Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Professor Toggenburg hatte es sich nicht nehmen lassen, nach unserem Aufbruch Adrian Amersfoort bis vor das Hotel Bristol zu bringen. Es gingen noch mit uns Otto Elmenhain und sein Bundesbruder Manfred Bodenbach, die gegen halb elf bei »Hassel« erschienen waren, um einen Cocktail zu trinken. Toggenburg, dessen Schüler beide waren, hatte sie an unsren Tisch gebeten. Nachdem sich Adrian verabschiedet hatte, begleiteten wir Toggenburg in die Ahornallee.

Und dann standen wir zu dreien in der unwahrscheinlich lauen, schon nach gelöster Erde duftenden Nacht dieses 13. Februar.

– Nun werden wir dich nach Hause bringen, sagte Otto Elmenhain zu Manfred Bodenbach.

– Ich gehe noch nicht nach Hause.

– Was soll das heißen?

– Daß ich noch nicht nach Hause gehe . . . Aber wir werden dich heimtun, mein Lieber. Du gähnst die ganze Zeit, daß es nicht zum Ansehen ist . . .

Otto Elmenhain verzog den Mund und schwieg. Manfred lenkte gegen den Südwall zu.

– Was fällt dir eigentlich ein, so über mich zu verfügen? sagte plötzlich Otto.

– Verfügen? fragte Manfred erstaunt . . . Es ist doch sehr liebenswürdig von mir, wenn ich dich heimbringe . . . Wo wohnen Sie eigentlich? wandte er sich an mich . . .

– Schloßallee 8, parterre . . . 174

– Ach . . . wie merkwürdig . . . Ich wohne Schloßallee 18, über dem schönen Blumengeschäft . . .

– Wir werden Henry nach Hause begleiten, sagte Otto.

– Ich gehe noch nicht nach Hause.

Manfred lachte. Otto verzog abermals den Mund. Die Szene fing an, lächerlich zu werden . . .

– Also ich werde mich verabschieden, sagte ich zu Manfred, und Sie werden Ihren Bundesbruder noch bis an sein Tor bringen.

Ich gab ihm die Hand. Seine stahlblauen Augen sagten:

– Ich kann nichts für solchen Eigensinn!

– Gute Nacht . . . Auf Wiedersehen! – –

In meinem Wohnzimmer war es zu warm. Ich öffnete das eine Fenster. Eine blaue Hyazinthe goß ihren Duft gegen die einströmende Milde der Nacht. Auf dem Tisch lagen Briefe. Ich öffnete sie nicht. Ich saß auf der Kante des Schreibtisches und schaute in die dunkelgrau-gefüllte Stille, durch die ich mein Atmen hörte.

Dann sah ich auf die Uhr: es mußte in jeder Minute zwölf schlagen. Ich fröstelte ein wenig in den Schultern. Aber ich schloß das Fenster nicht . . . Die Stille hatte sich geändert. Es war ein ganz entferntes Taktschlagen in ihr, ein Schreiten, das näher und näher kam . . . Wo? Auf dieser Seite des Fußsteiges? Auf der anderen? 175

Plötzlich stand über den Lanzenspitzen des Gartengitters, nur vom ungewissen Schein meiner Lampe erleuchtet, das blonde, lächelnde Gesicht Manfreds. Gleich darauf fragte seine glockenhelle Stimme:

– Gehn wir noch etwas in dieser wundervollen Nacht?

– Ja!

– Dachten Sie, daß ich zurückkommen würde?

– Ich hoffte es . . .

– Ich hoffte, daß Sie warten würden . . .

– Wirklich?

– Ja – –

– Wo wollen wir hingehn?

– Gehn wir den Hainweg hinauf . . .

Ein Haselstrauch schlug uns ins Gesicht und schwankte gegen die Mauer zurück . . .

– Es ist ein Geruch von Schneeglocken in der Luft, sagte Manfred, stehen bleibend. Schneeglocken haben diesen Duft wie Quellwasser . . .

Wir schwiegen lange.

– Haben Sie Otto nach Hause gebracht? fragte ich.

– Warum fangen Sie davon an?

– Weil ich endlich einmal das notwendigste aller Gespräche führen möchte.

– Ja, ich habe ihn bis an seine Tür gebracht. In dem, was ich nun tue, belüge ich ihn. Er verlangte, daß ich ihm verspreche, sofort nach Hause zu gehen . . .

– Sind Sie nicht fast bis nach Hause gegangen?

– Vielleicht – – 176

– Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Kommen Sie mit in meine Wohnung. Ich muß mit Ihnen in der Abgeschiedenheit eines Zimmers sprechen. In einer beruhigten Ruhe. Dieses Dunkel ist zu unruhig. Es unterbindet die Gedanken . . .

– Was wollen Sie zu trinken haben? fragte ich, als wir in mein Wohnzimmer traten.

– Sie sollen einen guten arabischen Kaffee machen können . . . Ich hätte große Lust darauf . . .

