Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Bleiben Sie bitte noch eine halbe Stunde, sagte Toggenburg, als seine Frau – die Tochter eines Baseler Bankiers – sich gegen elf zurückgezogen hatte, und seien Sie mir nicht böse, wenn ich die Zeit überhaupt begrenze. Ich muß morgen wegen der Druckbogen meines Buches nach Leipzig fahren und schon um sechs aufstehen, was mir wenig Freude macht. Ich möchte noch einiges ganz Persönliche mit Ihnen besprechen. Was wollen wir trinken? Nichts mehr? Nein, das gibt es nicht! Also bleiben wir bei unserem Rauenthaler.

Wir setzten uns auf ein Sofa, das vor ein breites Kamin gestellt war.

– Dieses Kamin, sagte ich, ist wohl das einzige, das es in Philippinenthal gibt?

– Nein. Es gibt noch eines: im Stadthaus der Ayhler auf Krofft. Aber es wird in diesem Winter bestimmt nicht brennen, da Herr und Frau Ayhler bis Mitte November in ihrem Landhaus bleiben und dann auf eine Weltreise gehn . . . Sie müssen also schon zu mir kommen, wenn Sie vor einem offenen Feuer sitzen wollen . . .

– Darf ich das wirklich von Zeit zu Zeit?

– Aber selbstverständlich. Wenn einer, so verstehe ich das Heimweh nach der offenen Flamme . . .

– Ja . . . das Heimweh . . . Es ist ein unheimliches Symbol, daß es nur in Ihrem Hause hier die offne Flamme gibt . . . 81

Toggenburg hob sein Glas:

– Es sind nicht viele, die das spüren. Es gibt überhaupt nur wenige, die den Sinn der Sinnbilder begreifen . . .

– Gott sei Dank!

– Vielleicht . . . Hören Sie, lieber Benrath: Ich möchte Sie einiges fragen. Was zwischen uns jetzt gesprochen wird, hat nichts mit dem Lehrer und Schüler zu tun, nichts mit Philosophie noch Psychologie, nichts mit Examen und Arbeit – das geht einfach von Mensch zu Mensch. Und ich bitte Sie, dieses Gespräch da zu buchen, wo ich möchte, daß es beschlossen liege: in der »Santa Casa heiligen Registern«, um mit Schiller zu reden.

– Sie können sicher sein, daß ich dies tun werde.

– Sie könnten fast mein Sohn sein. Ich bin vierundvierzig . . . Ist es Ihnen sehr schwer gefallen, Ihren Freund zu verlassen?

– Allerdings. Es hat mich eine ungeheure Überwindung gekostet, aus der Gemeinschaft mit Adrian Amersfoort fortzugehen, den Sie ja auch kennen und hochschätzen. Wenn zwischen Menschen ein geistiges Ineinanderleben besteht, wie zwischen diesem Manne und mir, so heißt Trennung in meinem Falle: Aufgabe eines Elementaren zu Gunsten eines Ephemeren.

– Fassen Sie Ihren Aufenthalt hier und alles, was damit zusammenhängt, wirklich als ein Ephemeres auf?

– Nur im Vergleich mit der äußersten 82 Geistigkeit, die es in meinem Dasein gibt. Sonst nicht. Eine Bewertung dieses Philippinenthaler Jahres kann ich ja erst nach seinem Ablauf geben. Ephemer ist eine Bewertung.

– Durchaus. Ich bin froh, Sie in einer abwartenden Haltung zu wissen. Denn ich fürchtete – nach Ihrem letzten Brief – Sie würden dieses ganze Jahr sozusagen a priori aus Ihrem Leben ausschalten wollen, es abtun als eine vorausgehaßte Gefängnishaft, die das Schicksal nun einmal in Ihr Horoskop geschrieben hat. In Gefängnishaft kann nichts Gutes gedeihen. Auch keine Dissertation. Und da Sie an die Ihre ein solches Maß von Zeit und Kraft gehängt haben, muß sie Ihnen diese Summe doch – sogar mit Zinsen – wieder einbringen . . . Man soll auch wissenschaftlich nicht neben dem Leben her arbeiten, das man sein eigenstes nennt. Der Rückbezug muß da sein. Sie wissen, daß sich Studenten, um sich zum Zuhausebleiben zu zwingen, manchmal Bärte wachsen lassen. Die Arbeiten dieser Leute sind immer dürftig. Sie atmen Stubenluft. Sie sind unlebendig-beziehungslos.

