Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Das Ayhlersche Sommerfest, das Jahr um Jahr am Johannistag gegeben wurde, gehörte zum gesellschaftlichen Leben Philippinenthals wie der Name zur Stadt. Die Ordnung dieses Festes war in diesem Jahr etwas anders als sonst. Man lud meistens alle Gäste auf neun Uhr abends und gab ein kaltes Büfett um Mitternacht. Da Gustav Ayhler mit seiner zweiten Frau Winter und Frühling in Ägypten und Ceylon verbracht hatte, ergab sich die Notwendigkeit, ein Abendessen nachzuholen. Man gliederte es also dem Sommerfeste an, indem man zwei verschiedene Einladungen erließ: die einen zu Tisch auf acht Uhr, die anderen zum »Sommerwendetanz« auf zehn Uhr.

– Wie du meinst, Gina, wie du meinst, sagte Ayhler, als er die Einladungskarte gelesen hatte. . . . Dann steckte er sich eine seiner geliebten Dimitrino-Zigaretten an und ging an seine Arbeit. Seine Frau war ihm reichlich gleichgültig. Sie verstand das große Haus mit Gewandtheit zu führen, auch nicht ohne Geschmack– und das genügte ihm. Nur zu diesem Zweck hatte er sie geheiratet. Seine Wünsche lagen auf einem anderen Planeten seines Wesens. Er war ein sehr unbürgerlicher Mann, obwohl er der angesehenste, der vorbildlichste Bürger der Stadt Philippinenthal und ihres weiten Umkreises war. Er verstand die Kunst, Sein und Schein zu trennen. Er hatte in seiner Vaterstadt nicht einen einzigen Freund. Er wollte keinen haben. Er haßte Vertraulichkeiten unter Männern. Er war frei vom 244 schlimmsten Laster des Mannes: dem Mitteilungsbedürfnis und der Klatschsucht. Niemals sah man ihn an einem »Stammtisch« – selten im »Casino«. Aber oft bat er Herren in sein Haus. Die besten Beziehungen unterhielt er mit dem Professor Toggenburg und Herrn von Barnefeldt, dem Kommandeur des Philippinenthaler Regimentes, der ein Mann von Welt und von Geist war, einer jener deutschen Offiziere, die mit ihrem Pflichtgefühl ein hohes Verantwortungsgefühl verbinden und den Kastendünkel verabscheuen. Ayhler war kein sehr bemühter Gastgeber. Seine Abendessen und Feste liefen von selbst, dank der Regiekunst seiner Frau. Die Namen der vielen Corpsstudenten, die bei solchen Gelegenheiten kamen, behielt er nicht. Aber er war von vollendeter Liebenswürdigkeit mit dem »krassesten Fuchs«, ohne den Anschein zu erwecken, väterlich-wohlwollend zu sein . . . Deshalb liebten ihn gerade die Jüngsten – was ihm wohltat. Denn er war – bei aller sachlichen Strenge und Unerbittlichkeit in seinen vielen Geschäften – ein weicher Mensch, dem der Tod seiner ersten Gattin und seiner beiden Söhne eine unheilbare Wunde geschlagen hatte . . . Eines Abends, in Montmartre, als ich mit ihm auf der Place du Tertre zu Nacht aß, als der Wein die Zungen gelöst und die Herzen gelockert hatte, sagte er zu mir, während er gegen die Lichter der Tiefe schaute:

– Das Schöne, das es heute noch in meinem Leben 245 gibt, mein lieber Benrath, ist nur wie Morphium für eine hoffnungslose Krankheit . . .

Dieses Schöne aber waren die kleinen Mädchen, denen er ein zärtlicher, fast scheuer Liebhaber war – und ein noch zarterer Freund . . .

– Wie steht es mit der Doktorarbeit? fragte er mich, als ich mit Germaine, Lorsch und Manfred (der sich, seit ich ihn in dieses Haus eingeführt hatte, der ganz besonderen Gunst Frau Ayhlers erfreute) kurz vor acht in das Vestibül trat . . .

– Dank der Nachfrage. Ich habe heute mittag die zweite, umgearbeitete Fassung an Hinrichsen geschickt. Ich hoffe, er ist zufrieden . . .

– Seien Sie ohne Optimismus. Ein schwieriger Herr, dieser Hinrichsen. Im übrigen sind Sie ja nicht auf ihn angewiesen. Geht es hier nicht, wie Sie wollen, so geht es wo anders – –

Es waren zu dem Abendessen – mit ihren Damen – gebeten: der Regierungspräsident, der Oberbürgermeister, der Regimentskommandeur, Oberstleutnant von Langenbusch, einige Herren der juristischen und medizinischen Fakultät, von der philosophischen nur Toggenburg und der Germanist Waizenwälzer, der Erste Prokurist der Firma Ayhler, der Vize-Präsident der Handelskammer, einige Fabrikanten, die Baronie der Umgegend und mehrere Verwandte Frau Ayhlers. Von jüngeren Menschen: Rastenburg und Kallenbach. Ayhler war stiller Teilhaber an den Unternehmungen 246 des alten Kallenbach und diesem selbst seit vielen Jahren befreundet.