– Den werden Sie sogleich bekommen . . . Eine Zigarre? Eine Zigarette?

– Danke, ich rauche nicht . . . Ich glaube, ich würde überhaupt nicht mehr ausgehn, wenn ich eine solche Wohnung hätte . . .

– Das meint man, erwiderte ich . . . aber man muß hinaus . . . War man draußen, kehrt man mit umso größerer Sehnsucht zurück. Es ist mit solchen Wohnungen wie mit den großen Neigungen unseres Herzens. Sie dürfen nicht zu Gefängnissen werden.

Manfred schaute mich an.

– Ich bin benommen, sagte er. Es ist eine andre Welt, in die ich hier eingetreten bin. Ich werde das Staunen nicht los, daß ich wirklich hier bei Ihnen sitze . . .

– Ich finde es selbstverständlich – und ich wundere mich nur, daß es nicht längst geschah . . .

– Ja . . . es hätte geschehen können, wenn Sie mehr – wie soll ich sagen? wenn Sie . . . 177

– Ich wollte nichts zwingen. Auch wollte ich Ihrer unbedingten Bereitwilligkeit sicher sein.

– Das waren Sie doch . . .

– Nein. Jedenfalls nicht in dem Maße, das für mich Voraussetzung ist . . .

– Gehen Sie immer mit so viel Vorsicht zu Werk?

– So jung ich auch noch bin: ich habe schon viel Lehrgeld bezahlen müssen.

– Ich habe wenig erlebt, sagte Manfred, und nur sehr einfache Dinge, eigentlich selbstverständliche Dinge.

– Wann haben Sie angefangen zu studieren?

– Vor vier Jahren, hier in Philippinenthal. Mein Vetter Konrad Löhn war damals Erster Chargierter der Burschenschaft Gepidia. Er veranlaßte mich, einzutreten. Auch meine Eltern wünschten es, da sie sich um mich ängstigten. Ich sollte nicht allein in einer größeren Stadt sein . . .

– Wollten Sie das?

– Ja. Ich wollte in München studieren . . . Ich hatte mir das sehr schön gedacht . . .

– Seltsam, seltsam . . . Immer wieder das gleiche: soviele junge Menschen gleiten in diese Bünde, ohne zu wissen, wie. Und sind sie einmal darin, dann kommen sie nicht mehr los.

– Daher das Wort »Füchse keilen« . . .

– Stimmt . . . Ich habe vor einiger Zeit einen sehr klugen Corpsstudenten gefragt, warum er seinem Corps 178 beigetreten sei: er hatte den Mut zu sagen: ›weil es mir Vorteile bringt‹. Aber zwanzig andere, denen ich die gleiche Frage stellte, haben ihre Antwort mit einem Achselzucken begonnen: ›Gott, warum sollte ich nicht dabei sein?‹ . . . Es scheint mir, daß dies die geläufigste Art der Beweisführung ist . . .

– Ich habe viele ehrlich Begeisterte gesehen, wenigstens bei uns, und mit manchem Zank wegen meiner kühlen Haltung gehabt. Aber man kann ja nichts zu seiner Natur . . .

– Manfred! lachte ich . . . Sie und kühl? Blank sind Sie! Aber doch nicht kühl!

– Alle meine Bundesbrüder halten mich für fast beleidigend kühl. Sie werden nicht klug aus mir . . .

– Und Sie selbst?

– Ich glaube, daß ich mich ziemlich gut kenne. Jedenfalls denke ich viel über mich nach . . . Ich weiß, daß ich viel weiter sein könnte, wenn sich jemand meiner so angenommen hätte, wie ich es mir wünschte, nicht er es sich . . .

– Ah . . . sagte ich. Wir sind auf dem Punkt, dem ich zusteuerte . . . Also – glatt heraus gefragt – diese Freundschaft mit Otto Elmenhain? . . .

– . . . geht ganz und gar nicht und wird in aller Kürze von mir gekündigt werden. Sie haben ja den Auftritt von heute abend erlebt! Ich habe mich fast geschämt vor Ihnen – und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte dieses Schamgefühl mich verhindert, 179 zu Ihnen zurückzukommen . . . Freundschaft ist doch nicht Bevormundung!

– Nein. Das ist sie weiß Gott nicht . . . Sie ist genau das Gegenteil: wechselseitiges Dienen. Achtung vor dem Ich des Anderen . . . Sagen Sie, Manfred, wie lange ist das eigentlich schon her, daß wir beide uns bei Ottos Eltern kennenlernten?

– Acht Wochen . . . Wir haben uns immer nur in diesem Hause gesehen oder in der Gesellschaft von Dritten – –

Manfred ging im Zimmer auf und ab, blieb vor der dunkelblauen Hyazinthe stehen, hob sie gegen sein Gesicht und stellte sie auf den Untersatz zurück.

– Was will eigentlich Otto Elmenhain mit Ihnen? fragte ich.

