Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Ich hatte durch den Hoteldiener einen Brief an die Besitzer der Wohnung Schloßallee 8 geschickt und gebeten, man möge das verfügbare Zimmer nicht abgeben, ehe ich selbst zwischen vier und sechs da gewesen sei. Ich wollte mich nicht binden, ehe Professor Hinrichsen alle vor zweieinhalb Jahren gegebenen Versprechungen bezüglich meiner Doktorprüfung erneuert hatte. Sein Brief schien mir anzudeuten, daß der Ruf, in dem er bei den Studenten stand, nicht ganz unberechtigt war. Man nannte ihn Henricus Cunctator: was besagen sollte, daß er in allen Dissertationsangelegenheiten eine bewußte und zum Teil unfreundliche Verschleppungstaktik befolgte. Ich war entschlossen, jedem Versuch, diese Taktik mir gegenüber anzuwenden, von vornherein die Spitze abzubrechen und unter keinen Umständen die für Philippinenthal vorgesehene Zeit von dreizehn bis vierzehn Monaten auch nur um einen einzigen zu vermehren.

Ich machte mich also kurz vor zwei auf, um in seine Sprechstunde zu gehen. (Sage mir, wann du deine Sprechstunde hast, und ich sage dir, wer du bist.) Ich vermied, ein regelrechtes Mittagessen einzunehmen. Man verteidigt mit vollem Magen schlecht eine Position, um die gekämpft werden muß.

Ich fand mich nach etwa fünf Minuten vor einem grauen, öden Kasten in einer noch graueren, noch öderen Straße, einer endlosen Straße, die einem in Fieberträumen vorkommen konnte . . . (›wird 52 verurteilt, die Lessingstraße in Philippinenthal bei Regenwetter – oder bei dreißig Grad Hitze – zwanzigmal auf und nieder zu gehen‹). Ja. Das war Nummer 48. Vorgärten hatten diese Häuser nicht. Auch keine Hintergärten. Sie hatten regellose, gepflasterte Höfe, in denen ein paar ungepflegte Bäume standen – Flieder- oder Goldregen- oder Birnbäume – Gerüste zum Teppichklopfen, vielleicht noch eine Hundehütte und ein Regenfaß.

Ich läutete. Ein kleines Kind öffnete die Tür und starrte mich an. Der Kopfbildung nach konnte das nur eine kleine Hinrichsen sein. Dann kam mit lautem Geschrei aus der Küche ein etwas älterer Knabe gerannt, der denselben breiten Kopf auf schmächtigen Schultern trug, und hieb auf das Mädchen ein:

– Du sollst doch die Tür nicht öffnen, du dummer Fratz, und wenn es noch so laut schellt! Das hat die Minna zu tun.

Schon rollten die beiden auf dem Boden, und ein lautes Gebrüll begann. Denn die Kleine hatte den Bruder in die Augen gekratzt.

Durch die offne Küchentür drang ein Geruch von Rotkohl und Kinderwäsche. Aus diesem Doppelduft trat jetzt ein Mädchen, das noch dabei war, sich eine weiße Schürze vorzubinden, und sagte einfach, ohne mich nach irgend etwas zu fragen:

– Der Herr Professor läßt bitten . . . 53

Während ich ablegte, rief aus einem entlegenen Zimmer eine etwas weinerliche Frauenstimme:

– Aber Minna, so nehmen Sie doch die Kinder vom Vorplatz weg . . . man kann ja kein Auge zutun . . .

Ich wurde in ein Sprechzimmer geführt, in welchem standen: ein grünes Ripssofa, zwei Strohsessel mit zerknäulten Kattunkissen, ein Büchergestell voller Zeitschriften, eine Wandbank und ein Stehpult. Das Fenster hatte keinen Vorhang. Eine Schiebetür, deren graugrüne Ölfarbe in der Mitte abgegriffen war, wies in einen andren Raum. Diese Tür wurde nach geraumer Weile geöffnet – und Uwe Hinrichsen erschien auf der Schwelle seines Arbeitszimmers, mir die Rechte hinstreckend:

– Das isch ja man schöin, daß Sie gleich zu mir kommen, sagte er in seinem mecklenburgischen Akzent (er stammte aus Neu-Brandenburg), da können wir ja gleich in medias res gehen.

