Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Einige Tage nachher machten mir die beiden Damen von Langenbusch die Ehre ihres Besuches. Da sie mich nach meiner kleinen Wohnung ausgefragt hatten, hatte ich sie zu einer Tasse Tee auf den Nachmittag des Dienstag gebeten, den einzigen, über den ich vor meiner Abreise noch verfügen konnte. Ich hatte es auch Kallenbach gesagt . . . Die beiden Frauen, deren Erwitterungsfähigkeit eines Menschen oder eines Umstandes unglaublich gering war, da sie ihr Leben lang nur die Luft der militärischen Welt – die menschliche, die gesellschaftliche, die wirtschaftliche und die geistige – eingeschnuppert hatten, waren begeistert von Kallenbachs ruhiger Sicherheit, von seiner milden Art, klug zu sein, von seinem edlen »spanischen« Aussehen – und, last not least, von seinem hinreißenden Klavierspiel. Er hatte uns – da er ganz besonders gut aufgelegt war – die zweite Mozartsche Fantasie so schön vorgespielt, wie ich sie nie von einem der berühmten Pianisten gehört hatte. So war also des Bedauerns kein Ende, als er sich um halb sieben verabschiedete, um in das Historische Seminar zu gehen.

– Ich denke, Sie studieren doch Jura, sagte Frau von Langenbusch, das Lorgnon auf ihre verstopfte Nase hebend und Kallenbach anstarrend, nachdem sie minutenlang nach meinem Schreibtisch geschielt hatte, wo ein großes Bild Germaines im Abendkleid stand . . . 150

– Ich mache neben meinem Dr. jur. noch meinen Dr. phil., und zwar auf dem Gebiet des mittelalterlichen Zünftewesens. Professor Westermayer, bei dem ich arbeite, will heute abend einige sehr umstrittene Punkte durchsprechen, deswegen kann ich ihn unmöglich warten lassen, so schwer es mir auch fällt, hier fortzugehen . . .

– Schade, jammerschade, sagte Kathinka . . .

– Was heute war, kann sich ja wiederholen, sagte ich . . .

– Ach ja, sagte die Mutter Langenbusch, die aus Angst vor ihrem Manne nicht den Mut hatte, Kallenbach zum Besuch aufzufordern, obwohl ihr das Wort schon auf den Lippen brannte . . . Ach ja, Herr Benrath. Das müssen Sie noch einmal arrangieren, und bald nach Ihrer Rückkehr . . . Wann fahren Sie eigentlich?

– Am Abend des dreiundzwanzigsten.

– Nach Hause?

– Ja . . . Und dann sogleich nach Gstaad, wohin mich eine befreundete Schweizer Familie für eine Woche eingeladen hat.

– Dann haben Sie ja gar kein richtiges Weihnachten?

– Ich hänge an einem einzigen Fest, das der christliche Kalender verzeichnet: an Pfingsten. Und an diesem mit ganzer Seele. An dem Fest des Geistes, der zu wehen beginnt . . .

– Ich muß gehen, wiederholte Kallenbach, sich von den Damen verabschiedend . . . 151

– Manuel, rief ich ihm nach, Manuel! Haben Sie mir die Karten für morgen abend besorgt?

– Jawohl, Henry, rief er zurück. Alles in Ordnung . . . Ich bringe sie mit . . .

Kathinka saß auf der Kante des Diwans und hatte die Hände vor den Knien gekreuzt . . . Sie starrte vor sich hin . . .

– Was hast du denn? fragte ihre Mutter . . .

– Gar nichts. Ich dachte nur so: Da wohnen solche jungen Leute zwei Häuser von einem – und man kennt sie nicht. Diesem Herrn Kallenbach kann der Lorsch das Wasser nicht reichen, sagte sie, aufstehend.

Sie war ein außergewöhnlich schönes Mädchen – der Stunde nahe, wo das blonde, gefährlich gestaute Blut ausbrechen mußte.