– Ja – wenn ich das selbst einmal ganz genau wüßte! Er sagt, er will mich erziehen, mich formen, mich zu dem Vorbild des ritterlichen, des heroischen deutschen Menschen machen, dem ich, wie er meint, äußerlich, aber nicht innerlich entspreche.

– Wie deutet er den Begriff heroisch?

– Er sagt das Heroische ist Sache des Blutes.

– Zugegeben. Aber das sind doch wohl alle Regungen unserer Natur, solange wir annehmen, daß wir vom Blut leben.

– Er spricht gerne von der »Stunde«, für die man sich bereit halten müsse.

– Für welche Stunde? 180

– Für die Stunde, in der das »Entscheidende« an uns herantreten werde, das den ganzen Einsatz unseres Lebens verlange . . .

– Wer wahrhaft lebt, lebt immer mit dem vollen Einsatz seines Lebens . . . Welches Entscheidende meint er denn?

– Er hat es nicht gesagt.

– Das ist bedauerlich. Er hat Naturwissenschaft studiert und gilt als ein hervorragender Physiker. Haben Sie ihn nicht einmal gefragt, welchen Platz er in seiner Weltanschauung einem Archimedes, einem Galilei, einem Kepler, einem Newton, einem Laplace, einem Helmholtz einräumt? Haben Sie ihn nicht gefragt, ob er von dem Heldentum der stummen Pflichterfüllung etwas weiß, von dem Heldentum aller selbstlosen geistigen Werkerfüllung? Haben Sie ihm nicht gesagt, daß wir Deutsche allen Weltkräften verpflichtet sind, welche unser Dasein durchweben?

– Nein. Ich habe mich auf fruchtlose Debatten nicht eingelassen. Ich habe geschwiegen. Wenn mir die Geduld reißt, werde ich einfach aus der Gepidia austreten . . . Dann ist eben Schluß!

– Das werden Sie nicht tun, Manfred! Was hat Ihnen die Gepidia getan?

– Sie ist der Boden, auf dem Ottos Erziehungsfanatismus gedeiht . . .

– Nein. Das ist sie ganz und gar nicht! Der Boden, auf dem Ottos Fanatismus gedeiht, ist sein Mangel 181 an Menschenkenntnis . . . Ich mag mit Ihnen darüber heute noch nicht sprechen. Denn ein solches Gespräch würde an Grenzen unseres Bewußtseins rühren, an denen viele Traurigkeiten lagern.

Manfred stellte seine Tasse auf den Tisch zurück und sah mich lange an . . .

– Ich weiß nicht, was Sie meinen . . .

– Sprechen wir nicht davon, Manfred . . .

– Warum weichen Sie mir aus?

– Ich tue doch genau das Gegenteil . . .

– Ah – ich fange an zu verstehen . . . Sie meinen, der Fall Otto Elmenhain sei eigentlich erledigt?

– Ein Mensch, lieber Manfred, erledigt sich niemals in einem Gespräch . . . Wir beide aber haben heute noch von Dingen zu reden, die mit Otto Elmenhain kaum etwas zu tun haben. Ich mußte den Umweg über ihn nehmen, um zu wissen, wo Sie selbst stehen und ob Sie irgendwo stehen.

Wir gingen in das Musikzimmer hinüber. Manfred setzte sich auf den Stuhl vor dem Flügel, ich lehnte am Fensterbrett . . .

– Sie stehen da, Manfred, sagte ich nach langem Schweigen, wo Ihre Herkunft Sie hinweist: auf dem Stück Erde, das Ihre Heimat ist. Es kann ein Mensch nicht mehr das Kind seiner Erde sein, als Sie das Kind der rheinhessischen. Sie sind unberührt und unverfälscht – die Dinge sind an Ihnen abgeglitten wie ein Regenguß an der Glasscheibe. Sie stehen da, wo die 182 Seele abwehrt, aber noch nicht da, wo sie schenkend über sich verfügt!

Manfred war aufgestanden. Ich sah ihn an, still, wie man das Schöne ansieht. Dieses Schöne vor mir war Deutschland, das innerlichste, unvergänglichste Deutschland aller Gaue und Gezeiten. Dieses Schöne vor mir war die Klarheit und der Traum zugleich, das Schlichte, Selbstverständliche, vor dem sich, solange Welten gehn, die Stirnen in Verehrung geneigt haben. Es war das Maß, das Höhe und Tiefe bindet, Außen und Innen: die Erscheinung, die sich zum Bildnis erhebt und als Bildnis weiterwirkt. Dieses Schöne vor mir war ein deutscher Mensch, der mich in meinem ganzen Wesen ergriffen, nicht nur bewegt hatte. – –

– Sechs Wochen lang, sagte ich, sind wir aneinander vorbeigegangen, haben uns gegrüßt, uns betrachtet und wieder voneinander entfernt. Sechs Wochen lang haben wir im stillen schon ein wenig miteinander gelebt wie Freunde miteinander leben: verhalten und mild, nicht fordernd und drängend. Wir wußten, daß unsere Stunde kommen würde. Nun ist sie gekommen. Es ist an uns, ihr Genüge zu tun. Mein Vorleben, das ich Ihnen noch zu sagen habe, hat es mit sich gebracht, daß die frühen Jahre meiner Entfaltung nicht auf deutschem Boden abliefen. Nun wissen Sie, was mir durch Sie geschehen ist: das Wichtigste an der Wende, wo der Mann beginnt. Immer sind die Länder 183 durch ihre Sendboten in mich eingegangen, nun das eigne Vaterland im angespanntesten Augenblick . . .

