Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Am 9. Februar des neuen Jahres brachte ich Toggenburg einen Durchschlag des fertiggestellten Textes meiner Dissertation, welche ein paar Tage später an Hinrichsen abgeliefert werden sollte. Er bat mich auf Montag zu einer Besprechung:

– Ich falle mit der Tür ins Haus, sagte er. Also erschrecken Sie nicht: so gut mir Ihre Arbeit gefällt – sie liest sich wie ein Essay – so unbefriedigt wird sie Professor Hinrichsen lassen. Was Ihnen nur Voraussetzung für eine psychologische Darstellung ist, wird er als den wahren »Inhalt« haben wollen. Machen Sie sich darauf gefaßt, daß er Änderungen in dem von mir angedeuteten Sinne verlangen wird. Sie haben, was bei einem Menschen Ihrer Artung und Geistesrichtung selbstverständlich ist, das Bedürfnis, Schlüsse zu ziehen, ein Endergebnis festzustellen, welches dieses und jenes über Victor Hugo beweist. Sie beziehen zurück auf den Dichter, den Menschen Victor Hugo und klären damit sein geistiges oder künstlerisches Bildnis. Professor Hinrichsen, soweit ich ihn kenne, wird es darauf ganz und gar nicht ankommen. Er ist kein Psychologe. Er ist der sachliche, trockene Literarhistoriker, der methodisch seinen Stoff sammelt, sichtet und schließlich in einer Darstellung vereinigt. Er überläßt es den Lesern, Schlüsse zu ziehen und Bezüge herzustellen. Es wird Ihnen nicht erspart bleiben, den Rückzug bis zu der von mir gezogenen Linie anzutreten . . . Ich denke, es ist Ihnen 167 lieber, ich habe Ihnen offen meine Befürchtungen gesagt, als Sie vielleicht mit vollen Segeln zu einer Fahrt aufbrechen zu lassen, die nicht nach Ihrem Wunsche verlaufen wäre . . . Immerhin: es geschehen ja manchmal Wunder . . . Bringen Sie ihm den Text, und halten Sie mich auf dem laufenden . . .

– Ich danke für Ihren Wink. Darf ich mir eine Frage erlauben?

– Bitte . . .

– Sollte es zwischen Professor Hinrichsen und mir zu keiner Einigung kommen . . .

– . . . so werden wir beide weiterberaten, was zu geschehen habe. Jedenfalls steht fest, daß Ihre Arbeit, so wie sie heute ist, schon im wesentlichen den Anforderungen an eine psychologische Dissertation entspricht. Natürlich würde auch ich Änderungen verlangen müssen: aber ich glaube, daß es Ihnen eine Kleinigkeit wäre, diese vorzunehmen. Selbstverständlich ist, was ich Ihnen sage, nicht die leiseste Aufforderung, die Fahne zu wechseln, sondern nur eine Art Rückversicherung, die ich Ihnen als ultima ratio gebe . . . Ich denke, das versteht sich von selbst . . . wie auch der durchaus private Charakter dieser Unterhaltung . . .

– Sie wissen, Herr Professor, daß Sie sich auf mich verlassen können. Was Sie mir über meine Arbeit gesagt haben, genügt, mir alle Sicherheit und Ruhe zu geben, die ich jetzt brauche . . . Denn auch ich bin mir darüber klar, daß nun ein Kampf beginnen wird. 168 Ich bin bereit, bis zu einem gewissen Punkt in der Arena zu bleiben. Über diesen Punkt hinaus keinesfalls. Für eine literarhistorische Arbeit setze ich nicht ein halbes Semester zu – für eine psychologische ohne weiteres noch zwei, wenn es sein muß. Denn ich würde Neues und mir Wesentliches lernen . . .

– Wir verstehen uns, Herr Benrath. Also auf in den Kampf . . . Was machen Sie heute abend?

– Ich fahre um neun nach Frankfurt, um Adrian Amersfoort abzuholen, der mich besuchen will . . .

– Ach – Amersfoort kommt . . . Hören Sie: diesen Mann muß ich wieder sehen und mit ihm über sein wundervolles Buch »Die Schönheit der baskischen Sprache« sprechen . . . Wie lange bleibt er hier?

– Höchstens bis zum Freitag.

– Wohnt er bei Ihnen?

– Nein, im Bristol.

– Bitte essen Sie beide mit mir am Mittwoch abend bei »Hassel« . . . Sie werden mir die größte Freude machen.


– Haben Sie nicht etwas rasch gearbeitet? sagte Hinrichsen, als ich ihm den Text brachte.

– Ich glaube nicht, Herr Professor. Viele Teile des Textes standen schon in Paris fest. Ich habe jetzt fast drei Jahre an dieses Thema gehängt . . . Das kann man wohl nicht rasche Arbeit nennen.

– Es gibt Forscher, die ein Leben daran hängen, um 169 zu einem Ergebnis zu kommen, das man in einer Zeile niederschreiben kann.

– Ich erhebe nicht den Anspruch, ein Forscher zu sein. Ich möchte promovieren. Noch in diesem Jahre . . .

– Das werden Sie wohl mit Anstand können . . . Sie sollen neulich im Seminar bei Jacquemier über die Novellen von Maupassant gesprochen haben?

– Ja. Ein paar Bemerkungen ohne viel Belang.

– Es ist da ein jüngerer Herr, der unbedingt über Maupassant arbeiten will . . . »Maupassants Stil« . . .

– ?