Die jungen Mädchen, die drei Corps, die ledigen Offiziere, einige Studenten und Söhne von Großkaufleuten waren erst auf zehn Uhr eingeladen . . .


Während wir noch bei schwarzem Kaffee, Likören und Zigarren saßen, kam diese Jugend angefahren. Mit Hallo und Hurra, mit Lampions und Gitarrengeklimper . . . Der Auftakt konnte nicht besser sein, als er war. Kaum waren die Mäntel abgelegt, als die Klänge der »Blauen Donau« schon die Paare nach dem Tanzboden zogen, der vor der Veranda der Ostfront auf dem Rasen aufgeschlagen war . . . Wer nicht im Freien tanzen wollte, tanzte im nahen Gartensaal. Die Musik wurde von der gesamten Regimentskapelle bestritten . . .

Ich hatte an diesem Abend Gelegenheit, eine kleine nicht farbentragende Studentengruppe kennen zu lernen, welche man in Philippinenthal die »Kakteen« nannte. (Derbere Leute sagten: die »Sch . . . . feinen«). Das waren die Herren cand. jur. Guido Weiß, cand. jur. Adalbert Schlächter, cand. jur. Ivo Kulenkamp, cand. jur. Sylvester Hartung und Referendar Alexander Möbius. Diese jungen Herren machten in aestheticis. Sie hatten alle, obwohl ausdrücklich »Smoking« erbeten worden war – es handelte sich um ein Sommerfest – den Frack angezogen, wahrscheinlich weil sie für nötig fanden, ihren freien Willen in 247 Kleidungsangelegenheiten zu betonen. Sie trugen ein Monokel, die goldne Kette von der linken Hüfte zur linken Hosentasche, das Taschentuch in der Manschette, eine weiße Nelke im Knopfloch und einen Siegelring am linken kleinen Finger . . . Sie sprachen von Maeterlinck und Bergson in einem Atem, fragten harmlose, kleine Gänse nach dem »Stundenbuch« Rilkes, äfften den Ton der Offiziere nach und waren glücklich, wenn sie von diesen in eine Unterhaltung gezogen wurden. Der dümmste unter ihnen war cand. jur. Adalbert Schlächter, der Sohn eines Hofrates aus Gotha.

– Wissen Sie, sagte er zu mir, sein Monokel mit dem seidnen Taschentuch putzend und den Mund ein wenig offen stehen lassend, wissen Sie, diese Spanierin ist ein Rasseweib erster Güte . . . Glauben Sie, daß man sich da ranwagen kann?

– Ein Junge wie Sie! Warum nicht? Versuchen Sie's doch . . .

– Wird gemacht! Danke für den Tip!

Weiß gab sich elegisch.

– Diese letzten Juninächte haben etwas Verwirrendes, sagte er . . . Dieser Lindenduft macht mich krank . . . einfach krank . . .

– Was macht Sie krank? fragte derb und laut der Leutnant Knauth vom »Club der Dummschwätzer«, ein sehr beliebter und wegen seiner üppigen Sitzangelegenheit »die Kiste« genannter Offizier – was macht Sie krank, lieber Weiß? 248

– Etwas, lieber Knauth, wovon Sie nischt verstehen . . .

– Ja, ja, eure zarten Seelchen versteh ich Gott sei Dank nich. Sag'n Se mal, Herr Benrath, woll'n wir nach der Festivität noch 'ne Zicke drehen?

– Tut mir leid, Herr Knauth. Ich bin nicht frei . . .

– Schade. Muß ich mir 'nen andren Compagnon suchen . . . Mit diesen halbseidnen Astlöchern da is ja nischt zu wollen, flüsterte er mir ins Ohr. 'n Abend die Herren . . .

– Is es nich toll? sagte Weiß, das Monokel abnehmend . . .

– Nein. Entzückend. Ein Prachtskerl, dieser Knauth. Sauehrlich. Die ganze Kompagnie betet ihn an. Goldnes Herz, uranständige Gesinnung, gesunden Menschenverstand – keine Ansprüche über die Möglichkeiten hinaus. Was wollen Sie mehr?

– Aber der Mensch lebt doch nur für seinen Weiberklamauk . . .

– Lassen Sie ihn doch! Was geht Sie das an?

– Sie haben seltsame Ansichten, muß ich sagen . . .

– Gar keine habe ich in diesem Fall. Ich habe gerne die ehrlichen Menschen. Wie bereinigen Sie denn das Terrain? Mit Maeterlinck und Bergson und Rilke? – –

Während Weiß ging, kamen Oberleutnant von der Wernitz, Oberleutnant von Senckenberg und Leutnant von Ehringshausen heran . . .

– Sagen Sie mal, Herr Benrath, rief Senckenberg, 249 warum sind Sie denn eigentlich noch niemals zu uns in die Schwimmanstalt gekommen? Sie haben mir's doch neulich versprochen, als Sie bei uns im Kasino waren . . .

– Sie können mir glauben, daß ich gern gekommen wäre. Aber ich sitze mächtig im Druck mit meiner Doktorarbeit – und außerdem habe ich augenblicklich auswärtigen Besuch in Bad-Oos, bin also manchmal abends drüben . . .