Keine Miene bewegte sich in dem ruhenden Gesicht vor mir. Groß, in blauem Glanze, lagen die Augen unter der Achse der Brauen. Dann aber kam jenes Lächeln, jenes nie zu beschreibende, nie zu nennende Lächeln, das freudige Bereitwilligkeit und stumme Bestätigung zugleich ist – – und dann die dunkelnde Stimme (war es noch die Stimme des Knaben, oder war es der erste Anruf dessen, der den Weg freigegeben hatte?):

– Seien wir Freunde . . .


Wir hatten, da Kallenbach nach Hause gekommen war, die Tür des Mittelzimmers geschlossen und uns wieder in mein Wohnzimmer gesetzt.

– Siehst du, sagte ich, es vollzieht sich immer das gleiche in den deutschen Menschen: beginnt ihr bewußtes Erleben am Umkreis, so zielt es nach dem Kern. Beginnt es im Kern, so drängt es an den Umkreis. Nur die Oberflächlichen oder die Bequemen begnügen sich mit dieser oder mit jener Zone. Den Deutschen, auf den es ankommt, abschließen, heißt ihn vernichten. Diesem Deutschen aber die Weite öffnen, heißt ihn zu großer Fruchtbarkeit treiben. Art ist Art: durch Anlage bedingt, durch Geschichte entfaltet. Was jenem tödlich wäre, ist diesem Vorbedingung des Seins. Mißtraue, ehe du glaubst! Sieh zu, sieh sehr genau zu, 184 lerne unendlich viel – und urteile sehr wenig! Ich meine: sprich nicht gefühlsmäßige Urteile allzuleicht aus.

– Was mich an Otto Elmenhain so sehr gereizt und gegen ihn aufgebracht hat, ist seine Herrschsucht. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Wenn er sich nur ein einziges Mal ernsthaft bemüht hätte, meine Natur, so wie sie nun einmal ist, zur Grundlage seiner Erziehungsversuche zu machen! Niemals hat er daran gedacht, den Grund zu untersuchen, auf dem er bauen wollte . . . Meine Vorfahren waren, so weit uns die Stammbäume Auskunft geben, Wein- und Kornbauern. Meine Eltern sind das gleiche. Immer haben wir in derselben Ecke gesessen zwischen Rhein und Nahe. Ich bin aufgewachsen zwischen Weinbergen, Getreidefeldern und Wiesen. Diese drei Dinge haben mich geformt. Ich habe mit den Sinnen und den Fingerspitzen leben gelernt, aber nicht mit dem Kopfe. Ich weiß, daß ich nicht dumm bin. Aber ich weiß auch, daß meine geistigen Fähigkeiten begrenzt sind. Was studiere ich? Pflanzen-, Tier- und Erdkunde. Das entspricht mir. Das erfüllt mich. Das ist der Erde nahe, der ich nahe bin. Ich bin ein süddeutscher Mensch. So wie du ein westdeutscher bist. Wir wissen, daß Ruhe notwendiger Ergänzungswert der Bewegung ist, wenn Fruchtbares werden soll . . . Wir wollen nicht ewig die Aufgepeitschten sein . . . Wozu? 185

– Manfred, rief ich, Manfred: woher kommen dir diese Dinge? Woher die Gabe, sie so klar zu umschreiben?

– Vom Tisch, an dem mein Vater spricht . . . Und aus meinem eignen Gefühl. Du wirst meinen Vater eines Tages kennenlernen. Du wirst ihn lieben!

– Warum hast du studiert?

– Ich sagte dir ja: weil mir, was ich studiere, große Freude macht . . . Schon als kleines Kind habe ich mit einer unendlichen Scheu die Blumen betrachtet. Fast ängstlich, als ob ich ein Verbrechen an ihnen beginge, habe ich sie auseinandergenommen und dem Wunder ihres Lebens nachgespürt. Henry: ich bin einer von den Menschen, die immer erstaunt sind. Was ich wahrnehme und erlebe, scheint mir wunderbar. Ich frage mich oft, woher die Menschen so viel Anmaßung des Urteils nehmen, anstatt zu staunen und sich zu bemühen. Ich frage mich das besonders oft bei – Akademikern. Glaube ja nicht, daß ich mich in dieser Luft jemals wirklich zu Hause gefühlt habe . . . Ich weiß nicht, was der sogenannte »akademische« Mensch ist. Die Leute, die ich kenne, waren entweder Menschen: und dann war es belanglos, ob sie »akademisch« waren oder nicht – oder sie hatten den akademischen Spleen – und dann war ihr Mensch meistens beträchtlich zu kurz gekommen. So, glaube ich, ist es auch mit Otto Elmenhain . . .

