Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Schloßallee 8. Ein villenartiges, dreistöckiges Haus mit breiter, weißgrauer Siebenfensterfront. Veranda. Balkon. Vorgarten mit Rosen- und Penseebeeten.

– Gebe es eine gütige Fügung, dachte ich bei mir, daß das Innen dem Außen entspricht.

Eingang von der Hofseite her. Wieder ein kleiner Garten mit einem mächtigen Birnbaum und Kirschlorbeerbüschen. Aufgang zur Erdgeschoßwohnung dürftig. Ich las: Josef Mulch, Spenglermeister. Ich läutete. Die Schelle wollte nicht mehr recht . . . Ich hörte Schritte von Filzpantoffeln auf dem Vorplatz.

– Guten Abend, sagte ich zu der kleinen, runden Frau, die mir geöffnet hatte und nun die Hand vor kurzsichtige Augen hob, um mich zu erkennen . . . Ich bin der Herr, der Ihnen aus dem Hotel Bristol heute den Brief geschickt hat . . . Ich nehme an, Sie sind Frau Mulch . . .

– Ach so . . . Jo, jo, jo – Kommen Sie nur herein. Ich will Licht machen . . .

Ich schloß die Tür, deren Drücker sie nicht fand. Sie schaltete die Deckenlampe ein und sah mich wieder eindringlich an.

– Ich bin so kurzsichtig, sagte sie . . . Ach meine Augen, o meine Augen! Ja, wenn man alt wird. 'n Augeblick. Ich will die Brill hole . . .

Zum dritten Male – nun mit der Brille – wurde ich gemustert. 68

– Sind Sie Student? fragte sie unsicher, mit einem Unterton: Sie lügen . . .

– Ja.

– Sind Sie bei einer Verbindung?

– Nein.

– Wir nehmen niemand nicht aus Verbindungen . . .

– Also dann bin ich der rechte Mann für Sie . . . Wollen Sie mir das Zimmer zeigen?

– Es sind zwei Zimmer, die zusammengehören. Hochfeine Zimmer, was hochfein heißt. Man muß durchs Schlafzimmer, um ins Wohnzimmer zu kommen.

– Desto besser. Darf ich sie sehen?

Sie zögerte, besann sich. Dann schrie sie plötzlich:

– Josef! Josef!

Eine Stimme antwortete hinter einer Tür:

– Ich wäsch mich . . .

– No ja, bleib nur. 's is schon gut.

Sie schloß auf und ließ mich eintreten, während sie mich genau beobachtete.

– Die Zimmer gefallen mir, sagte ich. Was kosten sie?

– Dreißig Mark im Monat ohne Heizung, Licht und Frühstück.

Ich glaubte nicht gehört zu haben . . .

– Gut. Kann ich die Toilette sehen?

– Was?

– Das Klosett . . .

– Ach so, wir nennen ihn hier den Aabee . . . Ja, Sie können ihn sehn . . . Josef! Josef! 69

Die Küchentür wurde ein wenig geöffnet. Die Gestalt eines alten, freundlichen Mannes erschien, der seine Hose am Bund mit einer eingeseiften Hand zusammenhielt.

– Was is denn? Ich hab dir doch gesagt, daß ich mich wäsch.

– Der Herr will den Aabee sehn . . .

– Ei so zeig ihn doch un laß mich in Ruh, solang ich mich wäsch.

Er verschwand.

– Sie haben anscheinend Angst vor mir? fragte ich Frau Mulch.

– Sie wollen Student sein?

Sie befühlte den Stoff meines sehr weiten und langen beigefarbenen Regenmantels, hob wieder die Hand vor die bebrillten Augen – und schrie plötzlich:

– Ach – ich weiß, ich weiß – alleweil weiß ich alles! Sie gehn hier uff die Gäulsmärkt? Sie und Student! Ich könnt mich totlache. So sieht doch kein Student aus . . . So Mäntel trage nur die Gäulsjidde aus'm Hinnerland!

Ihr Mann trat auf den Vorplatz. Er hatte sich einen Kragen angezogen und schaute verwundert auf mich, der sich vor Lachen schüttelte.

– Ich bin Herr Benrath, sagte ich zu ihm, als ich wieder sprechen konnte . . . Sie sind doch Herr Mulch . . .

– Ja, der bin ich . . . 70

– Ihre Frau will mir nicht glauben, daß ich Student bin . . . Sie hält mich für einen Viehhändler . . .

– Meine Frau bringt die Leut immer durch ihre Kurzsichtigkeit in Verlegenheit . . . Sie dürfen ihr das nicht übel nehmen . . . Sie wollten den Aabee sehn? Hier . . .