– Sie sagen nichts?

– Ihr Schüler muß wissen, ob er ein solches Thema bewältigen kann. Er kann nicht über Maupassant arbeiten, wenn er nicht Flaubert gründlich kennt.

– Verstehen Sie, warum sich diese Jugend immer an so gewagte und verschwommene Dinge machen muß?

– O ja. Nur ahnt wohl mancher im voraus nicht, was er sich auflädt . . .

– Das meine ich auch. Ich wollte ihm dieses Thema ausreden. Er sagte mir, er wolle es aufbauen auf dem Leitsatz: »Le style, c'est l'homme« . . .

Ich sah Hinrichsen von der Seite an . . . Sollte ich den Vorstoß wagen? Warum nicht?

– Das käme ja beinahe auf das hinaus, was ich in meiner Arbeit durchführe: Die dichterische Technik eines Künstlers: das ist der Künstler selbst . . .

Hinrichsen wandte jäh, fast feindlich den Kopf zu mir: 170

– Haben Sie Ihre Arbeit psychologisch aufgebaut?

– Nicht nur – aber unter anderem . . .

– So . . . Ich hatte gehofft, Sie würden dies nicht tun . . . Es kam mir nicht gerade darauf an . . . Wie klar und sauber haben Sie übrigens das Manuskript hergestellt und binden lassen . . . Tintenstift . . . Sie haben wohl einen Durchschlag gemacht?

– Ja. Das ist praktischer, wenn Sie die Arbeit mit mir besprechen. Vielleicht fallen mir bis zu dem Zeitpunkt, wo Sie sie gelesen haben können, noch Änderungen ein. Ohne einen Durchschlag könnte ich diese ja gar nicht einfügen . . .

– Und das Urmanuskript?

– Ist im Ofen. Ich hasse verkritzelte Blätter . . .

– Sie haben Methode, sagte Hinrichsen, meinen Blick vermeidend. Hoffen wir, daß die Arbeit selbst ebensoviel Methode hat.

– Darf ich fragen, bis wann Ihnen Ihre Zeit erlaubt haben wird, die Durchsicht zu beenden?

– Ich habe, wie Sie wissen, gerade die Prüfungen . . . Sagen wir: bis Ende dieses Monats . . . Dann werden wir sofort die nötigen Änderungen besprechen können. Ist Ihnen das recht?

– Ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn wir darüber schon Ende Februar sprechen können.

– Bleiben Sie die Ferien über hier?

– Unbedingt.

– Das freut mich, das finde ich sehr vernünftig. 171 Dann werde ich Ihnen sehr viel mehr an die Hand gehen, als während des überladenen Semesters . . .

Da war die Kriegserklärung: »an die Hand gehen«.


– Nein, mein Verehrtester, sagte Professor Unckmann, als ich eben gehen wollte . . . nein und nochmals nein: ich bin nicht wie diese armseligen Kleinigkeitskrämer, die einen jungen Mann bis aufs Blut pisacken mit Sachen, die ihn nach einem halben Jahr nichts mehr angehen! Ich erkunde die Bildungsfähigkeit eines Menschen, ich suche die Ebene, auf der er steht – und bemesse danach meine Fragen . . . Ich verlange Überblick, Erkenntnis der Zusammenhänge – ich verlange das Universale! Ich verlange, was der universale Mensch verlangt! Kann man seinen Blick verengen? Kann man die Weite seines Wissens in die Rumpelkammer des heute so beliebten »Spezialen« sperren? Das tue, wer will! Man erwarte von Waldemar Unckmann nicht, was seiner unwürdig wäre! Sie hören meine Vorlesung über den Hohenstaufen Friedrich II. Wenn ich von ihm sage: ›Er war der größte Staatsmann unter den Feldherrn, der größte Feldherr unter den Staatsmännern seiner Zeit‹, so setzt das die Kenntnis aller Vergleichsmöglichkeiten voraus, die mich zu einem solchen universalen Urteil berechtigen . . . Der Blick des wahren Historikers ist visionär! Visionär ist er! Er umspannt Räume und lichtet sie auf, er sieht in Bildern, nicht in einem Wust von Tatsachen: er ahnt 172 die Formen der großen Geschehnisse und vermittelt sie der Seele! Ein Zauberer ist der wahre, der geborene, der intuitive Historiker . . . Wohl dem, der ihm zu folgen weiß! . . . Schade, dreimal schade, daß Sie nicht bei mir promovieren! Eine Arbeit über den Normannen Wilhelm II. – denken Sie! Denken Sie! Weltwende: infolge von Kinderlosigkeit! Wir stehen auf dem Grat – Blick links, Blick rechts – im Nebel versinkende Welt, aus dem Nebel aufsteigende Welt . . . Wunderbar . . . Wir sehen das Atom, das entscheidet . . . Wer hat diesen Atomblick hier an dieser Universität? Wer hat ihn? Einer. Die andren sehen die Willkür der Erscheinungen – und zermürben sich an ihnen . . . werden alt und eng und welk . . . Wohl dem, der noch das Feuer der Jugend in sich spürt! Ihm gehört die Jugend . . .

Er zerbrach mir fast die Hand . . .

– Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn! Also: Die großen Zusammenhänge – und: die Normannen!

Ich ging die Treppen herunter, wie man aus Körners »Zriny« ginge, wenn dieses Theaterstück noch aufgeführt würde. Es war halb acht Uhr. Zu Hause wartete Adrian. 173

 


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