– Nein. Du siehst ihn falsch. Die Zusammenhänge 186 sind anders. Du siehst Ursache und Wirkung nicht richtig. Otto Elmenhain ist der liebeärmste und dabei liebebedürftigste Mensch, den du dir denken kannst. Da er weiß, daß er ohne jeden Reiz ist, glaubt er überhaupt nicht, daß er irgend einen Erfolg bei Menschen haben könne. So war er schon als Schuljunge, so ist er noch heute. Warum quält er dich so sehr? Weil es gar nicht gibt, was er sich wünscht . . .

– Wie meinst du das?

– Das vorhandene, das »seiende« Bild – im vorliegenden Falle also du – ist ihm in Wirklichkeit niemals wahrhaft nahe und ergreifbar gewesen. Deshalb versucht er nach einem Wunschbild, das als dauernde »Forderung« in ihm ruht, den Gegenstand seiner Bevorzugung zu »vervollkommnen« und ihn sich durch eine solche Schein-Angleichung wenigstens imaginär näherzubringen.

So und nicht anders liegt der Fall Otto Elmenhain. So und nicht anders erklärt sich auch das wochenlange krankhafte Bemühen, dich von mir fernzuhalten . . . So die groteske Szene von heute abend.

– Grauenvoll. Aber was ist da zu tun?

– Nichts. Ganz langsamer Abbau – bis zu dem Augenblick, wo ein erträglicher Grad des Miteinanderseins erreicht ist. Keine Brüskierung, solange er selbst nicht brüskiert, selbstredend kein Austritt aus der Gepidia – aber klare Behauptung des eignen Standpunkts, wenn auch in verbindlichster Form. 187 Verschweigen unserer Begegnung von heute abend, damit man dich nicht des Wortbruches zeihen kann, – aber gelegentlicher Bericht über unsere selbstverständliche Freundschaft in einigen Tagen . . . Im übrigen darf ich dir sagen, daß du die ganze Angelegenheit nicht allzu tragisch nehmen mußt. Solche in Vervollkommnungssucht umschlagenden, erzieherischen Bemühungen wechseln leicht ihren Gegenstand, wenn sie an dem toten Punkt angekommen sind.

– Gebe Gott, daß du recht hast. Diese Versuche mit mir gehn nun schon zwei Jahre . . .

– Nicht ganz ohne deine Schuld. Du warst zu nachgiebig, weil du Ottos viele ausgezeichneten Eigenschaften zu stark in die Waagschale warfst.

– Das ist es . . . Und ich sage dir: ich bin froh, ihm nicht noch weher getan zu haben, als es manchmal sein mußte . . . Warum schüttelst du den Kopf?

– Ach – ich mußte unwillkürlich an meine Freundschaft mit Adrian Amersfoort denken . . . Wo wäre wohl noch heute mein Leben ohne die Schulung durch diesen Menschen?

– Auch wir beide säßen dann vielleicht nicht hier, sagte Manfred . . .

– Vielleicht? Bestimmt nicht . . .

– So laufen die Verkettungen . . .

– Ja, Manfred –

– Ich möchte Adrian Amersfoort noch einmal sehen . . . 188

– Nichts leichter als dies! Iß morgen mit uns zu Mittag. Adrian reist um fünf Uhr wieder zurück. Er wird sich freuen, wenn du kommst und dich bestimmt zu sich einladen.

Manfred lächelte ungläubig . . .

– Mich einladen?

– Ich möchte fast wetten . . .

– Aber warum denn?

– Weil du den menschlichen Stoff verkörperst, auf den es ihm ankommt. Oder glaubst du, er sieht weniger als ich das Wesen eines Menschen? Er sieht es noch dreimal so klar. Und wir pflegen, ohne uns gegenseitig zu beeinflussen, meistens zu den gleichen Bejahungen zu kommen. Schade, daß ein solcher Mann sich nicht einmal mit Otto über das Gesetz der Freiwilligkeit in menschlichen Beziehungen unterhalten konnte . . . über Spiel und Gegenspiel – über die Gleichordnung der Partner: ohne Rücksicht auf das Alter. Und auch über die Erziehung zu dem, was man einen »Herren« nennt!

– Es hätte keinen Sinn, Henry . . . Otto will nicht hören. Was haben ihm schon Bundesbrüder gesagt! . . . Hat es nicht geklopft?

Ich horchte . . . Es klopfte leise an die Schlafzimmertür. Manfred sah mich an.

– Herein! rief ich.

Kallenbach kam.

– Ich bitte Sie tausendmal um Entschuldigung, Henry. Da ich Licht im Türspalt des Wohnzimmers 189 sah, wagte ich, noch so spät zu kommen . . . Können Sie mir etwas Kaffee geben? Der meine ist mir ausgegangen, und ich muß noch lange arbeiten . . .