Wenn man diesen großen, schwarzen Mann, dem über die Flanken eines ungepflegten, etwas ärmlichen Bartes ein dünner Vercingetorixschnurrbart niederhing, vor sich stehen sah, begriff man, daß seine Stirne, welche die genaue Hälfte des gewaltigen Kopfes einnahm, Lautlehre und Syntax sämtlicher französischer Dialekte sämtlicher Gezeiten gebrauchsfähig auf Lager hatte. Diese Stirne war ein Alpdruck – genau wie die Straße, in der sie beheimatet war – und der dritte hier zu verzeichnende Alpdruck war der Mund des 54 Professors Hinrichsen. Er war so klein, daß – wenn er geöffnet stand – seine Längsachse größer war als die Linie von Mundwinkel zu Mundwinkel. Auch ließ die obere Lippe dann jene zwei berühmten, rauchgelben Hauer sichtbar werden, mit deren Hilfe das reiche phonetische Wissen der Stirne in den praktischen Übungen »verlautbart« wurde.

– Also, Herr Benrath, nun kommen Sie einmal an diesen Tisch und sehen Sie sich die Arbeiten an, die ich zur Durchsicht für Sie noch bereitgelegt habe. Ich nehme an, es werden darunter noch solche sein, die Sie verwenden können.

Auf dem Tisch lagen etwa zwanzig Wälzer.

– Herr Professor, ich kann Ihnen Titel und Inhalt dieser Bände aufsagen, ohne sie anzurühren.

Ich tat es.

– Ja, das stimmt alles, sagte Hinrichsen. Ich sehe schon, daß Sie bewandert sind. Und darunter ist nichts Brauchbares?

– Nicht eine Zeile. Langweiliges, ungründliches Zeug über Stilfragen, das der modernen Forschung nicht mehr standhält. Ich habe für meine Dissertation 237 Bände Literatur durchgesehen . . .

– Wie wollen Sie denn nun eigentlich Ihre Arbeit nennen?

– Genau, wie ich Ihnen schrieb: »Die dichterische Technik Victor Hugos«.

– Ja, das ist mir sehr recht. Sehr, sehr recht! Aber, 55 lieber Herr Benrath, das ist ein Titel, der zu sehr viel verpflichtet . . .

– Das weiß ich. Ich arbeite an dieser Sache nun schon zweiundeinhalb Jahre. In einer solchen Zeitspanne kann man wohl einem weiten Thema gegenüber das δὸς μοι ποῦ στῶfinden, also auch den Überblick, die Gliederung, die Form.

– Allerdings. Das kann man. Ob Ihnen das gelungen ist, werden wir ja sehen, sobald Sie den Text festgelegt haben.

– Herr Professor, darf ich auf folgendes hinweisen: Die eigentliche Dissertationsschrift kann bei einem so umfassenden Thema natürlich nur eine ausführliche Disposition der Stoffmasse sein. Es ist aber selbstverständlich, daß ich, nachdem ich nun einmal diese Riesenarbeit unternommen habe, meine Schrift später zu einem ausführlichen Buch ausbauen werde.

– Wann wollen Sie diese Erweiterung vornehmen?

– Nach meinem Examen, solange mir der Stoff noch geläufig ist.

– Und wieviel Seiten glauben Sie, daß die Dissertation selbst enthalten wird?

– Hundertfünfzig mindestens, bei vierzig Druckzeilen pro Seite.

– Das ist ja schon ein kleines Buch . . .

– Ja. Anders wird es nicht gehen . . .

– Soll es ja auch gar nicht . . . Ist mir viel lieber, ich halte etwas Griffiges in der Hand, als so ein Ding 56 zum Fortblasen. Und wann werde ich den Text bekommen?

