Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Ich hatte den Pariser Wagen verlassen und war in den Berliner Schnellzug umgestiegen. Ein gold-grauer Oktobertag, der letzte des Jahres 1912, dämmerte über dem Land. Je weiter wir nordostwärts fuhren, umso lichtloser wurden die Himmel – und als der Zug in Philippinenthal einlief, fiel ein unruhiger Regen. Da ich meine Ankunft gemeldet hatte, fand ich den Hausdiener des Hotel Bristol auf dem Bahnsteig.

Vor genau zweieinhalb Jahren war ich zum letztenmal in dieser Universitätsstadt gewesen, um mit einigen Professoren meine Doktorprüfung zu besprechen. Nun waren alle Vorarbeiten beendet, und ich schickte mich an, die beiden letzten, notwendigen Semester an der Alma Mater Kunibertiana zu verbringen.

Während ich in dem Speisesaal, in dem einige Akademiker und Reisende saßen, zu Mittag aß, brachte man mir die Post, die für mich eingelaufen war, zwei Depeschen, vier Briefe und eine Karte. Germaine Fuentes drahtete aus Valencia nur die drei Worte: ›Bin bei dir.‹ Adrian Amersfoort aus Paris: ›Vergiß nicht, daß es weder Entfernung noch Trennung für uns gibt‹. Erst als ich diese beiden Depeschen gelesen hatte, begriff ich die volle Wirklichkeit: daß ich nun in dieser fremden Stadt bleiben, wohnen, arbeiten müsse, um einem Bildungsgang ein Siegel aufzudrücken. Ich entsann mich auch, daß ich mich hier in die Behandlung eines berühmten Arztes zu 10 begeben habe – und daß mich vielleicht ein anderer, ebenso berühmter, operieren werde.

Obwohl ich eigentlich hungrig gewesen war, ließ ich den Rest meines Essens auf dem Teller liegen, wies auch den Nachtisch zurück und ließ mir einen Kaffee-Kirsch bringen. Dann – nach einigem Hindösen – öffnete ich die Briefe. Professor Hinrichsen, der Romanist, schrieb:

»Sehr geehrter Herr Benrath, ich freue mich, Sie nun hier zu wissen. Ich hoffe, Ihre Studien in Paris werden von recht gutem Erfolg gekrönt sein. Nach dem, was Sie mir mitteilten, muß ja der von Ihnen zusammengetragene Stoff beträchtlichen Umfang haben. Ihn in meine Wohnung oder in das Romanische Seminar zu bringen, hat wohl wenig Sinn. Das beste wird sein, Sie berichten mir eingehend mündlich darüber und machen sich sogleich an die Festlegung des Textes. Erst wenn ich von diesem genaue Kenntnis genommen habe, werden eingehende Besprechungen über Einzelheiten angebracht sein. Wichtig ist mir vor allem, daß Sie an den Sitzungen des Seminares möglichst regen Anteil nehmen, zumal in diesem Winter Arbeiten meiner Studenten über französische Lautlehre (mit Einbeziehung der Dialekte) durchgesprochen werden. Es ist immer von Wert, wenn sich der Literarhistoriker auch um diese ihm oft etwas fernliegenden Fragen eingehend kümmert. Was nun Ihre Arbeit: »Die dichterische Technik Victor Hugos« angeht (oder 11 wie wollten Sie den Titel eigentlich ganz genau fassen?), so habe ich Ihnen einschlägige Literatur zurechtgelegt, deren Studium Ihnen sicher nur zum Vorteil gereichen kann, auch wenn zunächst der Bezug zu dem von Ihnen gewählten Thema nur ein sehr lockerer zu sein scheint. Es ist da vor allem eine recht interessante Arbeit über das Enjambement in der Romantik (vor wenig Wochen erschienen) und eine andere über den Infinitiv bei Lamartine. Aber darüber lieber mündlich. Von meinen Vorlesungen werden für Sie in erster Linie »Provenzalische Grammatik« und »Die Syntax im 16. Jahrhundert« in Frage kommen. Die Geschichte des klassischen Dramas können Sie sich schenken. Ebenso die praktischen Übungen des Lektors, hingegen Ihnen meine Phonetik vielleicht von Nutzen sein könnte, zumal ich hier sehr eingehend die neuesten Forschungen berücksichtige. Ihrem für den 1. November in Aussicht gestellten Besuch sehe ich mit Vergnügen entgegen. Meine Sprechstunden sind nachmittags von zwei bis drei in meiner Wohnung, Lessingstraße 48, parterre.