– Kommen Sie doch herein . . .

– Ah – welche Überraschung! Guten Tag, Herr Bodenbach! Wir haben uns lange nicht gesehen bei Mutter Bernus . . . Wie geht es Ihnen – und wie geht es dort?

– Danke, Herr Kallenbach, mir geht es gut – und dort auch . . . Und von Ihnen darf man wohl das gleiche annehmen? . . .

– Jawohl, sagte Kallenbach. Mir geht es ausgezeichnet . . .

– Das sieht man Ihnen am Gesicht an.

– Auch das Ihre scheint einen recht günstigen Barometerstand anzuzeigen . . .

– Wer ist denn die geheimnisvolle Mutter Bernus, von der ihr sprecht?

– Was, sagte Kallenbach. Sie kennen nicht die entzückende alte Mutter Bernus? Die Pergamentgräfin, wie sie Rastenburg nennt, weil sie eine Haut hat wie aus Pergament und der Philippinenthaler Boheme die Manieren der großen Welt beibringt?

– Nein, Manuel, ich kenne sie nicht. Sie hätten mich längst einmal mit zu ihr nehmen können – aber auf Sie ist ja augenblicklich kein Verlaß . . .

– Seien Sie milde, Henry, bitte, seien Sie sehr milde . . . 190

– Das bin ich doch immer, mein Lieber, wenn man mir nur erlaubt, es zu sein.

– Was macht Fanny? wandte sich Kallenbach wieder an Manfred.

Manfred errötete.

– Sie arbeitet Tag und Nacht an ihrer neuen Rolle . . .

– Was soll sie denn spielen?

– Die Desdemona . . .

– Ach so, Fanny Traub, die Heroine des Stadttheaters . . .

– Kennen Sie Fanny auch nicht?

– Nein . . .

– Na – desto besser kennt sie Bodenbach.

– Also muß sie wohl eine sehr nette Frau sein . . .

– Das kann man wohl behaupten, sagte Manfred, aber ich merkte, daß ihm das Gespräch unangenehm war . . .

– Wer sind diese Zöglinge der Mutter Bernus? lenkte ich ab . . .

– Also außer Fanny Traub, welche aber schon in den Rang einer Oberhofmeisterin aufgerückt ist, das gesamte Theater, an allererster Stelle Herr Hubertus Heuschler, der jugendliche Liebhaber und Held . . . Ich würde ihm den Titel eines Zeremonienmeisters geben . . .

– Etwas unvorsichtig, lieber Manuel. Seine mangelhafte Beherrschung der Form könnte bei empfindsamen Menschen Verstimmungen hervorrufen . . . Ich 191 habe mich einmal kostbar über diesen Schaumschläger amüsiert, als er mir eine Unterrichtsstunde über den Vortrag lyrischer Gedichte gab . . . Dehmel: »Zwei Menschen«, Liliencron: »Poggfred« – es war zum Kugeln . . . Das Schönste aber war der Schluß. Er kniff die Augen zu, klemmte die Zigarre zwischen Zeige- und Mittelfinger, steckte sie mit einer weitausholenden Geste des Armes in den Mund und quetschte durch die Zahnreihen die Worte heraus: ›Laust mich der Affe, Herr Benrath, oder haben Sie sich nicht auch in der Philippinenthaler Zeitung mal schriftstellerisch versucht?‹

– Schön, sagte Kallenbach. Merken Sie sich das. Für Ihre Erinnerungen an Philippinenthal.

– Soll geschehen . . . Also wer ist sonst noch bei Mutter Bernus?

– Einige junge Menschen literarischen Gepräges. Ein paar Studentinnen. Alle Outsider der Philippinenthaler Gesellschaft und – als kostbarstes Requisit – der Privatgelehrte Alboin. Ein spindeldürrer, unappetitlicher Junggeselle, der von Zeit zu Zeit Mazdaznan-Kuren gegen seine Frostbeulen macht und ein Buch über Naturheilkunde vertreibt. Er hat eine besondere Kopf-Massagekunst gefunden, die er gerne praktisch vorführt. Diese Vorführungen sollen nicht eines gewissen Reizes entbehren. Ich weiß nicht, ob Mutter Bernus ihn durchschaut. Ich glaube es, denn sie ist eine verdammt gescheite Frau. Ich denke, sie ist 192 nur darauf bedacht, ihn ihrem Panoptikum zu erhalten. Wenn man ihm sehr guten Rheinwein zu trinken gibt, wird er hemmungslos.

– Mutter Bernus muß ich kennenlernen, sagte ich. Es scheint mir, sie ist die ungekrönte Königin von Philippinenthal . . .

– Sie weiß alles – kennt jedermann – und hat hundert Fäden in der Hand, an denen sie ziehen kann. Sie geht kaum in Gesellschaft, aber jeder war einmal bei ihr. Sie ist vermögend und großzügig . . . Nächste Woche, Henry, nehme ich Sie mit . . .