– Ah . . . bin schon im Bilde, sagte von der Wernitz. Charmante Frau! Ayhler is ja ganz hin – läßt sie gar nich los . . . Nett hier heute abend, was? Stimmung . . . Und dann dieses Wetter? Sprach vorhin mit Toggenburg über Steiner . . . Haben Sie sich mal mit diesem Mann beschäftigt?

– Nein . . .

– Sollten Se aber tun . . . sollten Se tun . . .

Wernitz zog die Stirn in Falten und nahm einen Zug aus seiner schweren Hoyo de Monterey . . . Er hatte ein altes, gequältes Gesicht, kleine, brennendschwarze Augen und sehr blasse Hände . . . Seine Bewegungen waren heftig, nur wenn er auf sich achtete – er konnte plötzliche Anfälle von Eitelkeit haben – gab er ihnen einen gewollt langsamen, katzenhaften Rhythmus. Denn er hatte einen wundervoll durchtrainierten Körper und verstand seine Uniform zu tragen. Seine Klugheit lag weit über dem Durchschnitt – aber seine starken geistigen Bedürfnisse verliefen im Imaginären, weil sein Formgefühl nicht stärker war als seine 250 dauernd wechselnde stoffliche Befangenheit . . . Das Letzte – eben das, was seinen Kommandeur zu einem so sicheren, klaren und überzeugenden Menschen machte – fehlte ihm: das unzweideutige, eigne Gesetz. Seine Haltung war schließlich immer wieder nur seine Uniform.

– Kommen Sie doch mal zu uns ins Schwimmbad! wiederholte Senckenberg . . . Es is ja dort wie im Himmel! Is doch was ganz anderes, im fließenden Gewässer zu baden als in diesem vergoldeten Hallentümpel! Wer so die Natur liebt wie Sie! Das ganze Schilf voll gelber Schwertlilien, die Ulmen abends gegen die Sonne – na wissen Sie –! Wir liegen manchmal bis um neune draußen, lassen uns 's Essen kommen . . .

– un warten, bis die Sterne aufziehn, vollendete der niedliche Ehringshausen, ein Berliner Junge. Ja wirklich, Herr Benrath, kommen Se doch mal oder öfter, und erzählen Se uns 'n paar Schnurren. Wir langweilen uns oft . . . Ulmen un Schwertlilien un Sonnenuntergang is ja ganz schön, nischt dagejen zu sagn – – aber 'n bissel was von der Welt hören, is ja ooch ganz passabel . . . Es is bei uns 'n bißchen viel geistige Inzucht – un die habe ich – auf andrem Gebiet – schon in meiner Jugend reichlich genossen . . . Mein Vater war Divisionspfarrer in Berlin . . . Starb früh . . . Un ich kam in die Kadettenanstalt nach Großlichterfelde . . . Wissen Se: die Klamotten . . .

– Sie wären gerne etwas anders geworden? 251

– Sehn Se mir das nich an der Nase an? Kunstgeschichte hätt' ich gerne studiert . . . Aber dazu reichte es nicht . . . Es sin noch drei Brüder da . . . Ich hör ja hier allerhand Vorlesungen – – na, das is so, wie wenn Se das gute Essen riechen, das bei Müllers nebenan jekocht wird, aber Sie selbst haben immer nur Ochsenfleisch mit Wirsing . . . Kommen Se doch mal 'n bißchen zu uns? Ja?

– Kommen Sie doch mal zu mir!

– Danke sehr! Mit Vergnügen . . .

– Sie machen mir große Freude . . .

– Sie sind mit dem Lorsch befreundet, nich?

– Ja.

– 'n tiptoper Junge . . . Aber zu ehrgeizig, wissen Se: zu ehrgeizig. Un zu glatt . . . Wenn Se mein Jequassele müde sin, müssen Se's ruhig sagen . . . Sehn Se, die andern jehn schon sachte weiter . . .

– Tanzen Sie nicht?

– Nee, wenn's nich unbedingt sein muß . . . 's sin ja mindestens zwanzig Männekens mehr als Damen . . . Was soll ich mich anstrengen . . . Wann kann ich denn mal kommen?

– Paßt Ihnen Montag? Abends, um neun?

– Ausjemacht. Ich bring Ihnen mal 'ne Kleinigkeit mit, die ich jeschrieben habe . . . Über korinthische Kapitelle . . . Sophokles kann ich ooch noch lesen . . .

– Donnerwetter! Das kann ich nicht mehr . . . Sagen Sie, ist nicht Senckenberg ein Mensch für Sie? 252

– Nee. Lieb und gut und fein, aber zu weich. Immer nur Abendstimmungen – immer nur erzieherische Bemühung um die Muskoten – immer nur die »Seele erfassen« . . . 'n bißchen monoton auf die Dauer.

– Wo steckt denn eigentlich Elgaß?

– Elgaß? Kennen Sie Elgaß?

– Kaum . . . ich habe ihn zwei- oder dreimal flüchtig gesehen . . .

– Elgaß is nich mehr . . . das heißt: er hat seinen Abschied genommen . . . 'N armer Kerl . . . Elgaß is in Montevideo, bei seinem Onkel . . . is Koofmich jeworden . . . Fragen Se nich nach Elgaß bei Herrn vom Rejiment . . . War 'n lieber Junge, den man nu ruhen lassen soll . . . Wer weiß, was uns noch blüht . . .