Er machte Licht.

– Ein hochfeiner, sauberer Aabee, sagte Frau Mulch. Keine Kohlenfüller drin, keine Besen, keine Eimer, keine Nachtdippcher. Und immer gelüftet. Breit und bequem.

Ihre Schilderung stimmte. An der linken Wand hing eine perlengestickte Tasche voll kleingeschnittenen Zeitungspapieres, an der rechten ein Zigarrenableger.

– Sie haben keine Wasserspülung? fragte ich.

– Was? Wasserspülung? Nein. Die haben wir nicht. Die hat auch noch niemand nicht verlangt. Hier ist zum Spülen . . .

Sie deutete auf zwei irdene Krüge am Boden, die ich nicht gesehen hatte.

– Stets gefüllt zum Gebrauch.

– Gut, sagte ich. Es wird schon gehn. Papier in Rollen und einen Halter will ich mir gerne selbst stellen.

– Da is ja Zeitung, sagte sie. Zeitung tut's auch.

– Das ist eine Meinungsfrage, über die wir keinen Streit bekommen werden, Frau Mulch. Also ich miete. Sofort. 71

– Jo, jo, jo, machte sie. Ihr Gesicht glühte.

Ich griff nach meiner Brieftasche:

– Quittieren Sie mir bitte die Miete für November, die ich Ihnen gleich geben will. Ich zahle Ihnen die Miete immer voraus.

– Josef, rasch, hol Papier . . . Ach komme Sie doch so lang in die Küch, wo's warm is . . . Nehme Sie Platz . . . Ach, ich bin noch ganz aufgeregt . . . Ein Student – ein Student – und ich hab Sie für einen Viehjidd gehalte! Sie sind mir doch nicht bös?

– Aber im Gegenteil! Ich bin Ihnen dankbar für den Spaß, den Sie mir gemacht haben . . .

Ich setzte mich in einen Großvaterstuhl aus gelbem Geflecht, der neben einem mit Wachstuch überzogenen Eßtisch stand. Auf diesem Tisch thronte eine gewaltige Kaffeekanne aus schwarzgraugeschecktem Emailblech. Zwei halbgefüllte Tassen waren gegen die Wand geschoben. Von dem Herd kam der Geruch warm werdender Milch . . .

– Kädda, rief es über den Vorplatz her . . . Kädda – ich kann die Rechnunge net finne!

– In der linke Schublad, rief sie zurück . . . Ach Gott, ach Gott, wenn ein Mann alt wird! Ja, das Alter, das böse, nixnutzige Alter! Man merkt nicht, wie es kommt – und auf einmal ist man mitten drin! Und was kommt dann alles! Sehn Sie, jetzt drückt mich alle Augeblick die Blas! Wo hab ich früher gewußt, was die Blas is? Da hat man sein Geschäft 72 verricht – und basta! Aber heut? Alle Teile melden sich! Sehn Sie: das is das Alter, wenn sich alle Teile melden! Der Doktor Schaub sagt immer: wie die Signale bei der Eisenbahn . . . No, Sie haben doch nichts? Sie sind doch noch jung und gesund? Ach ja, die schöne Jugend! Und wie versündigen sich manche daran! Haben Sie noch Ihre Eltern?

– Ja.

– Und Geschwister auch?

– Eine verheiratete Schwester . . .

– Ach Gott! Ein Pärchen! Bruder und Schwester . . . Uns hat der Herrgott nur ein Kind gegeben, eine Tochter . . . Ein schönes, ein hochschönes Mädchen! Auch schon verheiratet, hat aber auch nur ein Kind, den Willy . . . Gut verheirat, ja – in Kaiserslautern . . . Wenn sie gewollt hätt, konnt sie noch eine ganz andere Partie machen . . . Aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich . . .

– Was ist denn Ihr Schwiegersohn?

– Kaufmann. Fabrikant. Er hat eine Dungfabrik. Karl-August Wohner und Kompanie, Effkalienverwertungsgesellschaft. Zweimal im Jahr mach ich hin . . . Wenn man nur ein Kind hat . . . Wo sind Sie denn zu Haus?

– In Köln. Aber ich studierte seither in Paris . . .

– In Paris, sagte Kädda schmerzlich. Ach du lieber Gott . . . Ja, ja, dort muß man einen starken Charakter haben . . . 73

Josef gab mir die quittierte Rechnung. Ich legte ihm das Geld hin. Kädda nahm es an sich, nachdem sie die Münzen genau betrachtet hatte . . .

– Es fällt mir gerade noch etwas ein, sagte ich. Haben Sie eigentlich ein Badezimmer?