Kallenbach wollte sich eben zum Gehen anschicken, als von der Straße her fast zornig der Pfiff der Gepidia ertönte.

Manfred fuhr zusammen:

– Das ist Totila, sagte er.

In einer Sekunde hatte ich begriffen, was zu tun sei.

– Kallenbach› sagte ich, führen Sie Manfred durch das Musikzimmer in den Vorplatz, und von da in Ihr Zimmer, sofern dessen Vorhänge geschlossen sind . . .

– Es ist alles zu.

– Gut. Bei mir ebenfalls. – Aufklärung kommt später.

Manfred wollte sich widersetzen.

– Bitte tue, was ich dir sage. Es dreht sich um mich. Ich wußte, daß diese letzte Bemerkung seinen Widerstand brechen würde.

– Nimm Hut und Mantel vom Vorplatz fort . . . 193

Die beiden waren eben gegangen, als heftig mit einer Stockkrücke gegen das Fenster meines Schlafzimmers geklopft wurde, das auf eine Seitengasse mündete.

– Was ist denn da los, rief ich unwillig.

– Mach bitte auf, sagte außen die fast heisere Stimme Otto Elmenhains.

Ich öffnete.

– Bist du taub? Ich pfeife wie verrückt vor deinem Wohnzimmer . . .

– Ich höre nicht auf Gepidenpfiffe. Was willst du denn noch so spät?

– Ist Manfred bei dir?

– Nein.

– Du lügst.

– Bitte! Gib deine Hand. In einem Satz bist du innen . . .

– Ich komme durch die Tür.

– Wie du willst. Aber ich bin zu keiner langen Sitzung mehr bereit . . . Das möchte ich dir sogleich sagen . . .

– Hier stehen zwei Mokkatassen, sagte Otto, als er ins Musikzimmer trat.

– Und wenn schon? . . .

Ich sah ihn an. Sehr lange . . . Er senkte den Kopf wie ein Raubtier, wenn es einen Blick nicht aushält.

– Ich denke, dich hat Manfred nach Hause gebracht? Was irrst du denn jetzt, zwei Stunden, 194 nachdem wir uns getrennt haben, noch in den Straßen umher?

Otto verzerrte den Mund.

– Weil ich wissen will, ob das Aas mich belügt. Das Aas belügt mich schon seit Monaten. In seiner Wohnung ist er nicht. Auf der Kneipe war er auch nicht mehr.

– Er hat doch gesagt, daß er noch nicht nach Hause geht . . .

– Und mir später das Gegenteil versprochen . . .

– Bist du sein Vormund?

– Nein, aber sein Bundesbruder . . .

– Ich weiß nicht, wie weit die Befugnisse eines Bundesbruders gehen – jedenfalls scheinst du die deinen zu überschreiten.

– Halte deinen Schnabel. Davon verstehst du nichts.

– Ich mache dich darauf aufmerksam, daß du in meiner Wohnung sprichst.

– Verzeih. Ich werde nach Hause gehn . . . Ob er doch vielleicht bei Fanny ist, murmelte er in sich hinein . . . Nochmals: verzeih die Störung, Henry. Mögest du nie in der gleichen Lage sein wie ich . . . Gute Nacht . . .

– Gute Nacht, Otto. Ich glaube, daß du dir mit etwas mehr Selbstbeherrschung solche Dinge ersparen könntest.

– Darf ich dich bitten, über das Vorkommnis zu schweigen, falls dir Manfred begegnen sollte? 195

– Das versteht sich wohl von selbst . . .

Wieder der verzerrte Mund, ein Händedruck – und ich konnte den Schlüssel in der Haustür umdrehen . . . Ich hörte deutlich, wie die Schritte sich in der Richtung des Südwalles entfernten . . .

Ich ging zu Kallenbach.

Manfred saß in einem Lehnsessel und hörte einen Text, den Manuel ihm vorlas . . . Er war so beherrscht, wie ich es nie erwartet hätte . . .

– Was haben Sie da gelesen?

– Ich habe Ihrem Freunde etwas von George gelesen, das wundervolle Gedicht an Leo XIII.

– Ich kannte George nicht, sagte Manfred . . .

– Freue dich im voraus über die Freude, die du haben wirst, ihn zu kennen . . .

– Du wirst mir helfen müssen, ihn zu verstehen . . .

– Wir haben viel Zeit vor uns . . . Wir werden Sie jetzt verlassen, Manuel. Sie wollen noch arbeiten. Wie lange glauben Sie, daß Sie noch wach bleiben?

– Ich weiß es nicht genau. Bis drei Uhr mindestens.

– Ich komme vielleicht später noch ein paar Minuten, sofern es Ihnen recht ist.

– Ich bin zu Ihrer Verfügung . . .

