Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Als ich eines Nachmittags, gegen Ende November, in die Küche trat, um das Auffüllen meiner Waschkannen zu veranlassen, fand ich Kädda Mulch in der Kleidung tiefer Trauer. Sie hatte einen schwarzen Kreppschleier über den etwas schief sitzenden Kapotthut zurückgeschlagen und hielt in der Hand ein Taschentuch, mit dem sie gerade das Gesicht abwischte.

– Guten Tag, Frau Mulch, sagte ich. Was ist denn los? Haben Sie einen Trauerfall in der Familie?

Sie antwortete nicht, sondern hob von neuem das Tuch gegen die Augen.

– Ach ja, Trauerfall! knurrte Josef, den ich gar nicht bemerkt hatte, aus der Herdnische herüber. Verrückt macht sich die dumme Person wieder über fremde Leut! Als ob man nicht genug mit seinem eignen Kram zu tun hätt!

Langes Schweigen in der grauen Stille der Küche, in der es leicht nach geschabten Gelberüben roch. Dann plötzlich – nach einem abgrundtiefen Aufseufzen – Käddas Stimme:

– Ach du liewer guter Gott und Vater im Himmel: wenn wir dermaleinstens nicht mehr sind –

– Gibt's immer noch Nixnutz genug auf der Welt, schnitt ihr Josef das Wort ab, nahm seine Mütze und verschwand, indem er die Tür ins Schloß knallte . . .

– Nun sagen Sie mir doch bloß einmal, Frau Mulch, was mit Ihnen ist! Waren Sie in einer befreundeten Familie, in der jemand gestorben ist? 119

Verneinendes Kopfschütteln und Augentrocknen . . .

– Waren Sie bei einer Beerdigung?

Bejahendes Kopfnicken.

– Stand Ihnen die Person, die begraben wurde, sehr nah? . . .

– Ich hab sie net gekannt, es war die Frau Rechnungsrat Köhler. Aber ich geh so gern zu Beerdigunge uff die Friedhöf. Ich flenn so gern . . . Mein Mann is zu dumm, der versteht so was net. Er hätt mich bald geschmisse. Er sagt, ich hol mir wieder die Ischas bei dem nasse Wetter. Da, da, lesen Sie! fuhr sie erregt fort, lesen Sie in meinem Herzensbuch, in meinem grundewigen Weisheitsbuch . . .

Sie zog die Tischschublade auf und entnahm ihr einen ganz zerlesenen, in braunes Küchenwachstuch eingebundenen Almanach, in dem sie zu blättern begann . . .

– Ach meine Augen, o meine Augen! Wie bin doch so hochkurzsichtig! Schlagen Sie selber auf, Seite 84: »Bei Trauerfällen zu lesen«.

Sie ließ sich gegen die Lehne des Sessels zurückgleiten . . .

Ich sah mir zuerst einmal das Titelblatt dieses Wunderbuches an. Da stand:»Gottlieb Schlauchs Taschenkalender 1887, für Frauen und Mädchen mittlerer Stände«. Und auf Seite 84 grüßte mein neugieriges Auge der folgende Spruch: 120

»Es tut dem Menschen nichts so gut
Als eine reiche Tränenflut.
Hast du dich tüchtig ausgeweint,
Die Sonne doppelt hell dir scheint.«

– Sehn Sie, sehn Sie, rief Kädda, so ist's! So ist es hoch und heilig richtig! Glauben Sie mir, Herr Benrath, wenn Sie auch noch so jung und herrlich sind, der Mensch braucht manchmal eine Erleichterung aus den Augen! Was liegt mir dran, woher mir die Erleichterung kimmt! Wann se nur kimmt! Mir kimmt se vom Begräbnis! Glauben Sie mir, glauben Sie mir: vom Gottesacker, ja, vom Gottesacker kommt all unser Trost! Wer das nicht weiß bis zu seiner Sterwensstund, der hat vergebens gelebt!

– Frau Mulch, sagte ich, jetzt haben Sie sich ausgeweint. Die Sonne scheint wieder. Also denken Sie bitte einmal daran, mein Wasser umzuleeren. Ich bekomme gleich Besuch – und möchte dann nicht gestört sein . . .