– Warum sind Sie so resigniert?

– Na, warum soll ich's nich sein? Freuden hab ich noch nicht viel jehabt . . . Un woher die kommen sollen, is mir schleierhaft . . . Dienst hab ich. Dienst, un nochmals Dienst . . . «

– Und das Herz?

Ehringshausen sah in die Nacht . . .

– Das darf ooch nich, wie's möchte . . .

Wir gingen den Weg zurück, den wir fast bis an das Ufer der Laue hinabgeschlendert waren. Als wir die Höhe des Tanzplatzes erreicht hatten, kam die Gattin des Nationalökonomen Delius auf uns zu . . .

– Helfen Sie mir einen Hartnäckigen bekehren, Herr Benrath, rief sie . . . Der Regierungspräsident 253 behauptet, man setzt im Französischen nach je comprends den Konjunktiv . . .

– Und was behaupten Sie, gnädige Frau?

– Den Indikativ.

– Ich muß Ihnen leider sagen, daß Sie im Unrecht sind.

– Aha, rief der Regierungspräsident von Wehner . . .

– Und wie ist es mit préférer?

– Genau so . . .

– Doppelt geschlagen, triumphierte Wehner . . .

– Wie kommen Sie auf diese Streitfrage?

– Ich treibe ganz energisch Französisch mit meinem Ältesten, der in die Diplomatie soll. Ich nehme ihn einfach an die englische, französische und italienische Strippe . . .

– An drei Strippen zugleich?

– Jawoll! Italienisch und Englisch beherrsche ich fließend. Ich war lange in beiden Ländern . . . Mein Mann, der ja durch seine Vorträge – er hat schon zweimal vor Seiner Majestät gesprochen – die besten und weitgehendsten Beziehungen hat, will unbedingt, daß unser Hugo in den Außendienst geht . . . Kennen Sie den Botschafter in Paris?

– Nein . . .

– Nein? Sie scherzen!

– Warum soll ich den Botschafter kennen?

– Ich weiß schon, was die Uhr geschlagen hat! Sie haben Lunte gerochen und wollen nicht . . . 254

– Ich verstehe Sie nicht . . .

– Aber ich Sie! Ich weiß durch Frau Professor Toggenburg, daß Sie glänzende Verbindungen haben . . .

– Aber nicht mit dem deutschen Botschafter! Welches Interesse soll denn dieser vielgeplagte Mann an einem unbekannten kleinen Studenten haben?

– Tun Sie doch nicht so! Herr von Amersfoort ist sehr oft bei dem Botschafter . . .

– Aber Herr von Amersfoort ist doch nicht ich!

– Was? Sie hätten die Möglichkeit durch ihren besten Freund diese wichtigste aller Beziehungen anzuknüpfen, und Sie tun es nicht?

– Aber wozu denn?

– Nu brat mir einer einen Storch! Wenn Sie mich nicht zum Besten haben, versteh ich die Welt nicht mehr . . . Entschuldigen Sie – da ist der Regimentskommandeur. Ich muß ihn etwas fragen . . .

Der Regierungspräsident schaute mich an. Keiner von uns wagte zu lachen. Plötzlich sagte er zu mir:

– Sie können sich wohl das Italienisch und Englisch vorstellen, das diese Dame »fließend« spricht . . .

– Das kann ich mir sehr gut vorstellen . . .

– Meine Mutter ist eine Nodier, sagte er, aus Rémilly bei Metz. Sie hat mich zwar nicht an die Strippe genommen, mir aber ihre höchst nützliche Muttersprache vermittelt . . .

Geheimrat Waizenwälzer kam zu uns.

– Äußerst interessant, Herr Benrath, zu sehen, wie 255 Sie in Ihren Versen das Adjektiv appositionell verwenden. Habe mir ein paar Beispiele gemerkt . . . Wußte, daß ich Sie hier treffen würde . . . Warten Sie . . .

Er kramte in seiner Rocktasche und brachte einen zerknüllten Zettel zum Vorschein:

»Der Abend, mild, kam an den Mauerrand!«

Warum sagen Sie nicht: der milde Abend?

– Weil das ganz etwas anderes wäre. Im übrigen überlege ich das nicht. Der Vers steigt intuitiv-musikalisch in mir auf.

– Doppelt interessant . . . Oder würden Sie mild als Adverb empfinden?

Waizenwälzer hing an meinem Gesicht. Die Spannung in seinen Zügen war fast rührend . . .

– Das könnte der Leser vielleicht . . .

– Bah, bah, bah, báh . . . Sie frage ich, Sie . . .

– Ich kann wirklich nichts sagen, Herr Geheimrat . . .

– Schade, jammerschade! Denn sehn Sie: wenn Sie »mild« adverbiell empfänden, dann hätte ich Ihnen glatt eine romanische Intoxikation nachgewiesen. Die Kommasetzung wäre in diesem Falle Kronzeugin für meine Behauptung gewesen . . . Aber da sind noch zwei andere Zeilen, die mich geradezu aufgeregt haben, aufgeregt:

»Wie, gestern noch und ehegestern, hieß,
Was, heute, eines Namens Flamme fand?« 256

Wollen Sie hier auch noch abstreiten? Hier sind Sie in flagranti ertappt! Hahahahá – in flagranti ertappt! Die Zeitbestimmung in Kommata – mitten im Satz . . .