Ich ging, als mich die Damen verlassen hatten, in die Küche, um mit Kädda die Wochenrechnung durchzusehen. Es gab da immer allerhand Korrekturen vorzunehmen, denn sowohl mein als ihr Gedächtnis war nicht immer ganz zuverlässig. Wir waren – mit Hilfe eines Rotstiftes, den ich ihr geschenkt hatte – mitten in dieser Arbeit, als sie plötzlich sagte:

– Lasse Se die Finger von Offiziersweibsleut. Das gibt Duwelle. Oder wolle Sie die blond Prinzessin heirate? 152

– Ich glaube, Sie sind verrückt, erwiderte ich.

– Dann will ich gern beruhigt sein. Sie könne ganz annere Partiee mache. Die da drüwwe, die hawwe nix! Nix, nix, nix! Ansprüch, ja – Aber hier, hier – sie klopfte auf die Geldtasche, die sie immer an einem schwarzen Riemen umgeschnallt trug – is Luft . . . Un von Luft kann niemand lewe, die Fisch sterwe sogar dran! Nein – das gibt keine guten Ehen, wo die Frau nichts mitbringt! Das hat mein Vater selig immer gesagt, und darnach gehandelt. Ich habe meinem Mann ein schönes Vermögen eingebracht. Mein Bruder fiel 1870 – sie wischte sich die Augen mit der Schürze – und ich war einziges Kind . . .

– Was war denn Ihr Vater?

– Wir hatten die größte Spenglerei und Kesselschlägerei von Philippinenthal . . . Das waren Zeiten! Da is Geld verdient worden –

– Und wo haben Sie Ihren Mann kennengelernt?

– Bei uns im Haus. Er war der erste Gesell . . . Ach Gott, mein Gott, das ist lange her . . . Un wie lang wird's noch dauern, dann bin ich auch nicht mehr . . . Ja, ja, wenn wir dermaleinstens nicht mehr sind . . . Was hat man gesehn, was hat man durchgemacht – un wozu? Wozu? Ein schöner Kerl war mein Mann, ein statiöser Mensch, ein hochhochschöner Kerl. Aber, aber, aber, Gott sei's geklagt: so dumm wie Bohnestroh! Und wie hat man's ihm leicht gemacht! Er 153 hat – und hat und hat net kapiern wolle – bis dann der Silvesterabend kam . . . Es gung schon uff zwölf, un die Mutter bracht' grad de heiße Äppelwei un 's Anis. Ich hatt mein rosa Hauskleid an mit weiße Duppe drin – un 's weiß Schürzi. Un war frischgewäsche un frisch frisiert. Man soll nicht dreckig ins neue Jahr gehn! Un weiße Strümp un Lüsterschuh . . . Der Josef saß uff der Ofebank un guckt vor sich hin. Genau wie heut, genau wie heut! Un tat un tat das Maul net uff . . . Da geht meine Mutter bei ihn – Herr Benrath, mir kloppt' das Herz bis in die Gurgel – und sagt: ›No, Josef, ich denk, du simulierst über die Heirat.‹ ›Ei jo‹ sagt der Josef. ›No, Josef‹, sagt die Mutter, ›haste denn schon e Mädche in petto?‹ Da schüttelt der Josef de Kopp – man wußt net, war's ja, war's nein . . . ›No, Josef‹, sagt die Mutter, ›ich wüßt jemand‹ . . . Un nimmt de Josef bei der Hand und führt ihn bei mich un sagt: ›Da sitzt se. Nemm se! Du sollste hawwe, du un kein annerer!‹ Un gibt mir einen Stump, daß ich hochfahr, und sagt: ›So, jetzt küßt euch emal un trinkt emal den gute, heiße Äppelwei mit Zimt.‹ Herr Benrath: da haben wir sich geküßt un Äppelwei getrunke – und ich war eine glückliche, eine hochglückliche Jungfraubraut. Un im Februar haben wir Hochzeit gemacht . . . und in Ehren und Frieden gelebt, bis auf den heutigen Tag . . . Ja, ja, so war das . . . 154

»Auch ich trug den Brautkranz im Haare
Und war eine liebende Maid,
Auch ich trat geschmückt zum Altare
In Schleier und seidenem Kleid . . .«

Ja, ja, so war das! Und so wird es immer sein, heute und morgen und in aller Ewigkeit. Denn alles geht nur darum, nur darum, darum, darum. Un so ist es eingesetzt von Gott über die Menschen – un wenn ein Mann noch so dumm un dappig is: er ist besser als gar keiner . . . Die Frau braucht den Mann, un wenn sie keinen hat, so fehlt ihr das, worauf es im Leben ankommt. Sela.