Schon schellte es im Vorplatz. Ich öffnete. Gottfried Möhl war gekommen, ein Student der Philologie, Mitglied des Romanischen Seminars und der Burschenschaft Gepidia, ein freundlicher junger Mann, der sich in den Hörsälen an mich angeschlossen hatte.

– Guten Tag, Herr Kollege, sagte er. Bin ich nicht auf die Minute pünktlich? Murr muß der Mensch haben, ein Mann, ein Wort. 121

– Guten Tag, Herr Möhl, sagte ich, Sie sind die Pünktlichkeit in Person. Und das ist mir sehr lieb, weil ich nicht viel Zeit habe.

– Gott, Mann, erwiderte er, sich die Hände reibend wie ein Oberlehrer auf einem Diskussionsabend, Sie haben aber auch nie Zeit. Was schaffen Sie denn eigentlich den ganzen Tag?

– Ich habe Ihnen die Bücher zurechtgelegt, sagte ich, eine Antwort vermeidend. Legen Sie doch bitte ab . . .

– Also das ist die Wohnung, von der mir Totila sprach . . . Allerdings . . .

– Wer?

– Totila. Ach so, Sie kennen vielleicht nicht diesen Spitznamen meines Bundesbruders Otto Elmenhain?

– Nein. Aber er scheint mir nicht übel . . .

– Na, die Goten und die Gotik überhaupt sind doch sein Steckenpferd . . .

– Wie geht es ihm? Ich sehe ihn nur wenig. Er scheint sehr beschäftigt . . . Bei seinen Eltern traf ich ihn zuletzt.

– Es geht ihm sehr gut. Er nimmt sich immer noch rührend der Füchse an. Besonders, was die Aufbesserung der deutschen Sprache betrifft. Er behauptet, diese jetzt heranwachsende Jugend schreibe und spreche ein saumäßiges Deutsch.

– Finden Sie das nicht auch?

– Gott, Herr Kollege, ich bekümmere mich nicht so viel um diese jungen Dachse . . . 122

– Aber doch hoffentlich um die deutsche Sprache, da Sie einmal Oberlehrer werden wollen . . .

– Ich habe nicht Deutsch als Fach. Ich habe Englisch, Französisch und Geschichte.

– Sie kommen von der Oberrealschule?

– Jawohl. Ich gehöre zur modernen Richtung, die den alten, verstaubten Plunder ablehnt.

– Wie verstehen Sie die französische Laut- und Satzlehre ohne Latein?

– Gott, man paukt. Hat man sein Examen, kräht kein Hahn mehr danach. Man muß eben diese üble Grammatikdrescherei einmal durchbeißen . . . Und wissen Sie, der »Rattenfraß« ist gar nicht so schlimm, wie ihn manche machen . . .

– Was? Wer?

– Der Hinrichsen. Die Lateiner nennen ihn Cunctator, wir Nichtlateiner nennen ihn Rattenfraß, weil sein Bart und seine Tolle aussehen, als nisteten nachts die Ratten drin . . . Man muß nur genau seine Kollege nachschreiben, niemals im Seminar fehlen, und natürlich die Lautlehre nur so herunterrasseln können. In der letzten Zeit zwickt einen der Bonze manchmal mit moderner französischer Literatur. Deswegen habe ich Sie ja gebeten, mir etwas von Ihren Sachen zu leihen. Er prüft jetzt dauernd Victor Hugo, Vigny, Musset . . .

– Das nennen Sie modern? Möhl sah mich an:

– Ach wissen Sie, was das ganz Moderne angeht, so 123 streike ich. Dieses ganze Zeug von Zola und Maupassant und wie die Brüder alle heißen – ach nee . . .

– Hinrichsen hat mir erst vorgestern gesagt, daß er jetzt diese Namen in seine Prüfungen einbeziehen will, da der Lektor Jacquemier Vorlesungen und Übungen über sie abhält.

Möhl kratzte sich im Nacken . . .

– Ei wei, das wird ja immer mulmiger . . .

– Haben Sie denn an Jacquemiers Übungen nicht teilgenommen?

– Nee. Belegt habe ich sie. Aber hingegangen bin ich nicht.

– Dann geschieht es Ihnen recht, wenn Sie sich jetzt abquälen müssen. Was man auf dem Präsentierteller gereicht bekommt, das nimmt man! Und außerdem! Was hätten Sie sonst noch bei Jacquemier gelernt, bei diesem reizenden und hochbegabten Menschen!