– Nein, sagte Josef. Ich wollt ja einmal eins mache lasse – aber dann bekame wir hierher das großartige Volksbad – und da hab ich den Plan aufgewwe.

– So . . . es gibt hier ein Schwimmbad! Das ist ja herrlich . . .

– Und was für eines! sagte Kädda. Alle Bäder, die Sie wollen . . . Tuschbad, Wannebad, hierisch-römisch – 's gibt sogar Bäder, Sie können mir's glauben, wo die Leut in Dreck gesetzt wer'n . . .

– Blödsinn! In Dreck! erwiderte Josef. Sie meint Moorbäder.

– No, was is denn Moor? Dreck is es! Du mußt auch zu allem deinen Senf gewwe! Als ob du alles besser wüßt. Und hyschenische Bäder gibt es auch. Die muß ich nehmen. Mit Kohlensäure, Kiefernadel und Packung . . .

– Alle halbe Jahre eines! Nähmst du sie regelmäßig, wärst du längst dein Rheumatismus los.

– Leiden Sie an Rheumatismus? fragte ich.

– Und wie! Und wie! Ich kann oft nicht aus dem Sessel! Wie soll man denn gesund sein bei dem Ärger!

– Haben Sie denn so viel Ärger? 74

– Wenn man im Vorderhaus drei Familien als Mieter und im Hinterhaus sechs hat – dann ist das ganze Leben nur noch Ärger . . .

– Sagen Sie: wohnen hier unten noch mehr Studenten?

– Noch zwei. Im Eckzimmer links Herr Kallenbach aus Wiesbaden, ein hochpikfeiner Mensch . . . Ein dreimal hochkluger, ein furchtbar, furchtbar gescheiter Mann! Nie besoffen, keine Dreckmenscher um sich, prima Kleidung, kein Wort zuviel, kein Heller Schulden – und Arbeit, nix wie Arbeit! Kein Gesocks und kein Gehäng! Ein hochnobelpikfeiner Mensch.

– So, Herr Kallenbach! Das ist mir sehr angenehm. Ich kenne ihn von Ansehen . . . Und wer ist denn mein Nachbar im Mittelzimmer?

– Genau das Gegenteil. Ein Herr Wetzel aus Kassel.

– Na, da kann ich mich ja freuen . . .

– Sie könne ohne Sorge sein. Tagsüber ist er nie zu Hause – und wenn er nachts kommt, ist er blau. Aber am 15. November fliegt er.

– Warum?

– Ich bin mir zu gut für die Sauereien!

– Welche Sauereien?

Sie zögerte einen Augenblick, den Blick auf ihren Mann heftend.

– Gott, so was kommt vor, sagte Josef . . .

– Was? So wahr ich Kädda Mulch heiße, geborene 75 Finkeldey, so wahr kann der Kerl etwas dazu! Muß er sich denn jeden zweiten Tag vollsaufen?

– Wozu kann er etwas?

Sie kam zu mir, formte die Hand an meinem Ohr zu einer Muschel und tuschelte . . .

– Jawohl! Jawohl! Das macht der Kerl! So Leut müsse bei den Fräulein Göckel in der Benderstraß wohne – da sind sie, wo sie hingehören: in einem Schweinestall!

– Wer sind die Fräulein Göckel?

– Das sin die größte Wutze von Philippinenthal. Sie könne ja einmal hingehn und nach Zimmern frage. Da wer'n Sie was erlewe!

– Du kommst doch noch einmal ins Kittche mit deim böse Maul, sagte Josef.

– Oder auch net! Dann tret ich den Wahrheitsbeweis an! Bettwäsch alle zwei Monat! Die dreckig Wäsch im Korridor hinter einem Vorhang, überall Fettflecke uff Decke und Tapete, zerbrochene Lampe und Gläser, die ganz Wohnung stinkt nach Petroleum, die Brotkruste in der Tischschublad! . . .

– Und da wohnen Studenten?

– Und ob da Studente wohne! Weil sturmfrei ist! Weil sie jedes Hurenmensch mitbringe könne! So was gibt es hier nicht! Hier sind Sie in einem ehrbaren und sauberen Haus! Wenn der Wetzel fort ist, wird's ein Paradies sein! Hier – hier, ereiferte sie 76 sich, indem sie in der Schublade des Küchentisches kramte, hier ist die zweite Kündigung, da er auf die erste nicht geantwortet hat.

Ich las: »Herrn Ludwig Wetzel, dahier. Teile Ihnen hierdurch nochmals mit, das Sie am 15. Nov. das Zimer gereumt haben müssen, da selbiges schon anderweitich vermied, und müssen biß dahien auch alle Schulten beklichen sein.