– Stimmt, Frau Mulch. Wir sind wieder einmal einig. Aber nun sagen Sie mir: warum behaupten Sie immer, daß Ihr guter und braver Mann so dumm ist? Ich kann das gar nicht finden . . .

– Herr Benrath: ein Mann kann mit Männern ganz gescheit sein . . . un dabei mit Frauen so dumm, wie Katzedreck im Äppelbett . . . Das kann ich Ihnen nicht erklären . . . Ich weiß, was ich weiß! Aber Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Eine Frau hat ihre Last, ob Sie's glauben oder nicht, Sela . . .

– Ich glaub's Ihnen . . .

Es klingelte . . .

– Bleiben Sie, sagte ich. Ich mach auf.

Man brachte mir eine Depesche . . . Ich öffnete sie, als ich in das Licht der Küchenlampe zurückgekommen war . . . 155

– Schon wieder eine Tebesche? sagte Kädda . . . Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll . . . Herr Benrath, denken Sie an Ihre Mutter, denken Sie an Ihre brave, gute, hochgutbrave Mutter . . . Leben Sie ehrsam und ruhig! Die Unruh ist des Teufels, spricht der Herr. Un die Weibsleut, die ewig telegrafieren, noch mehr!

Ein befreundeter Schweizer Kunsthistoriker bat mich, ihn abends in Frankfurt am Berliner Zug zu erwarten und einen oder zwei Tage mit ihm zu verbringen, ehe er zu seinen Eltern nach Lausanne weiterreise.

– Also passen Sie auf, Frau Mulch: Ich fahre heute noch nach Frankfurt und komme morgen um sechs Uhr abends zurück. Ich bringe wahrscheinlich einen Bekannten mit, für den wir im Mittelzimmer ein Bett richten werden. Heizen Sie also erst von vier Uhr an . . .

Kädda schüttelte den Kopf.

– Haben Sie kapiert? fragte ich.

– Jo jo jo . . . murmelte sie . . . Sie werden nicht alt werden, Herr Benrath. Aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich . . .

»Wie ist mir leicht und wohlgemut,
Daß Satan mich nicht plagen tut.
Es geht der Mensch zumeist zu Grund
An Wollust, Hatz und Kräfteschwund!« 156


Die verfrühte Abreise des Schweizer Freundes war daran schuld, daß ich am nächsten Tag schon mit dem Zweiuhrzug nach Philippinenthal zurückkehrte. Ich hatte im Speisewagen gegessen und ging sofort über den tief verschneiten Südwall nach Hause. Es war kalt geworden. Der Winter hatte sich gerade noch zur rechten Zeit eingestellt. An allen Straßenecken wurden Weihnachtsbäume verkauft. Waldgeruch strich an den Häuserwänden hin. Aus den Schaufenstern, die mit Silbersträhnen und Watteschnüren ausgeputzt waren, brannten Christbäume in das goldgelbe Tageslicht, der Duft der Blumenläden, die mit Mimosen, Nelken, Ranunkeln und Narzissen gefüllt waren, schien die Glasscheiben zu durchbrechen . . .

Es mochte halb drei sein, als ich in den Vorplatz trat. Ein widerwärtiger, ungewohnter Geruch kam mir entgegen . . . Was war das? Ich trat in mein Schlafzimmer. Der Geruch verstärkte sich, benahm den Atem. Es schien mir, daß ihm mein Parfüm innewohne, ein hartes Gemisch aus Lavendel und Seepflanzen. Ich öffnete schließlich die Tür zu meinem Wohnzimmer – und prallte zurück. Der Ofen glühte. Der Lack des Ofenschirmes war am Schmelzen . . . Einen zweiten Ofenschirm, der sonst dem Schutz eines Bücherschrankes diente, hatte man an das Fenster gerückt und über beide ein dünnes Seil gespannt, an dem drei weiße, wollene Frauenunterhosen hingen, in welche gelbe Drachenköpfe eingewoben waren. Auf 157 dem Diwan des Mittelzimmers aber lag Kädda und schlief.