– Mitte Februar. Ich habe alles so eingeteilt und ausgeklügelt, daß ich neben der Formung des Textes genügend Zeit behalte für die Erwerbung aller zur mündlichen Prüfung notwendigen Kenntnisse. Dazu dient vor allem das Sommersemester.

– Zwei Semester ist nicht eben viel . . .

– Vergessen Sie nicht, Herr Professor, was ich an Vorlesungen auf der Sorbonne jahrelang gehört habe . . .

– Ja, ja, natürlich . . .

– Und daß ich ja schon jahrelang für Sie arbeite – wenn auch nicht unter Ihrer unmittelbaren Aufsicht . . . Als ich seinerzeit zu Ihnen kam, waren Sie mit meinem Plan in jeder Beziehung einverstanden, ja Sie ermutigten mich außerordentlich . . .

– Gewiß, gewiß . . . Ich überlegte nur so bei mir, ob Sie sich nicht etwas sehr einseitig auf das Literargeschichtliche festgelegt und das Sprachgeschichtliche haben zu kurz kommen lassen . . .

In mir kochte es auf. Aber ich zwang die Woge nieder und sagte, während ich mich mit dem Rücken gegen das vorhanglose Fenster stellte.

– Herr Professor, Sie erwähnen den Punkt, um dessentwillen mir daran gelegen war, Sie so rasch als möglich zu sprechen. Ihre Auffassung macht mich besorgt. Sie weicht von der Linie ab, die wir seinerzeit festgelegt hatten. Erlauben Sie mir deshalb, 57 bitte, Sie noch einmal daran zu erinnern, wie mein Fall liegt.

– Ich weiß das, Herr Benrath, sagte Hinrichsen scharf.

– Ich bin beunruhigt, Herr Professor, über neue Bedingungen, die Sie mir offenbar stellen wollen.

– Welche?

– Die sprachgeschichtlichen Studien weiter zu treiben, als es unseren früheren Abmachungen entsprach.

– Glauben Sie, daß Ihnen das etwas schaden würde?

– Kein Wissen kann schaden. Aber um diese Frage geht es nicht. Für meine Doktorprüfung, die auf literarhistorischem Gebiet angemeldet und von Ihnen gutgeheißen worden ist, kommt nur ein ganz bedingtes Maß sprachwissenschaftlicher Kenntnisse in Frage. Über dieses Maß kann ich nicht hinausgehen. Ich habe mich auszukennen in der Entwicklungsgeschichte der französischen Sprache von ihren Anfängen an – nach der Seite der Lautlehre wie nach der Seite der Syntax hin –, aber ich habe zu Hause zu sein in der französischen Literatur, welche auch das hauptsächliche Prüfungsfach darstellt. Es ist selbstverständlich, daß ich die von Ihnen mir vorgeschlagenen Vorlesungen höre – auch die Seminarübungen über französische Dialekte mitmache, obwohl sie das notwendige Wissensgebiet überschreiten. Ich möchte Sie deshalb bitten – ehe ich mich tatsächlich hier in Philippinenthal an der Kunibertiana einschreiben lasse – mir noch einmal zu 58 bestätigen, daß die Prüfung in dem früher besprochenen Sinne gehandhabt werden wird, oder mich wissen zu lassen, ob Sie Ihre Anforderungen auf sprachwissenschaftlichem Gebiet zu steigern gedenken . . .

– Und wenn ich Ihnen sagte, daß ich dies tatsächlich zu tun gedenke?

– So wäre mein Aufenthalt in Philippinenthal mit dieser Stunde beendet.

– Was?

Ich zuckte die Achseln . . .

– Sie scheinen mit sehr wenig wissenschaftlichem Idealismus an die Frage Ihrer Dissertation heranzutreten – und rein von der praktischen Seite aus.

– Durchaus nicht. In einem solchen Fall hätte ich nicht Jahre meines Lebens an Victor Hugo gehängt . . . Es ist doch wohl begreiflich, daß ich wissen möchte, ob ich mich darauf verlassen kann, daß genau die gleichen und unabänderbaren Bedingungen, auf Grund deren ich die Arbeit begann, auch die Bedingungen des Examens sein werden . . .