– Ich glaube, es ist nötig, eine scharfe Trennung zu machen zwischen meiner Arbeit und dem wissenschaftlichen Ambiente, in dem sie hier ihren äußeren Schicksalsweg gehen soll. Mit meinem Thema bin ich natürlich lebendig verwachsen – aber mit dem, was »man« mir hier daraus wird machen wollen – – 83

– Gut. Wir sind an dem Punkt der Punkte. Ich möchte Sie bitten: machen Sie sich ruhig einmal auch mit diesem »man« – nomina sunt odiosa – als mit einem nun wirksamen Inhalt in Ihrem Leben vertraut . . . Nehmen Sie keine feindliche Haltung ein, wo eine sachlich-kühle unter Umständen die erstaunlichsten menschlichen Früchte zeitigen könnte. Setzen Sie sich ruhig einmal allen Winden aus, die Sie hier umwehen werden, ohne sofort zu fragen, ob es die Ihnen gemäßen sind. Denken Sie, daß alles, was als Lebensäußerung an Sie herandrängt, auf irgend ein movens zurückzuführen ist, zu dem Sie – als durchaus dichterischer Mensch – nicht nein sagen können. Überwinden Sie persönliche Ab- und Zuneigungen durch die Verstärkung Ihrer betrachtenden Kraft – mit anderen Worten: disziplinieren Sie alles Gefühlsmäßige, Nervenmäßige durch den Geist. Sie können das. Ich weiß, daß Sie das können, weil ich mich sehr genau mit Ihrem Versbuch beschäftigt habe und mit Ihrer Arbeit über das unmittelbare Gestalten bei Platen, die wir nächstens im Seminar besprechen werden. Sie werden dann – nach einem bewußt von Ihnen gestalteten (merken Sie was?) und gleichzeitig bewußt ertragenen Lehrjahr den weiten äußeren Horizont Ihres jungen Lebens durch eine außerordentliche Erweiterung Ihres inneren Horizontes sozusagen ausdichten: und diese Ausdichtung, ich könnte auch sagen: diese Stützung durch sich selbst ist in Ihrem 84 Wesen notwendig. Es ist notwendig, daß Kräfte erschlossen werden, die in Ihnen ruhen. Ich möchte sagen: es ist notwendig, daß die Hilfsquellen Ihrer eignen Natur die Fähigkeit erlangen, Ihnen wirklich zu Hilfe kommen.

– Und Sie meinen, daß mir gerade dieses Philippinenthaler Jahr dazu in besonderem Maße verhelfen werde?

– Ja, das meine ich – sofern Sie, wie ich Ihnen sagte, ihm nicht den Krieg erklären, sondern das tun, was man nennt – – warum schauen Sie mich so an?

– Ich habe . . . ich habe Angst vor dem Wort, das nun kommt . . .

– Welches Wort erwarteten Sie denn?

– Darf ich das Wort sagen, das ich hasse wie kein zweites?

– Sagen Sie es, sagen Sie es . . .

– Das Wort des Kirchenvaters Hieronymus: »aus der Not eine Tugend machen.«

– Bei Gott! Dieses Wort dürfte nicht kommen, denn es würde mich in allem Lügen strafen, was ich vorher gesagt habe! rief Toggenburg. Es ist ja gar keine Not da – eine Gegebenheit ist da, jenseits der Werte . . . Und was Sie mit dieser Gegebenheit machen sollen, das ist . . .

The best of it! wie die Engländer sagen.

– Jawohl, das ist es, mein Lieber, und nichts anderes! Und das ist sehr, sehr viel . . . Schließen wir den Pakt: to make the best of it! 85

Ich sah in Toggenburgs stillen Augen ein ganz leichtes Leuchten . . . Und ich war in diesem Augenblick selbst so bewegt, daß ich aufstand und im Zimmer umherging . . .

– Denken Sie doch einmal, nahm Toggenburg das Gespräch wieder auf, an die Werte, die Sie Ihrem Leben einbringen werden, wenn Sie diesen Weg der inneren Weitung gehen, welche gleichzeitig eine Festigung ist! Haben Sie mit dieser einzigen Erwägung nicht die dauernde Rückverbindung zu dem, was Sie vorhin die äußerste Geistigkeit Ihres Lebens in einer menschlichen Gestalt nannten?

Ich trat vor Toggenburg hin.

– Wissen Sie, wie glücklich Sie mich heute abend machen? Wissen Sie, welchen Mut Sie mir einflößen?

– Und wissen Sie, lieber Benrath, was es für mich bedeutet, einmal so zu einem jungen Menschen sprechen zu können? Wer vertraut sich einem an? Wer verspürt das Bedürfnis dazu? Wo ist – an Universitäten – heute noch zwischen Lehrer und Schüler die Brücke des Wesens?

– Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht allzuviel von dem Geist unserer Universitäten . . .

– Ich weiß sehr viel davon. Aber ich sage sehr wenig darüber.

Wir tranken und schwiegen eine Weile, die Blicke in die glimmenden Scheite gerichtet.

– Sie waren bei Hinrichsen, sagte plötzlich 86 Toggenburg. Wann werden Sie ihm den Text Ihrer Dissertation geben können?

– Im Februar.

– Wollen Sie mir gleichzeitig den Text geben?

– Das würden Sie mir wirklich erlauben?

– Entspricht es Ihrem Wunsche?

– Dem heimlichsten und leidenschaftlichsten, den ich in mir trug.

– Wir treffen unser zweites gentlemen-agreement an diesem Abend.

Er füllte die Gläser. Sie klangen hell aneinander:

– Wir wollen in diesem Ton den Mann nicht vergessen, von dem Sie mir sagten, er habe Ihrem Leben die Richtung gewiesen und Ihrer Jugend die Form gegeben . . . 87

 


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