Möhl machte ein betroffenes Gesicht. Der Durchzieher auf seiner linken Backe leuchtete breit im Schein der Lampe, in den er gerade getreten war.

– Donnerwetter – sagte er plötzlich – haben Sie denn drei Zimmer?

– Durch einen reinen Zufall, Herr Möhl. Meine Wirtin hat meinem früheren Nachbar gekündigt und mir für ein lächerliches Geld, für nichts eigentlich, diesen leergewordenen Raum noch gegeben. Frau Malkomesius hat mir den Flügel und den Diwan geliehen, die sie in einem Möbellager untergestellt 124 hatte – und der Rest stammt von meinen Wirtsleuten.

– Mehr Glück wie Verstand, könnte man beinahe sagen, was?

– Unbedingt . . .

– Wollen Sie mir nicht einmal einen Walzer spielen?

– Ein andres Mal gerne. Jetzt nicht. Es wird zu spät. Ich will Ihnen hier den »Germinal« von Zola und den »Colporteur« von Maupassant geben: unter der Bedingung, daß Sie sie wirklich lesen und sich noch bei Jacquemier einfinden. Ich werde ihm sagen, Sie seien durch persönliche Dinge sehr in Anspruch genommen gewesen . . . Er versteht so was . . .

– Tatsächlich? Na ja, Lebemann! In puncto punctum oder punctorum, wie es heißt, immer verständig . . . Wissen Sie, Herr Kollege, wenn man sein Mädel schon hat und schnurstracks aufs Ziel lossteuert . . .

– Auf welches Ziel?

– Na, auf die Heirat!

– Aber, mein Lieber, wie alt sind Sie denn?

– Dreiundzwanzig. Im Sommer wird Examen gemacht. Im Herbst wird das praktische Jahr begonnen. Dienen muß ich nicht wegen dieser schönen Narbe hier an der Schläfe. Säbelhieb. Da darf kein Helm drauf . . . Dann kommt das Staatsexamen – und dann der Hafen . . . 125

– So werden Sie also mindestens drei Jahre verlobt sein?

– Na, warum nicht?

– Gewiß . . . warum schließlich nicht . . . Und wo ist denn Ihre zukünftige Braut jetzt?

– Hier ist sie augenblicklich, hier in Philippinenthal! Das ist doch gerade die Sache! Wenn man da dauernd Dienst hat, kommt anderes manchmal zu kurz . . .

– Natürlich . . . Und wo ist sie! Was macht sie hier?

– Kochen lernt sie. In der Großherzogin-Luise-Schule. Alle Mittag esse ich da mit anderen Kommilitonen. Eins A! Und wenn die Liebste kocht – Sie verstehen – dann schmeckt es doppelt so gut! Kommen Sie doch einmal mit . . . für siebzig Pfennige ein Freudenmahl! Alkohol gibt's auch. Geht natürlich extra.

– Da komme ich gern einmal mit . . .

– Feine Mädels, sage ich Ihnen. Da ist noch eine aus Grundhausen, Töchterchen des dortigen Forstrates: ich sage Ihnen: ein Flötenspiel! Glatt ein Flötenspiel . . . Und noch nicht besetzt . . . Mein Bundesbruder Menzinger hat mal einen Versuch gemacht – ist abgefahren wie ein D-Zug . . .

– Sagen Sie, lieber Möhl, wollen Sie nicht mit mir ins Schwimmbad kommen? Ich muß ins Wasser heute.

– Heiliger Kiesewetter – ein famoser Gedanke . . . 126 Kann meiner Muskulatur auch nichts schaden . . . Wir können ja von dort zusammen ins Romanische Seminar gehen . . .

– Ich gehe heute nicht ins Seminar. Ich habe mit Hinrichsen ausgemacht, daß er mich von einem regelmäßigen Besuch dispensiert. Was da in diesem Semester verhandelt wird, schlägt ja gar nicht in mein Fach . . . Ich bin heute abend bei Toggenburg eingeladen, wo ich Unckmann treffe. Das ist mir hundertmal wichtiger . . .

– Feine Marke, dieser Toggenburg . . . Wie kommen Sie zu dem Verkehr in seiner Familie?

– Durch meine Begeisterung für sein Buch: »Mittelbares und unmittelbares Gestalten« . . .

