Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Also, sagte Kallenbach, sich auf die Seitenlehne meines Sessels setzend und den Rauch aus seiner Zigarette blasend, beichten Sie! Überwinden Sie Ihre Niedergeschlagenheit, indem Sie sprechen . . .

– Ich bin nicht niedergeschlagen, da ich mir über Hinrichsens Haltung niemals Illusionen gemacht hatte. Hinrichsens Einwände gegen meine Fassung sind von seinem Standpunkte aus weder unrecht noch ungerecht. Vielleicht könnte man sich fragen, warum er mir nicht einfach den Vorschlag gemacht hat, die Arbeit in ihren Grundzügen so zu lassen wie sie ist, aber ihren Titel zu ändern. Man konnte doch einfach sagen: »Victor Hugo und seine dichterische Technik«. Dann war der Bezug gegeben – und meine Darstellung in Ordnung. Aber einen solchen Dreh findet er eben nicht. Da er von Psychologie so gut wie gar nichts weiß – und vor allem von der heutigen nichts – so würde er die Verantwortung für eine psychologisch aufgebaute Studie einfach nicht auf sich nehmen. Doch es ist da noch ein anderer sehr wichtiger Punkt: Es geht ihm immer gegen den Strich, irgendeinem Menschen etwas leicht zu machen . . .

– Und vollends Ihnen, Henry!

– Das glaube ich nicht. Hinrichsen ist im Grunde nicht kleinlich. Er ist erschreckend gehemmt. Und nicht mehr jung genug, um sich noch weltmännischer zu entfalten. Der einzige Weltmann an dieser Alma mater Kunibertiana ist Toggenburg . . . 201

– Sie irren! Auch Sellin! Der Nationalökonom.

– Ja.

– Woher, Henry, sollen Professoren Weltleute sein? Wenn ein Mensch seit seinem achtzehnten Jahre nur akademische Luft atmet, dann kann er sich nicht gut weltläufig entfalten, sofern ihn nicht besondere, eingeborene Neigungen lenken. Die paar Ferienreisen, welche diese Herren mit oder ohne Frau ins Ausland machen, erweitern ihr Wesen nicht mehr. Sie dürfen nichts Unmögliches verlangen!

– Das tue ich nicht . . . Ich denke nur: Es wäre schön, wenn der Typus Toggenburg häufiger wäre.

– Was werden Sie jetzt tun?

– Das, mein Guter, habe ich gerade überdacht, ehe Sie kamen . . . Ich brauche mich jedenfalls nicht mehr zu hetzen. Denn ein Promovieren vor Anfang des Wintersemesters ist ausgeschlossen.

– Verzeihen Sie eine Zwischenfrage: haben Sie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß Hinrichsen auch gegen die zweite Fassung Einwände erhebt?

– Natürlich. Ich habe deswegen sogar die Notwendigkeit einer abermaligen Umarbeitung in Rechnung gestellt, Hinrichsen aber schon in unserer ersten Unterredung keine Minute darüber im unklaren gelassen, daß – ohne force majeure – am 1. Dezember mit oder ohne Promotion meine Zeit hier abgelaufen ist . . . Es würde – das weiß ich – Hinrichsen peinlich sein, wenn ich abbräche. Denn einmal liegen 202 die Zeugnisse meiner Lehrer an der Sorbonne vor, und zweitens hat er sich in der Anerkennung meiner Leistung doch schon sehr festgelegt. Aber ich habe selbst diesen äußersten Fall vorgesehen – und den Gegenangriff in einer Art Rückversicherungsvertrag mit einem – Bundesgenossen vorbereitet . . .

Kallenbach zog die Brauen hoch. Er hatte verstanden . . .

– Keine schlechte Strategie . . . Wo haben Sie dieses kühle Disponieren gelernt?

– Es entspricht meiner Natur und wurde durch Amersfoort entwickelt.

– Ein Jammer, daß ich gerade verreist war, als dieser Mann Sie besuchte . . . Ich hätte ihn für mein Leben gern kennengelernt . . .

– Später, Manuel, später einmal . . .

– Wo wollen Sie eigentlich die Sommerferien verbringen, Henry? Sie werden doch nicht hier bleiben?

– Ich denke nicht daran. Ich gehe jedes Jahr von Mitte Juli bis Mitte September zu dem Bruder meines Vaters auf die Insel Man. Er hat ein Landhaus in Port Erin. Diese Aufenthalte in England sind wie die Aufenthalte in einem Sanatorium. Man kommt mit zehnfachen Kräften zurück. Man dehnt sich, reckt sich, spannt sich wie ein Tier in Luft und Wasser . . . Man würde verkommen, bliebe man zu lange . . . Aber das tut man ja nicht. ›Die Lampe der Heimkehr‹, wie 203 Amersfoort sagt, beginnt ganz von selbst zu leuchten . . . Im übrigen werde ich dieses Jahr viel zu arbeiten haben . . .

