht böse. Er quälte, weil ihn sein Leben selbst zerquält hatte, weil es dem Eros der Grammatik, der in ihm als Dämonie wirkte, in jeder Stunde die Flügel stutzte . . . Er brachte Opfer einer äußeren Ordnung der Dinge, die er im Grunde haßte . . . Er war ein Sprachforscher, ein Entdecker – – und mußte zukünftige Oberlehrer prüfen . . . 343

Ob er meine Gedanken erraten hatte?

Er kam plötzlich auf mich zu und nahm meine Hand:

– Herr Benrath – sind Sie mir sehr feindlich gesinnt?

– Ich war es. Manchmal im Laufe dieses Jahres, und gestern bis zur offenen Wut. Ich bin es heute nicht mehr. Und werde es auch nicht mehr sein . . .

– Warum nicht mehr?

– Weil ich glaube, daß ich ein »Warum« in Ihrem Leben verstehe, das ich gestern noch nicht verstand . . .

– Ich möchte nicht, daß Sie in Feindschaft von mir gehen. Ich habe immer nur meine eignen Rekruten gedrillt – und werde sie weiterdrillen müssen . . . Nur in einem Zehntel meiner Zeit kann ich tun, was mir gemäß ist . . . Glauben Sie nicht, daß darin – in neunzig Fällen von hundert – die Tragik der sogenannten »Hochschullehrer« liegt?

– Ich glaube es. Ja, ich glaube sogar noch ein ganz Anderes, das ich Ihnen sagen möchte: Daß Sie in Ihrem »Sosein und nicht-anders-können« verharrten, hat mir ganz den Weg zu mir selbst zurückgewiesen . . . Ich durfte, ich darf nicht bei Ihnen promovieren. Wenn ich es noch jemals tue, gehört meine Arbeit an die gleiche Stelle, von der aus die Quelle meines dichterischen Schaffens herfließt: nicht in die Literarhistorie – sondern in die Seelenkunde . . . 344

– Dann wäre ich Ihnen ja doch noch zu etwas nütze gewesen . . .

– Ja.

Hinrichsen ließ langsam meine Hand aus seiner gleiten . . .

Als ich den Kopf hob, sah ich, daß Kädda sich lautlos vom Schlafzimmer her gegen die Schwelle des Wohnzimmers schlich und mir ein Zeichen machte . . .

Gleich darauf war ihre Gestalt verdeckt durch die hohe blonde Gestalt Adrians, die im Türrahmen erschien – –

Wie zwei Welten, welche auf verschiedenen Drehscheiben ablaufen, nur eine Minute umeinander kreisen, ohne sich zu berühren, so hatten sich Hinrichsen und Adrian abgelöst . . .

Adrian war es, der nun meine Hand hielt und mich langsam von dem Liegestuhl hochzog . . . Hinrichsen war lautlos durch das Musikzimmer gegangen . . .

– Er will Ihnen noch einmal schreiben, sagte Kädda, als sie nach einer Weile zurückkam.

– Haben Sie die Arbeiter und die Dienstleute für morgen bestellt, Frau Mulch?

Sie trat zu mir:

– Is es wirklich wahr? Reise Sie ab?

– Ja. Am Samstag . . .

– Aus, aus, aus, weinte sie, während sie gegen die Tür des Schlafzimmers ging . . . Aus und nochmals hoch und heilig aus! So ist das Leben . . . das böse, 345 nixnutzige Leben . . . und wenn wir dermaleinstens nicht mehr sind . . .

Sie hob ihre Schürze vor die Augen:

– Und wenn wir dermaleinstens nicht mehr sind, so haben wir das Zeitliche gesegnet.

 

Ende

 


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