– Na selbstverständlich können Sie sich darauf verlassen!

– Haben Sie vielen Dank, Herr Professor. Ich kann also meinem Vater Ihre erneute Bestätigung melden . . . und meine Sorge ist beseitigt. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß ich es bedauert hätte, wenn sich mein Plan, bei Ihnen zu promovieren, heute zerschlagen anstatt gefestigt hätte . . . 59

Hinrichsen sah mich an . . . sah mich fast freundlich an.

– Sie sind ein beispiellos hartnäckiger Mensch.

– O nein, Herr Professor. Aber ich habe eine fanatische Liebe zu dem, was man die Klarheit nennt. Ich weiß gern, woran ich bin.

– Das habe ich gemerkt.

– Ich hoffe, Sie rechnen es mir zum Guten an . . .

– Sie wollen wohl noch Kapital aus Ihrer Zähigkeit schlagen?

– Ich wäre glücklich, wenn Sie eines Tages dieses Kapital in meiner wissenschaftlichen Arbeit vorfänden . . .

Es wurden andere Besucher gemeldet.

– Kommen Sie morgen einmal ins Romanische Seminar, und hören Sie sich die Arbeit über die Diphthonge im Provenzalischen an. Sie werden Ihre Freude haben. Glauben Sie mir. Eine rein ästhetische Freude . . .

Ich lächelte . . .

– Warum lachen Sie?

– Weil ich glaube, daß Sie mir eine Falle stellen wollen.

– Welche Falle?

– Die »ästhetische« Falle . . .

Nun ging ein breites, ein fast behagliches Schmunzeln über das Gesicht Hinrichsens. Er fuhr sich ein paarmal mit der Hand in den ungepflegten Bart und sagte schließlich: 60

– Jammerschade, Herr Benrath, daß Sie Literarhistoriker sind und nicht Sprachforscher . . .

Er hatte offenbar noch etwas sagen wollen, zog aber vor, es zu verschweigen, und starrte durch das Fenster in das schmutzig-graue Gesudel eines wiederbeginnenden Regens. Sein Gesicht war nachdenklich-traurig geworden. Als das Mädchen meldete, daß – wie gewöhnlich bei Semesteranfang – das Wartezimmer voller Studenten sei, kam er auf mich zu, nahm meine Hand und sagte in einem Französisch, dessen Akzent einen Toten noch einmal aufgeweckt hätte:

Maintenant, excusez-moi. Les affaires sont les affaires. Seien Sie ganz ohne Sorge, Herr Benrath. Wir werden vorzüglich miteinander auskommen – und es wird alles nach Wunsch gehen. Tout s'arrangera pour le mieux.

Er entließ mich durch die Tür des Wartezimmers. Ich sah die jungen Oberlehrer in spe, die dort saßen. Sie sahen nicht fröhlich aus. Sie erinnerten an Mannschaft, die vor dem Feldwebel zittert. Sie gehörten alle farbentragenden Verbindungen an, wie die bunten Mützen auf ihren Knien bekundeten. Hinrichsen winkte mir noch einmal mit der Hand. Die Studenten hatten sich erhoben . . .

– Wer war der erste von den Herren? hörte ich gerade noch Hinrichsens Stimme beim Hinausgehen . . . 61


Ich nahm die Richtung der Kunibertstraße, um mich im Café Böhler durch einen »Moka double in Kupfer «, wie es auf der Getränkekarte hieß, zu stärken.