– In einem Vers, Herr Geheimrat!

– Freiheit der Verssprache zugegeben . . . Im zweiten Vers ist Prosasatzstellung, Prosasatzstellung! Warum heute in Kommata? Hahahahá! Hochinteressanter Fall! Besuchen Sie mich – das müssen wir behandeln . . . Phantastische Angelegenheit . . . Gibt sprachpsychologisch meiner neuen Theorie recht . . . Muß leider gehen . . . Habe meine Frau im Trubel verloren . . . Guten Abend, meine Herren . . .

Fort war er . . .

Auch der Regierungspräsident ging.

Ich stand einen Augenblick allein . . .

Da sah ich, daß mir Bowi von dem Gartensaal her ein Zeichen machte . . .

Gleich darauf kam er zu mir . . . Er sah sehr bekümmert aus . . .

– Na, sagte ich, wo drückt Sie der Schuh?

– Es ist mir furchtbar schwer, auszusprechen, was ich auf dem Herzen habe.

– Um wen und um was dreht es sich denn?

– Um meine Schwester.

– Wieso?

– Halten Sie Kathinka für fähig, Dinge zu tun, die allem ins Gesicht schlagen, was die Überlieferung einer alten Offiziersfamilie verlangt? 257

– Ja. Kathinka ist ein außergewöhnliches Mädchen, an das man außergewöhnliche Maßstäbe anlegen muß.

– Also dann stimmt es wohl.

– Was?

– Daß sie Kallenbach liebt.

– Warum soll sie einen so wundervollen Menschen wie Kallenbach nicht lieben? Warum sollte sie ihrem Schicksal nicht auf den Knien dankbar sein, daß es ihr das Beste über den Weg geführt hat, das es in Philippinenthal gibt?

Bowi wurde feuerrot:

– Darum geht es nicht.

– Worum geht es denn?

Bowi schwieg. Ich nahm ihn am Arm:

– Wie haben Sie Kathinkas Liebe zu Kallenbach entdeckt?

– Ich habe herausbekommen, daß von den drei Besuchen, die sie wöchentlich Tante Ellnhausen macht, einer – Kallenbach gilt. Sie geht in sein Haus. Ich habe es selbst festgestellt . . . Und daß die beiden sich heute abend kaum kennen, beweist, daß sie Heimlichkeiten haben . . .

– Pfui, Bowi! Ein kleiner gentleman treibt nicht solche Spionage! Ich hätte das nicht von Ihnen erwartet.

Bowi senkte den Kopf:

– Herr Benrath, wenn meine Eltern das erfahren! Es gibt Mord und Totschlag. Mein Vater wird niemals eine solche Heirat zugeben! 258

– Warum nicht?

– Wir sind ältester preußischer Adel – Kallenbach ist bürgerlich. Er ist der Sohn eines – Gastwirtes einfachster Herkunft. Wir sind bedingungslos protestantisch. Er ist katholisch . . .

– Und Kathinka, mein lieber Junge, ist großjährig. Sie kann tun und lassen, was sie will. Es gibt ja schließlich noch ein Bürgerliches Gesetzbuch . . .

Bowi sah mich aus entsetzten Augen an:

– Sie glauben, daß Kathinka es auf einen offenen Bruch ankommen ließe?

– Warum sollte sie das nicht, sofern ihr die Liebe Kallenbachs wichtiger erscheint, als lebenvernichtende Überlieferungen?

– Was soll ich machen? Mein Gott, was soll ich machen?

– Sie, Bowi? Sie sollen das einzige tun, das Ihnen zukommt: das Verfügungsrecht Ihrer Schwester über ihre Person anerkennen und ihr zur Seite stehen, falls sie Sie je nötig hätte – was das Schicksal verhüten möge. Das ist die Aufgabe, die Sie als Bruder haben.

Bowi hatte große Tränen in den Augen.

– Sie wissen doch, wie ich Kathinka liebe . . .

– Dann beweisen Sie ihr diese Liebe durch Ihre Haltung. Und – warnen Sie sie mit Güte, falls sie Unvorsichtigkeiten machen sollte . . . Sie haben mich richtig verstanden, Bowi?

– Ja. 259

– Ihre Sorgen – zu mir. Zu sonst niemand.

Ein Blick des Dankes und der Erleichterung.

– Auf Wiedersehen, Bowi. Am Dienstag im Soldatenbad.