Hochachtungsvol        

Kätha Mulch«

– Das kommt noch heut abend auf sein Nachttisch. Ich bin's müd, müd, müd!

– Ist das Zimmer tatsächlich schon wieder vermietet?

– Ach wo! Das Zimmer bleibt leer. Mitte im Semester kommt niemand mehr . . . Wir sind nicht aufs Vermieten angewiesen. Wir können nehmen, wer uns paßt.

– Also dann halten Sie mich jedenfalls auf dem laufenden. Vielleicht weiß ich einen Mieter, vielleicht nehme ich es selbst noch, wenn Sie mir einen vernünftigen Preis machen . . .

– Jo, jo, jo, jo . . .

– So, sagte ich, aufstehend. Ich muß jetzt gehn. Ich bin heute abend eingeladen und muß mich umziehen. Also geben Sie acht: ich lasse morgen früh meine 77 Sachen aus dem Hotel hierhertun. Außerdem wird mir meine Tante Malkomesius . . .

– Wer?

– Frau Eugenie Malkomesius aus der Ahornallee, hier um die Ecke . . .

Kädda sperrte den Mund auf . . . Josef hob den Blick von der Zeitung . . .

– Alleweil geht mir die Ladeucht uff, sagte Kädda . . . Daher die Dibbeligkeit mit dem Aabee . . .

– Also Frau Malkomesius wird mir für die Dauer meines Hierseins ein paar Möbel und Teppiche leihen. Die Sachen werden gegen Mittag gebracht. Nach Tisch komme ich mit einem Handwerker, um die Möbel nach meinem Geschmack zu stellen. Samstag nachmittag wird alles in Ordnung sein. Samstag abend fahre ich auf zwei Tage zu meinen Eltern nach Köln, und Montag abend werde ich zum erstenmal hier schlafen . . . Nun sind Sie im Bilde. Guten Abend, Frau Mulch, guten Abend Herr Mulch, ich hoffe, wir werden uns gut vertragen . . . Kündigen werden Sie mir hoffentlich nicht müssen . . .

Schweigend, immer noch etwas unsicher, begleiteten mich die beiden Alten auf den Vorplatz. Als ich eben die Türklinke ergreifen wollte, kam Kallenbach von der Universität nach Hause.

– Herr Kallenbach, Herr Kallenbach, rief Kädda, wir haben vermietet! Hier, hier steht unser neuer Mieter, ein hochpikfeiner Herr! Aber sie versprach 78 sich, indem sie das p und das f vertauschte, was Kallenbach und mich zu einer Lachsalve veranlaßte . . . Wir reichten uns die Hand.

– Wir haben uns gestern abend und heute nachmittag schon im Café Böhler gesehen, sagte ich.

– Ja – und der Oberkellner Felix . . . aber wollen Sie nicht einen Augenblick näher treten . . .

– Gerne, für ein paar Minuten, ich bin etwas eilig . . .

– Also der Oberkellner Felix, fuhr Kallenbach fort, als wir in sein großes behagliches Zimmer getreten waren, hat mir schon allerhand Dinge von Ihnen erzählt, die ihm offenbar der Portier des Hotel Bristol übermittelt hat . . .

– Ich hoffe, Sie haben hundert Prozent von dem Gehörten abgezogen.

– Sogar hundertundzwanzig.

– Gott sei Dank! dann brauche ich ja nichts richtigzustellen . . . Sagen Sie: gehen Sie regelmäßig ins Café Böhler?

– Jeden Tag, nur wegen der Zeitungen. Wir leben doch gerade augenblicklich in einer Epoche derartiger politischer Hochspannung, daß ich kaum einschlafen könnte, wenn ich nicht die wichtigsten Blätter der verschiedensten Richtungen gelesen hätte . . .

– Es geht mir genau wie Ihnen . . . Sagen Sie: werden Sie heute abend gegen halb zwölf da sein?

– Bestimmt.

– Haben Sie Lust, etwas mit mir zu plaudern? 79

– Aber selbstverständlich.

– Danke . . . Also ich komme um die angegebene Stunde. Ich bin vorher bei Professor Toggenburg, den ich gegen halb zwölf verlassen werde . . .

– Rechnen Sie auf mich. Ich warte, bis Sie kommen.

– Und wenn wir uns festreden sollten, ist nach Schluß des Cafés immer noch die Möglichkeit, im Bristol auf meinem Zimmer zu sitzen, oder spazieren zu gehen . . .

– Sie gehen auch gerne nachts?

– Ja. Also: auf heute abend. 80

 


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