– Sind Sie sehr gerne dort?

– Sehr gerne . . . Wenn ich nur an die Allee von Fuchsiabäumen denke, die von der Gartenterrasse zu den Felsen über dem Meer führt . . . Blüten, so groß wie eine Hand. Weiße Porzellanglocken im Mond, die jede Minute anfangen könnten zu läuten. Ich werde dieses Jahr Manfred Bodenbach mitnehmen. Er soll Englisch lernen und ein Stück Welt sehen. Auch ist die Flora der Insel Man sehr eigenartig.

– Ist das ein feiner Junge! sagte Kallenbach in einem Ton, in dem ich ihn noch nie von einem Studenten hatte sprechen hören . . . Wollen wir nicht einmal mit ihm ausgehen? Oder wollen Sie ihn mitbringen zu meinen Eltern?

– Mit der größten Freude! Jedes Tor, das sich ihm öffnet, ist ihm von Wert . . . Dieser Junge ist gemacht für Menschen, geht gern unter Menschen und ist die Freude aller, die ihn kennen . . .

– Also gut: Samstag abend fahren Sie beide mit herüber. Übrigens wird an diesem Abend »Pelléas und Melisande« in der Oper gegeben. Das wollen wir uns doch nicht entgehen lassen!

– Haben Sie Tristan mit Pelléas vertauscht?

– Nein, mein Lieber . . . Aber verbunden . . .

– Manuel, sagte ich, wir haben so über alle Maßen 204 viel von meinen Angelegenheiten gesprochen – sprechen wir nun endlich von den Ihren. Ich sehe Sie so selten seit Weihnachten. Ich will sagen: ich sehe Sie nicht so, wie ich möchte . . . Und Sie haben so wenig gespielt . . .

– Henry. Sie werden mich jetzt wieder öfter sehen – obwohl ich Sie hier am 15. März verlassen werde . . .

– Was?

– Ja. Es ist, wie ich Ihnen sage. Und Sie wissen, daß es nicht anders sein kann, wenn ich es so beschließe. Sie wissen auch, daß mir dieser Entschluß sehr schwer gefallen ist, denn ich habe noch niemals in einer solchen Kameradschaft gelebt wie mit Ihnen.

– Aber was ist denn geschehen?

– Unendlich viel. Das Wichtigste, das geschehen kann. Wissen Sie es nicht? Haben Sie wirklich nichts gemerkt? – Henry: ich bin mir einig mit Kathinka von Langenbusch. Ich habe nicht geahnt, daß man so lieben, so geliebt werden und so glücklich sein kann . . .

Da ich schwieg, fuhr er leiser fort:

– Sehn Sie: hier, in dieser Straße, unter den Neugierblicken der Leute, die den ganzen Tag hinter den Fenstern liegen, zwei Schritte von dem Haus der Langenbuschs entfernt, hier, in dieser Wohnung, unter den Augen unserer Wirtin, können wir uns nicht sehen. Das setzt Kathinka zu viel Gefahren aus. Wochenlang habe ich nach einer anderen Wohnung gesucht – nichts zu finden. Nun wirft mir das 205 Schicksal sein Geschenk vor die Füße. Dr. Wallburg, der Dozent für römisches Recht, ein guter Bekannter meiner Familie, geht im Austausch auf neun Monate nach Amerika und bittet mich, seine Junggesellenwohnung an dem Ende des Marbacherweges zu übernehmen. Sehr weit von der Stadt – zugegeben. Aber: noch weiter wohnt Frau von Langenbuschs Schwester, die auch Ihnen bekannte Tante Maja von Ellnhausen, zu der Kathinka jede Woche mindestens zweimal hinpilgert . . . Was soll ich Ihnen noch mehr sagen? Ohne Gefahr geht gar nichts. Aber daß das Treffen da draußen, klug gedeichselt, fast gefahrlos ist, das müssen Sie zugeben.

– Lieber Manuel, sagte ich, aufstehend, ein jeder geht den Weg, den er gehen muß. Möge der Ihre so werden, wie Sie sich ihn wünschen.

– Er wird es, Henry. Ich wäre dieses Glückes nicht würdig, wenn ich nicht den Mut hätte, mich zu ihm zu bekennen.

Ich sah auf die Giebel der gegenüberliegenden Häuser, die in einer roten Abendsonne standen . . .

– Wann, sagten Sie, daß Sie uns verlassen wollen?

– Am 15. März . . . Was heißt verlassen, Henry? Da wir uns jeden Tag beim Essen sehen, können wir unser Zusammensein festlegen genau wie jetzt. Außerdem: da ist ein Diwan, auf dem ich übernachten kann, wenn es spät wird – und sind Sie einmal bei mir draußen, so habe ich da ein schönes Fremdenzimmer . . . 206

 


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