– Auf Wiedersehn – –

Es war eine milde Kühle aus den Wiesengründen heraufgekommen. Vom nahen Dorfe Krofft her schwamm der Lindenduft unter den Sternen heran. Der Lieblingsboston jener Zeit: »Rose mousse« wiegte sich durch das Dunkel . . . Ich ging gegen einen entfernten Punkt des Parkes, von wo man einen schönen Blick über Wald- und Wiesensäume haben mußte . . . Im ungewissen Licht der mondlosen Nacht hatte ich gesehen, daß an der Stelle, der ich zustrebte, ein kleiner Pavillon stand. Wie ich näher kam, erkannte ich den Kopf Gustav Ayhlers im Inneren des lichtlosen-dämmernden Raumes. Ich hielt die Schritte an. Kein Ton . . . Nein, da war niemand außer Ayhler. Nun hob er ein Glas. Mein Auge, das sich an das Zwielicht gewöhnt hatte, konnte feststellen: eines der einfachen Gläser, aus denen man in Baden und Württemberg die Landgräfler trinkt . . . Dann brach er ein Stück Brot . . . aß es . . . wartete . . . und blies die Wolke seiner langen, schmalen Zigarre in die Duft. Ich rührte mich nicht. Wie sollte ich von hier fortkommen ohne ihn aufzuscheuchen? Schon hatte er mich bemerkt. Er trat an das Holzgeländer, legte den Finger an die Lippen und winkte mir, heranzukommen. 260

– Es ist sehr gegen meinen Willen, Sie hier aufzustören, sagte ich . . .

– Reden Sie keinen Unsinn, Benrath! Sie verstehen, warum ich mich hierher geflüchtet habe . . . Bis hierher kommt kaum einer . . . Höchstens noch mein Neffe Lorsch oder der Kommandeur, die Bescheid wissen . . . Nehmen Sie Platz, trinken Sie meinen geliebten Pfälzer mit mir. Brot ist auch noch da . . . Sitzt man nicht mitten in den Sternen? Schön hier, was? War die ganze Liebe meiner Frau, dieser kleine Tempel . . . Und meines Ältesten . . . Ist lange her . . . Sagen Sie mal, Benrath, halten Sie's eigentlich hier noch immer so gut aus?

– Ja.

– Sie haben sich die nettesten jungen Leute unter den Studenten hier herausgefischt . . . den Kallenbach, meinen Neffen Lorsch – famos? was? – und dann diesen Bodenbach . . .Den Jungen möcht' ich mal unter vier Augen sehen . . . Studiert er nicht auch Chemie? Nein? Schade . . . Na, könnte ja noch werden . . . Ich hab' so meine stillen Pläne, wissen Sie . . . Mein Stiefsohn sitzt da jetzt in Greifswald mit dem Kuno Malkomesius beim selben Repetitor . . . Na, wollen mal abwarten, wann die Maus, die Dr. jur. heißt, geboren wird . . . Ach ja . . . Wer hat mir einen Repetitor gegeben? Haben Sie Beziehungen zu den Corps?

– Gar keine.

– Die Leute können nich umlernen . . . Reden heute 261 noch – Anno 1912 – vom »Koofmich«. Nich alle, aber viele . . . Sehn nich, was gespielt wird . . . 's sieht bös aus. Überhaspelte Entwicklung . . . Imperialismen, wo Sie hingucken in der Welt . . . Lesen Sie darüber das schöne Buch von Rudersdorff . . . Wie soll das enden? Der Kaiser redet – und der Bürger klatscht . . . Ja, ja: der Bürger . . . Weil es immer so ging, seit 71, muß es immer so weiter gehn . . . Politische Kulissenarbeit brauchen wir – Sicherungen – Rückversicherungen . . . Weiß einer, wie's in Wirklichkeit in Österreich aussieht? Flottenbau regulieren und Bündnis mit England. Einzige Möglichkeit . . . Darf was kosten . . . Und dann etwas langsamer vorwärts . . . Hier in dem Nest is 'n einziger Mensch, mit dem Sie Politik reden können – der Kommandeur. Wird wohl bald General werden. Macht sich nich viel aus den Akademikern . . . Sein drittes Wort: ›Doll, wie mit der Zeit der jungen Leute geaast wird . . . sieben Monate Hörsaal und fünf Monate Ferien . . . Warum müssen die Jungens nich nach jedem Semester 'n Zwischenexamen machen? Die Bummelei hörte von selbst auf . . .‹ Kann die bunten Mützen nicht sehen! Na – übertreibt 'n bißchen. Jugend is Jugend . . . Aber vielleicht hat er recht . . . Ich habe neulich mal mit ihm über die drei Aufsätze gesprochen, die Sie unter dem Titel: »Die Jugend unserer Zeit« veröffentlicht haben. Er meint, Sie unterschätzen den Wert der naturwissenschaftlichen Bildung . . . Hab' ich ihm abgestritten . . . Sie wollen doch 262 auch de facto nur sagen, daß ausschließlich naturwissenschaftliche Bildung den Menschen nicht formt.

– Aber selbstverständlich!

– Dann sollten Sie etwas umstilisieren. Das muß deutlicher herausgebracht werden . . . Auch die Ablehnung der Gleichstellung der Schulen müssen Sie besser belegen. Mir sind diese Aufsätze noch zu theoretisch – Gott, ja, Sie sind vierundzwanzig Jahre alt – ich hätte sie gern handgreiflicher, sachlich härter. Sie sind unbedingter Verfechter des klassischen Gymnasiums?

– Unbedingtester. Jenseits jeder Diskussion.

– Nanu, Sie werden ja ganz rabiat! Is nich nötig bei mir! Ich bin ja Ihrer Ansicht . . .