Als wir wieder in meinem Wohnzimmer waren, wollte Manfred ausbrechen . . . Ich hielt ihm die Hand vor den Mund. Er schob sie beiseite und rief:

– Aber ich muß doch wenigstens wissen, wie alles abgelaufen ist . . . 196

– Nichts ist abgelaufen. Es ist überhaupt nichts gewesen.

– Ich habe mich unerhört feige benommen. Ich hätte es auf den Krach ankommen lassen sollen . . .

– Du bist ein großes Kind. Es ist ein wahres Glück, daß du dich meinem Willen gefügt hast. Ich gebe immer der Klugheit den Vorrang. Kampf um des Kampfes willen ist Unfug. Das gute Ende in dieser unerquicklichen Sache wird ganz anders kommen, als du denkst. Ich erwarte jetzt von dir nur eines: Beherrschung und Befolgen der gleichen Taktik, die ich einschlage. Freundlichkeiten, aber keinerlei Zugeständnisse mehr. Du hast den Schutzwall deiner Examensarbeit. Von dem, was wir heute abend mit Otto erlebt haben, keine Silbe mehr. Ich werde nur Kallenbach –

– . . . ist nicht mehr nötig, Henry. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt. Wenn einer schweigen kann, so dieser . . .

– Ich freue mich, daß du ihn richtig einschätzest . . .

– Hat Otto etwas darüber gesagt, wo er mich vermutet?

– Ja. Bei Fanny Traub . . .

– Hoffentlich ist er nicht hingegangen . . .

– Das ist wohl kaum anzunehmen . . . Bist du oft bei ihr?

– Aber woher denn? Henry; diese Dinge spielen bei mir noch keine so große Rolle . . . Fanny ist eine 197 wunderschöne Frau, eine sehr mittelmäßige Künstlerin, aber, vor allem, ein tapferer und vornehmer Mensch. Sie hat eine Schwäche für mich.

– Und du?

– Soll ich sie verletzen? Rastenburg, den ich sehr gerne mag, hat einmal in seiner drastischen Art zu mir gesagt: ›Es gibt drei Fälle in puncto amoris: a) ganz große Liebe. Schicksal. Gefühl ist alles. Geschlecht also nur Symbol. c) Gegenpol: Regelung der Gesamtheit, die menschliches Gleichgewicht heißt, durch das Nur-Geschlechtliche. In der Mitte der unbestimmbare Mischling b): es muß nicht sein – aber es ist doch ganz schön: also warum nicht? Pourquoi pas?‹ Das ist der Fall Fanny und Manfred. Vielleicht schon nicht mehr . . . Ach – es ist lange her, daß ich nicht bei ihr war . . . Ich glaube auch, daß sie kein Verlangen mehr nach mir hat. Ich nehme an, ich bin ihr zu langweilig. Bin ich ja wohl auch in diesen Dingen . . .

– Du bist bezaubernd, Manfred, wenn du dich selbst aufs Korn nimmst. Möglich, daß du für den Augenblick recht hast. Ich sage dir aber voraus, daß dich eines Tages die Frauen alles andere als langweilig finden werden . . .

Er stand mit dem Rücken gegen das Fenster und zog die Stirn in Falten:

– Henry: wir haben angefangen zu lügen, wir müssen – zumindesten morgen noch – weiterlügen. 198 Wo war ich heute nacht? Du kannst darauf schwören, daß mich Otto morgen in aller Herrgottsfrühe in meiner Wohnung stellen wird . . .

– Wenn er dich sieht . . . Wir können dich ja unsichtbar machen.

– Allerdings . . . kein schlechter Gedanke . . . Du meinst, ich solle hier bleiben?

– Aber natürlich. Im Musikzimmer steht ein Diwan, auf dem du besser schläfst, als im schönsten Bett . . . Was du an Sachen brauchst, gebe ich dir. Adrian kommt erst um zwölf – und vorher werde ich einfach keinen Besuch annehmen, sei er wer er sei. Fragt man dich, wo du warst: nun: du warst, wo du Lust hattest zu sein! An dieser Grenzziehung wird die Bereinigung des Falles Otto Elmenhain – ihm selbst zum Heile – beginnen. Und nur um dieser Bereinigung willen befürworte ich noch für zwei Tage die Aufrechterhaltung der Lüge. Was dann später noch kommt, das werden wir mit vereinten Kräften meistern: ohne Lüge, aber mit dem Grad von Klugheit, den man uns aufzwingt. Ich bin sehr zäh, wo ich etwas will . . .

– Was willst du denn? fragte Manfred.

– Deine Zuneigung, dein Vertrauen, deine Entfaltung, so, wie sie deinem Wesen entspricht und nicht einem Hirngespinst. Ich will – fuhren die Gedanken fort, aber die Lippen formten nicht mehr die Worte, für die es noch zu früh war – den Grad der 199 Anteilnahme an deinem Leben, der mir erlaubt, dich meinen Bruder zu nennen. Denn als solchen empfinde ich dich: als die blonde Ergänzung meiner eignen bruderlosen Dunkelheit. 200

 


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