– Kenne ich nicht . . . Braucht man das für die Prüfung?

– Nein.

– Na also! Seine Vorlesung »Grundzüge der Psychologie« wird doch wohl genügen?

– Ich nehme an . . . Kommen Sie, ziehen wir los . . . Eine Zigarette? Bitte . . . Hier sind die Bücher . . .

– Hätte ich fast vergessen . . . Danke schön.

– Woher stammen Sie eigentlich? fragte ich im Gehen . . .

– Aus dem hessischen Hinterland. Mein Vater ist Lehrer in Laasphe, wenn Sie wissen, wo das liegt.

– Ja, ja, das weiß ich . . . Laasphe, Biedenkopf, Berleburg, Frankenberg . . . Herrliche Wälder . . . 127 Die Buchen im Mai und im Oktober . . . Wundervoll . . .

Möhl blieb auf der Schwelle stehen. Sein rundes Bubengesicht glühte auf, und er legte seinen Arm auf meine Schulter:

– Sie kennen mein Land? Sie kennen meine Heimat und lieben sie? Großartig! Dann müssen Sie mich besuchen in den Ferien . . . Dann müssen Sie mit mir wandern . . . Ich will Ihnen Schönheiten zeigen, daß Ihnen der Mund offen stehen bleibt . . . Und wie wird sich mein Vater freuen, mit jemand zu plaudern, der schon soviel von der Welt gesehen hat wie Sie! Meine Mutter ist eine einfache, echte Hausfrau, die Tochter eines Großbauern aus der Umgegend . . . Die wird's Ihnen gut machen bei uns im Haus. Es fehlt uns nichts – es ist mehr wie genug da – nur hergemacht wird nichts . . . Ich bin dort ein ganz andrer Kerl wie hier . . . Hier – Gott, das muß eben geschafft werden – aber dort . . . na, Sie werden ja sehen. Sie werden bestimmt kommen?

Ich nickte . . . Wir traten auf die Straße . . . Es wirbelte etwas Schnee in der Luft herum.

– Wissen Sie, Benrath, sagte Möhl, der seinen Arm in meinen gelegt hatte, ich muß Ihnen einmal etwas sagen: ich mag Sie wirklich gern. Diese zukünftigen Steißtrommler, die da mit uns im Seminar sitzen, haben ja keinen blassen Dunst davon, was für eine Art Mensch Sie sind . . . Ich, der die Gescheitheit 128 weiß Gott nicht mit Löffeln gefressen hat, ich spüre, was mit einem Mann los ist . . . Sehn Sie: die einen werden vielleicht gute Schulmeister, weil sie wirklich sehr viel wissen. Zu denen werde ich bestimmt niemals gehören. Aber ich werde dennoch ein guter Lehrer sein, weil ich meine Buben lieben werde und weil meine Buben mich lieben werden!

– Das glaube ich auch. Sagen Sie mir, Möhl, wie fühlen Sie sich eigentlich in Ihrem Bunde?

– Gut. Ich sehe an den Menschen lieber das, was mir gefällt, als das, was mir nicht gefällt. Es waren nette Kerle mit mir aktiv, auch recht kluge. Und dann ist mir der Bund sehr nützlich. Woher soll ich mir denn die paar Beziehungen schaffen, die der Mensch doch nun einmal braucht? Von Haus aus habe ich keine Verbindungen. Also: rein in den Bund. Und Sie müssen zugeben, daß die Gepidia sich sehen lassen kann. Der Erziehungsrummel und die Prinzipienreiterei, die da bei uns manchmal getrieben werden – Gott, wer sie braucht, soll sie loben. Wer sie nicht braucht, muß ja nicht gerade öffentlich auf sie schimpfen . . .

Ich blieb mitten auf der Straße stehen:

– Möhl, Sie sind ein anständiger Kerl! Wissen Sie, was ich aus jedem Ihrer Worte spüre? Die Erde, aus der Sie stammen . . . Und die Erde: das ist das Letzte, das Äußerste, das es gibt . . .

– Ja, die Erde, sagte Möhl . . . 129

Und dieses unentwickelte, gerade nur in die Ahnung seiner zukünftigen Form gerückte Gesicht mit den braunen, waldquellklaren Augen stand plötzlich in einem solchen Dufte inneren Wissens, daß ich mich bewegt fühlte. 130

 


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