Dieselben Skat spielenden Studenten, die ich am Abend zuvor gesehen hatte, saßen wieder an ihrem Tische. An vier anderen Tischen wurde ebenfalls geramscht. Gesprochen wurde wenig. Man hörte nur das Aufklatschen der Karten und manchmal den Schlag einer Faust. Ein junger Mann, der mir schon am Abend vorher aufgefallen war, hatte einen Stoß Zeitungen auf dem Stuhl neben sich liegen und schien gerade in eine wirtschaftliche Beilage vertieft. Er trug – wie Lorsch – einen schmalen, fast elfenbeinblassen hellenischen Kopf von verblüffender Ebenmäßigkeit der Prägung auf geraden Schultern, hatte den ruhigen, klugen, wissenden Blick abgründiger Augen und um die Lippen jene gelassene Sinnlichkeit, der keine Frau widersteht.

– Sie werden von Wiesbaden gewünscht, Herr Kallenbach, sagte Felix, der Oberkellner. Felix, das Faktotum, Felix, der Geldborger, Felix, der Alleshörer und Nichtswisser, Felix, der Verächter, dem kein Band imponierte, keine Mütze, kein Schmiß – – Felix, dem dieser ganze Studentenbetrieb einer Provinzmetropole nur, wie Lorsch gesagt hatte, das Treibhaus war, in dem seine Orchideen blühten. Es ging in der kleinen Stadt ein geflügeltes Wort von ihm um, das ihm seltsamerweise nicht den Hals gebrochen hatte: ›Es gibt 62 Herren, auch unter den Studenten: die bediene ich. Und es gibt Einfaltspinsel, auch unter den gewesenen Studenten: denen trage ich pflichtgemäß auf.‹

– Guten Tag, Herr Benrath, sagte er, als ich mich gerade setzen wollte . . . Womit kann ich dienen?

Ich starrte ihn an:

– Woher wissen Sie denn meinen Namen?

– Wir wissen alles. Sie wohnen im Bristol und wollen hier promovieren.

– Kann man bei Ihnen in die Lehre gehn?

– Wenn Sie recht oft Ihren Kaffee bei uns trinken, werden Sie, ohne sich im geringsten bemühen zu müssen, alles erfahren, was in Philippinenthal vorgeht. Oben – unten – und in der Mitte . . . Vertrauliche Auskunft können Sie immer bei mir bekommen. Übrigens darf ich Ihnen vielleicht sagen, daß die Herren von den Corps meistens auf der anderen Seite sitzen, da, wo Sie gestern mit Baron Lorsch Platz genommen hatten . . . Hier ist mehr allerlei.

– So . . . Danke schön . . . Also bin ich an der rechten Stelle . . .

– Gut gegeben, lachte Felix. Haha, gut gegeben . . . Womit kann ich dienen?

– Einen anständigen Mokka und eine Zigarre. Eure Hausmarke, die vorzüglich schmeckt . . .

– Die »Grüne Jäger« von Goß & Knödel. Mit dieser Zigarre haben die Leute ihr Vermögen gemacht . . . Ist übrigens auch noch in Luxusausgabe 63 vorhanden. Versuchen Sie einmal. Kostet einen Groschen mehr . . . Aber ein Brand, sage ich Ihnen, eine Asche! . . . Auch was zu essen dabei? Linzer Torte? Schwarzwälder Kirschtorte mit Sahne? Käsekuchen? Gedeckte Apfeltorte? Apfelschnitzentorte mit Rosinen? Buttercrêmeschnitten? Schillerlocken? Philippinenthaler Mohrenkopf aus Biskuitteig mit Maraschino? Reichhaltig, was? Da staunt der Laie – und der Fachmann wundert sich!

– Nein, danke. Aber bestellen Sie mir rasch den Mokka. Ich bin etwas eilig . . .

– Läuft schon längst, die Bestellung, läuft schon längst . . .

– Wieso? Sie haben doch noch die ganze Zeit an meinem Tisch gestanden?

– Allerdings. Aber sehen Sie: wir haben unseren Geheimdienst. Wenn ich hier in den Spiegel schaue, trifft mein Blick einen Piccolo, der immer vom Büfett aus den Spiegel im Auge zu behalten und auf meine Zeichen zu achten hat.

– Eine geniale Einrichtung, Felix . . .