Ich sagte gar nichts. Ich ging nur an den Flügel und begann zu spielen. In einem schrägen Wandspiegel konnte ich genau sehen, was auf dem Diwan vorging. Zunächst legte sich Kädda, verärgert über eine noch undeutbare Störung, auf die andere Seite, nach kurzer Zeit wieder auf den Rücken. Dann wischte sie sich die Augen, riß sie auf, starrte mich an, fuhr sich mit der Hand über die Stirn – und schoß plötzlich aus den Kissen empor, wie angenagelt an ihrem Platze stehen bleibend. Ich hörte auf zu spielen und sagte, immer noch meine grenzenlose Wut meisternd:

– Guten Morgen, gnädige Frau.

In diesem Augenblick veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie ging aus einer Verteidigung, die hoffnungslos gewesen wäre, zum Angriff über und sagte mit einer heiser verstellten Stimme:

– Wo komme Sie denn schon her? 's is doch noch heller Tag . . .

– Aus Frankfurt. Vorwärts, raus hier – und die Schweinerei da drüben fort! In zehn Minuten ist alles in Ordnung, oder es gibt einen Krach, wie Sie noch keinen erlebt haben! Glauben Sie, daß mein Wohnzimmer ein Hängeboden für Ihre Dampfhosen da ist? Ich bedanke mich für diesen Duft! Glauben Sie, daß hier meine Kohlen verpulvert werden, damit Ihre Popostauchen trocknen können? Ich verbitte mir so 158 eine Sauwirtschaft in meiner Abwesenheit! Also marsch!

Sie stand regungslos und sah mich an . . . Dann sprach sie mit ihrer mildesten Stimme:

– Herr Benrath, möge Ihnen unser hochheiliger Herrgott verzeihen, was Sie hier an einer alten, schwachen Frau sündigen . . . Sie sind in Wallung, ich merk's Ihnen an. Und wenn ein Mensch in Wallung ist . . .

– Wollen Sie jetzt diese Hosenpest beseitigen?

– . . . wenn ein Mensch in Wallung ist, dann soll man ihn nicht reizen. Der Herrgott ist mein Zeuge, wie alles kam. Der Herrgott weiß, daß ich es nicht gewollt habe . . . Nein, ich habe es nicht gewollt! Der Herrgott weiß, daß ich mich nicht an meinen Mietsherrn vergehe! Solang ich lebe, habe ich meine schönen, guten Wollhosen – hochfeines chinesisches Muster, sie sind vom Ullmann in der Kunibertstraße und haben sechs Mark sechzig gekostet, jede – solang ich lebe, habe ich sie in der Küche über dem Herd getrocknet oder im Frühling an der Luft. Aber heute ist mein Herd kaputt gegangen – und kann erst heute mittag gemacht werden, wenn er kalt ist. Auf dem Gas habe ich gekocht, doch auf dem Gas kann ich nicht trocknen . . . Und ich brauche sie, ich brauche sie hoch von Nöten, denn sie sind meine wärmsten, und es ist bitter kalt geworden. Heute noch brauche ich sie! Denn Sie haben meinem Mann 159 und mir Billette für die »Lustige Witwe« geschenkt, und wenn man ins Theater geht, muß man von unten warm sein. Es zieht im Theater, und der Boden ist über einem kalten Keller. Krank will ich nicht werden, wo mich schon so oft die Blase sticht. So, so, so ist es gekommen, so wahr ich Kädda Mulch heiße, geborene Finkeldey . . . Wollen Sie es auf sich nehmen, daß ich krank werde? Wollen Sie Ihrer guten, alten Pflegemutter, die an Ihnen getan hat, was eine Mutter an ihrem Kinde nicht tut, fortan böse sein? Nein, Herr Benrath, nein, das wollen Sie nicht! Dazu kenne ich Ihr Herz zu gut! Sie sind ein guter Mensch, ein hochguter Mensch! Das weiß ich, das weiß auch unser Herrgott, der wird's Ihnen anrechnen . . . Aber Sie sind heute aufgeregt! Sie waren in dem nixnutzigen Frankfurt! Wer weiß, wer weiß, was da mit Ihnen vorgegangen ist! Nein, ich nehme Ihnen nichts übel, wir wollen den Schwamm drüber tun. Wenn ein Mensch in Wallung ist, dann soll man ihn nicht reizen . . . Das geht uns allen so! Denn wir sind schwach und Sünder allzumal – und wenn wir dermaleinstens nicht mehr sind . . .