– Verzeihung. Aber da ist eine Stelle, an der ich sehr empfindlich bin. Lassen Sie es lächerlich sein: ich meine immer, wenn ich über dieses Thema rede, ich bin a priori in einer Abwehrstellung . . .

– Gott – dem nachkläffenden Durchschnitt gegenüber haben Sie ja auch recht! Wenn man manchmal diese Väter über die Berufe ihrer Söhne quasseln hört! ›Was braucht man, was braucht man nicht‹!

– Es gibt kein Verstehen der großen Zusammenhänge ohne die humanistische Grundlage. Lehrmethoden und ihre Abänderung gehen mich nichts an. Das ist Sache der Pädagogen. Da der Sinn wirklicher Bildung immer nur die vergleichende Erkenntnis der politischen und kulturellen Äußerungen großer Völker sein kann: so weiß ich nicht, wie ein Mensch – er sei denn 263 ein Genie – sich eine solche Bildung anders als auf humanistischer Basis aneignen soll. Will er diese Bildung nicht: gut! Man kann ihn nicht zwingen . . . Aber dann soll er ehrlich genug sein, sich zu seiner anderen Stufe zu bekennen und keine Ansprüche zu stellen, die ihm nicht zukommen. Je tiefer die allgemeine Bildungsebene sinkt, um so notwendiger wird die Auswahl.

– Unterschreibe ich Wort für Wort . . . Die Zeiten werden gemeiner werden. Das Untier Masse, zum Klassenkampf aufgepeitscht, wird ins Unvorstellbare wachsen . . . Ich bin kein Prophet, sondern ein Geschäftsmann. Und ich sehe, was sich formt. Wir wollen in zehn Jahren wieder davon reden, wenn wir noch alle beide leben . . . Aber bis dahin – –

Ich sah ihn an, als er plötzlich abbrach . . . Sein Gesicht hatte einen fast verzweifelten Ausdruck . . .

– Bis dahin?

– Bis dahin, mein Lieber – Er schwieg wieder, konnte das Wort nicht über die Lippen bringen . . .

– Glauben Sie wirklich, daß die europäischen Nationen? . . .

– Sie Kind! lächelte er . . . Warum soll ich das nicht glauben? Es fängt ja schon an, da unten zwischen Italien und der Türkei . . . Unser Bundesgenosse schlägt auf unseren Freund los . . . Wir schauen zu . . . und vertreten in der Türkei die italienischen, in Italien die türkischen Interessen. Das ist guter Ton in der Diplomatie . . . Benrath: Sie sind – trotz Ihrer vielen Reisen 264 und Erfahrungen–noch zu jung, um die Hintergründe der Hohen Politik zu begreifen . . . Aber es steckt ein großer Realist in Ihnen: Deswegen sage ich Ihnen – so bitter es auch sein mag: hinter allen Kriegen agiert nur der Geschäftsneid: sei es, daß einer einem ein gutes Friedensgeschäft nicht gönnen, sei es, daß er ein gutes Kriegsgeschäft durch offene oder stille Beteiligung machen will. So war es von je, so wird es bleiben, solange die Welt besteht. Sehn Sie: hier sitze ich oft stundenlang allein mit meinem Landgräfler und denke – und überdenke . . . und mache meine Berechnungen aus all dem Vielen, das ich als Vertreter des Welthandels weiß . . . Und da unten, hinter mir, da liegt diese kleine Provinzstadt mit ihrer »Gesellschaft« oder »Nichtgesellschaft«, mit ihren zusammenhangslosen »Belangen«, wie das schönste deutsche Wort heißt (ich glaube, Herr von Holstein hat es in Schwung gebracht) – da liegt die Professoreneitelkeit und Wichtigtuerei, da liegt der ganze Studentenzauber, die Mädels und die Mensuren und die Kneipen, da liegen die Konkurrenzen der Geschäfte und die ewigen Karusselle der Beamtenbetriebe – – das alles liegt da, ruhig, beruhigt, behäbig, selbstgefällig – – und ich frage mich manchmal mit Entsetzen, wann der große Hammer, den ich schweben sehe, herunterfallen und diesen ganzen Kram mit einem Schlage zermalmen wird . . . Mir selbst – mein Gott – mir könnte es ja schließlich gleichgültig sein. Ich bin bald sechzig Jahre alt . . . Ich 265 habe gelebt . . . Ich habe keine Wünsche mehr, die wesentlich wären . . .

Er winkte durch den offnen Holzrahmen . . . Der Regimentskommandeur und Lorsch kamen auf den Pavillon zu.

– Hab ich mir's doch gedacht, sagte von Barnefeldt zu Ayhler, daß Sie Genießer sich unter die Sterne zurückgezogen haben . . .

Ayhler holte Wein, Gläser und Zigarren aus dem Schrank . . . Wir waren so um den Tisch gruppiert, daß wir mit dem Rücken gegen die nach der Villa hin abschließende Wand saßen und den Blick nach dem offnen Südhimmel frei hatten.

– Haben Sie eigentlich schon gedient? fragte mich Barnefeldt.

– Ich habe mich vor ein paar Jahren bei den weißen Dragonern gemeldet, bin aber zurückgestellt worden, weil von einer schweren Blinddarmentzündung Verwachsungen geblieben sind, die operiert werden müssen.