– Herr Benrath, flüsterte Felix an meinem Ohr, als ob wir die vertrautesten Freunde wären, Herr Benrath: man muß sich nicht mehr Arbeit machen, als unbedingt nötig ist! Soll ich meine Füße nicht schonen? Soll der arme Bub den Gang doppelt machen? Wozu? Organisation ist alles . . . Eine Frage, Herr Benrath, wenn es erlaubt ist. Haben Sie schon Wohnung? Nein? 64 Gehn Sie Händelstraße 21, zu Fürbringer. Tadellos! Ohne Nachbarschaft. Sturmfrei. Nur an bessere Herren vermietbar . . . Und alles Notwendige im Haus. Junge, vermögende Witwe . . . Ist, wie ich sage! Können mir schon glauben! – – Haben Sie schon Ihren Friseur? Unter Diskretion: Gehn Sie nicht zu Wesselmann . . . Dreckige, veraltete Bude. Besitzer, Angestellte und Studenten du auf du, als ob jeder mit jedem die Säue gehütet hätte . . . Gehn Sie zu Bruckbaur, Ecke Klopstockstraße – Kunibertstraße. Tip top, sage ich Ihnen. Elegantes, gepflegtes Personal, Bedienung wie im Himmel. Kostet einen Groschen mehr – aber! Sagen Sie, daß Sie von mir geschickt sind . . . vom Felix aus dem Böhler.

Der Mokka und die Zigarre wurden gebracht. Felix überließ mich endlich meinen Gedanken, die während seines ganzen Gerassels nicht aufgehört hatten, um das Gespräch mit Hinrichsen zu kreisen, und nun fast heftig dahin zurückstrebten.

Ohne Zweifel hatte ich mich in dem ersten Vorgefecht anständig geschlagen. Ich hatte zum mindesten meine Stellung behauptet und die Verteidigungsposten durch meinen Vorstoß bedeutend verstärkt. Blieb nur die Frage, wie Hinrichsen den eigentlichen Krieg um die endgültige Fassung der Dissertation führen würde. Denn daß es Krieg zwischen ihm und mir geben würde: das war mir nicht minder klar, als daß ich hier saß und Kaffee trank. Ja, es war mir klar, daß es 65 einen erbitterten Krieg geben würde, der für mich im besten Falle mit einer paix blanche seinen Abschluß finden könnte. Leicht würde es mir dieser Mann nicht machen: schon deswegen nicht, weil er es sich selbst auf seinem besonderen Gebiet auch nicht leicht gemacht hatte . . .

– Warum auch sollte er es mir leicht machen? fragte ich mich beim Aufbrechen . . . Welche anderen Ansprüche als die des guten Willens und der Gerechtigkeit konnte ich an ihn stellen?

Es war vier Uhr. Eine gelblichgraue Dämmerung begann, sich über die Stadt zu legen. Hie und da blinkten schon verfrühte Gaslaternen in dem Zwielicht . . . Ich machte mich auf nach der Schloßallee, immer noch meine Unterredung mit Hinrichsen überdenkend. Hätte ich eine captatio benevolentiae machen sollen? Hätte ich ihm eingestehen sollen, wie sehr mich in der Tat die heimliche Mathematik aller Sprachgesetze – vor allem der Lautlehregesetze – entzückte? Nein, sagte immer wieder die Stimme der Vernunft in mir. Diesem Fanatiker gewiß nicht. Er hätte mich auf mein Eingeständnis festgenagelt. Er hätte mir den Strick daraus gedreht. Von Literaturgeschichte verstand er nicht viel. Das war jedenfalls ein Vorteil. Und seine Steckenpferde auf diesem Gebiet – die mittelalterlichen Epen und das klassische Drama – waren mir vertraut. Nein – ich konnte ruhig, ich konnte sogar zufrieden sein. Ich hatte richtig 66 gehandelt, Witterungsgefühl und Berechnung so ineinander spielen lassen, wie es gut war. Der nächste Schritt, der zu tun war, blieb vorläufig unberechenbar. Er konnte sich nur aus dem Gang der Dinge selbst ergeben. 67

 


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