Sie wandte sich nach der Tür des Arbeitszimmers um, die von unsichtbarer Hand geschlossen worden war, ohne daß ich es gemerkt hätte . . .

– Sehn Sie, sehn Sie: wenn die Tür wieder aufgeht, ist alles nur ein Traum gewesen . . . Mein Mann, mein guter, treuer Mann, hat sie schon fortgetan und die 160 Ofenschirme richtig gestellt – – und alles, alles ist gut . . . Ja, Herr Benrath, Ihre Nerven haben gelitten! Sie arbeiten zu viel, und Sie sind zu unruhig! Schonen Sie sich, schonen Sie sich, ehe es zu spät ist!

»Ist die Gesundheit erst zerrüttet,
Wird unser Grab bald zugeschüttet.«

Denken Sie an Ihre gute Mama, die nur den einen Sohn hat, sparen Sie ihr Kummer, sparen Sie ihr Leid! Sie müssen Ihren guten Hamur wiederfinden! Denn sehn Sie, wenn Sie Ihren guten Hamur gehabt hätten, dann wären Sie nicht in Wallung gekommen, dann hätten Sie sich ans Klavier gesetzt und hätten einen richtigen Zíndara, Zíndara gespielt und gelacht und gedacht: Die Frau Mulch, die hat mir für mei Heimkehr e bissi chinesisch geflaggt!

Meine Kraft war zu Ende. Ich war auf die Klavierbank zurückgesunken und hatte meinen Kopf auf die Tasten gelegt, während mich das Lachen schüttelte . . .

– Frau Mulch, sagte ich, als ich schließlich wieder aufsah . . .

Aber das Zimmer war leer . . . Die Siegerin auf der ganzen Linie hatte sich, ihre letzte Chance wahrnehmend, in ihre Kemenate zurückgezogen, während in der Küche der Herd ausgebessert wurde . . . 161


– Eins, mein Bursch, sagte Kädda, als ich gegen halb fünf bei ihr heißes Teewasser bestellte, eins aber müssen Sie noch zurücknehmen: Sie haben gesagt, ich solle die ›Hosenpest‹ forttun . . . Meine Hosen, die sind keine Pest! Meine Hosen sind hochsaubere Wollhosen, prima Qualität, und eingeweicht, eingeseift, geribbt mit meiner Hand auf dem Brett, ausgerungen und zweimal nachgewaschen! Und obendrein, damit Sie's wissen, eingespritzt mit Ihrem Riechzeug, was immer auf dem Dolettentisch steht. Ich bin arg für Düfte, meine Ria auch, die hatte immer Maiglöckchen und Eßbukett . . . So etwas tu ich sonst niemals nicht, aber weil wir heut abend in die Witwe Lustig gehn . . .

– Die »Lustige Witwe« heißt das Stück . . .

– weil wir heut abend in die »Lustige Witwe« gehn, da wollte ich bis auf die Haut fein riechen von unten nach oben und von oben nach unten. Nein, nein, ich vergreife mich nicht an fremdem Gut!

»Wer sich an fremdem Gut vergeht,
Als Dieb vor Gottes Richtstuhl steht.«

Was ich von Ihrem Riechzeug genommen habe, das ist nur meinen Hosen zu gut gekommen wegen Ihrer Einladung . . . Un jetz lese Sie emal im »Taschenkalender«, was da über »Wolle und Tragen von Wolle« steht! Da werden Ihnen die Augen 162 aufgehn! Ich weiß die Seite: 141. Wissen Sie, Herr Benrath, der Doktor Schaub sagt immer: ›Wolle ist das halbe Leben! Aus der Wolle in die Wolle: das ist die beste Atzenei!‹ Warum werden heute so viele Frauen krank? Weil sie zu eitel, weil sie zu nixnutzig sind, um Wolle auf ihrem gottverdammichten Sündenleib zu tragen . . . Aber auch die Männer müssen Wolle tragen! Nicht so viel wie die Frauen, Sie werden ja wissen, warum: aber auch die Männer haben eine Niere, eine Blase und sonst noch was! Auch das muß geschützt sein! Auch Sie müssen Wolle tragen, Herr Benrath! Also jetzt lesen Sie!