Barnefeldt hob sein Glas . . . Dann sagte er:

– Professor Toggenburg hat mir Ihr Versbuch geliehen. Wir sprechen, wenn Sie wollen, darüber noch einmal unter vier Augen . . . Sagen Sie mir jetzt nur dieses Eine: Wie kommt es, daß man hinter den Worten eines so jungen Menschen wie Sie so viele Fragezeichen spürt?

– Herr Oberst: ich glaube, daß manche Menschen nicht sehr alt zu werden brauchen, um diese 266 Fragezeichen setzen zu können. Man muß nur – ohne daß einen das Schicksal darnach gefragt hätte, ob man mit seinen Geschenken einverstanden ist – sehr früh sehr viel gelebt haben . . .

– Jawohl, sagte Ayhler, jawohl . . . Die Fragezeichen melden sich ganz von selbst . . . und wachsen ins Ungemessene. Wie Pilze schießen sie um alles Geschehen auf – auch um dasjenige, welches sich selbstverständlich und kampflos in uns vollzieht . . .

– Bei den Allerwenigsten, Allerseltensten, ergänzte Barnefeldt. Die Massen klammern sich an die kleinsten Gewißheiten und, tausendmal lieber noch, an die verstiegensten Hoffnungen . . . Gerade damit hat man sie ja in der Hand, wenn man nur die – Dosierungen richtig zu geben weiß.

– Wer dosiert, Herr Oberst?

– Wer zu herrschen versteht . . .

– Und wer versteht zu herrschen?

– Wer sich selbst und sein Verhältnis zu den »Anderen« disziplinieren kann . . .

– Also immer nur ein Mensch, der – Distanz hat?

– Unbedingt. Wer »mitten mang« ist, herrscht nicht.

Langes Schweigen . . . Die Zigarre Ayhlers, der heftig rauchte, glühte wie ein kleiner roter Stern im grauvioletten Dunkel. Barnefeldts Hand legte sich auf meine Schulter:

– Sie empfinden sich als Westdeutschen? 267

– Ja. Ich fühle mich ganz als Kind meiner Heimaterde. Soweit die Papiere meiner Familie reichen, stammen die Vorfahren aus dem Westen und dem Süden . . .

– Sind Sie preußenfeindlich?

– Warum sollte ich? Preußen ist eine staatliche Gegebenheit, die jenseits privater Gefühle steht . . . Wir wollen, wie alle Deutschen, Deutschland. Das versteht sich doch von selbst.

– Man soll uns nicht imponieren wollen, sagte Ayhler. Wir sind Leute, die viel kritischen Sinn haben . . .

– Haben Sie mir in unserem ersten Gespräch gesagt, lieber Freund, lachte Barnefeldt. Ich habe feststellen können, daß Sie zehnmal recht haben. Ein Zug übrigens, der mir selbst sehr gefällt . . .

– Na, lieber Oberst, Sie haben sich erst sehr allmählich zu dieser Freude an unserer kritischen Art durchgerungen . . . Ihre Herren sind weniger erbaut von ihr . . .

– Meine Herren! Kann ich für meine Herren? – – Das Schöne ist, daß man immer lernt! Man wird, fürchte ich, in den nächsten Jahren noch allerhand 1ernen müssen!

– Sehen denn Herr Oberst wirklich so schwarz? fragte Lorsch.

– Noch schwärzer! Der Kram hält nicht mehr lange . . . England wird schüren, Rußland wird feuern . . .

– Und Frankreich? 268

– Hat den Russen viele Milliarden geliehen . . .

Das Gespenst des Krieges, das seit der unseligen Konferenz von Algeciras in Europa umging, war in den kleinen Pavillon eingetreten und nicht mehr zu bannen . . .

– Die Weltlage muß genau wie heute gewesen sein, sagte Barnefeldt, als Karthago dem wachsenden Rom die Schlinge um den Hals gelegt hatte . . .

– Herr Oberst, sagte Lorsch, ich glaube weder, daß man geschichtliche Vorgänge der Vergangenheit auf die Gegenwart übertragen noch daß man unmittelbare Nutzanwendungen aus ihnen ziehen kann. Jede geschichtliche Lage hat ihre eigenen Gesetze – verlangt also die nur ihr allein gemäßen Handlungen.

– Das glaube ich auch! bestätigte Ayhler.

– Ich sehe den sich ewig gleichbleibenden Sinn der Weltgeschichte und beuge mich vor ihm, sagte Barnefeldt.

– Ich sehe ihn nicht, sagte Ayhler, und ich glaube auch nicht an ihn.

– An was glauben Sie denn?

– An das Bedürfnis der meisten Menschen, Dinge in eine »Höhere Ordnung« zu rücken, welche zu allen Zeiten weiter nichts gewesen sind als die Folgen offensichtlicher Störungen im »Funktionieren« der menschlichen Gesellschaften . . .

Barnefeldt stützte seinen Kopf in die Hand und schaute schwermütig gegen den Horizont. Lorsch saß 269 in der gleichen Haltung. Es kam kein Gespräch mehr auf.

Frösche schrien aus den feuchten Niederungen herüber. Im Gartensaal jubelte der Walzer aus dem »Zigeunerbaron«. 270

 


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