Und ich las: »Wolle und Tragen von Wolle«.

 

I
        »Wolle, das ist des Lebens Kern!
Wolle, dich trag ich gar zu gern!
Wer Wolle trägt, der ist gefeit
In froher und in trüber Zeit!«
 
II
»Das ehrbar Weib tut Wolle an,
Mit Seide ist es nicht getan.
Das Weib, das nur in Seide geht,
Die Tugendprobe nie besteht.
Mit Schminke, Putz und Kokettrie,
Erwirbt das Himmelreich sich nie.« 163
 
III
»Von unten warm, gibt kühlen Kopf:
Ein nasser Fuß macht Feu'r im Schopf.«
 
IV
»Im Notfall, fehlt die Wolle dir,
Erwärmt dich auch ein Stück Papier,
Auf Schulter, Unterleib und Magen
Ist es mit Hochgenuß zu tragen,
Auch Lung und Busen schützt es leicht,
Wenn sie ein kalter Wind erreicht.
Doch ist es stets nur ein Ersatz:
Denn Wolle nur ist wahrer Schatz.«

 

– So, sagte Kädda. Jetzt wisse Sie's. Un hier is der Teekessel. Verbrenne Se sich net die Finger . . . Ich zieh mich jetzt fürs Theater an . . .

– Aber es ist ja erst halb fünf . . .

– Einerlei. Wann ich uff'n Friedhof geh, zieh ich mich auch zwei Stund vorher an. Besser is besser . . .


Im Mittelzimmer hatte Kallenbach aus dem »Tristan« zu fantasieren begonnen . . .

In meinem Arbeitszimmer lag noch immer ein leichter Lackgeruch. Aber er war nicht mehr unangenehm . . .

– Sie spielen ja, lieber Manuel, als ob Sie selbst den Tristan geschrieben hätten . . . 164

Er lächelte . . .

– Glauben Sie nicht, daß wir alle einmal etwas Ähnliches in uns geschrieben haben?

– Merkwürdiges Wort aus Ihrem Munde . . .

– Warum?

– Darum! sagte ich, ihm eine Nase schneidend. Kommen Sie, der Tee ist fertig.

Er lächelte wieder und spielte weiter . . .

– Ich weiß erst seit heute, wie blond diese ganze Tristan-Musik ist, sagte er, als er sich setzte . . .

– Verbrennen Sie sich nicht die Finger an diesem Blond, sagte ich, plötzlich verstehend . . .

– Reden wir nicht davon, sagte er . . .

– Doch, Manuel, reden wir ruhig einmal davon . . . Und fassen Sie bitte mein Drängen nicht als Übergriff auf . . . Sie sollen mir nur sagen, wo Sie hin wollen mit dieser blonden Liebe?

– Wenn ich das wüßte, Henry . . . Ja, wenn ich überhaupt wüßte, daß es eine Liebe ist . . . Es ist so verschieden von allem, was jemals war . . . Ich fühle, daß ich fühle wie noch nie . . . Es scheint mir, ich liebe diesmal nicht die Liebe . . . Sondern das menschliche Wesen, das mir ein solches Ergriffensein gab . . .

– Ich möchte, daß Ihnen Leid erspart wird . . .

– Ich habe keine Furcht. Kommt Leid, muß ich es tragen . . . Man erspart sich kein Schicksal . . . Aber, Henry, ich glaube nicht, daß Leid kommt . . . Daß Glück kommt, glaube ich, in welcher Form immer . . . 165 Sie wissen so gut wie ich, daß manchmal solches Blond – zum Dunklen will . . .

Er schwieg und legte die Hand vor die Augen. Dann, nach langer Pause:

– So wie immer, seitdem die Welt besteht, das Dunkle zum Lichten . . . Ich muß an die Küsten denken, von denen vor dreitausend Jahren jenes Volk aufbrach, den Bernstein zu suchen . . . 166

 


 


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