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Uwe Hinrichsen.«

So schrieb Herr Hinrichsen.

Der Historiker aber, Professor Unckmann, ließ sich folgendermaßen vernehmen: 12

»Willkommen, willkommen im schönen Philippinenthal, verehrter Herr Benrath, und mögen Ihnen hier recht freundliche und fruchtbare Tage beschieden sein! Sind wir zwar hier auch nicht in Lutetias Gefilden, so leben wir doch in der reinen Höhenluft des wissenschaftlichen Erkennens und Wirkens! Mit größter Genugtuung habe ich neulich Ihren Aufsatz über das palästinensische Liebesabenteuer der Königin-Witwe Adelasia gelesen und aus Ihrer Darstellung gesehen, daß Sie auf meinem Lieblingsgebiet, der sizilisch-normännischen Geschichte des XII. Jahrhunderts, recht schön zu Hause sind! Also kommen Sie so rasch wie möglich zu mir, an irgend einem Tag (außer Donnerstag) abends gegen sechs – und lassen Sie uns eine gute, eine fruchtbare Aussprache haben.

Ich begrüße Sie auf das Beste!

Waldemar Unckmann.«

Geheimrat Waizenwälzer, der Germanist, meldete auf einer Postkarte:

»Verehrter Herr! Meine Sprechstunden sind im Winter vormittags um acht. Ich stehe Ihnen zu jeder Aussprache über die Wahl des zweiten Nebenfaches für Ihre Doktorprüfung gerne zur Verfügung. Im Germanischen Seminar können Sie mich Samstags nach halb zwölf ebenfalls antreffen, falls Ihnen diese Stunde angenehmer wäre. In vorzüglicher Hochachtung

Geh. Rat Prof. Dr. Waizenwälzer.« 13

Der nächste Brief, den ich öffnete, trug auf der Rückseite des schiefergrauen Umschlags in blauem Hochdruck das Wappen des Philosophieprofessors Erwin Toggenburg. Er lautete:

»Also da haben wir Sie ja nun unter uns, lieber Herr Benrath, und das macht mir aufrichtig Freude. Denn nach allem, was Sie mir neulich über mein letztes Buch: ›Mittelbares und unmittelbares Gestalten‹ gesagt haben, warte ich ungeduldig darauf, mit Ihnen mündlich meine Gedanken auszutauschen, zumal Sie ja aus eigner Erfahrung um das Geheimnis dichterischen Formens wissen. Ich habe oft in Ihrem kleinen Buche ›Frühe Strofen‹ gelesen und finde, daß diese Dichtungen jetzt in einer allgemeinen Ausgabe veröffentlicht werden müssen. Wir werden – neben allem, was Ihre Doktorprüfung betrifft – auch darüber ausführlich sprechen. Machen Sie meiner Frau und mir bitte das Vergnügen, morgen, Mittwoch abend um acht, bei uns zu speisen, sofern Sie nichts Besseres vorhaben. Wir werden ganz unter uns sein, was Ihnen hoffentlich recht ist.

Also: auf Mittwoch abend – und alles Gute für Ihren Einzug in Philippinenthal. Mit herzlichem Gruß, auch von meiner Frau,

Ihr ganz ergebener

Erwin Toggenburg.« 14

Auch der letzte Umschlag, der noch verschlossen neben mir lag, trug ein Wappen auf dem Schlußdreieck der Rückseite – ein klargegliedertes, schwarzes Löwen- und Sternwappen – und außerdem einen schmalen Trauerrand. Er enthielt den Brief Tante Eugenies, der Witwe des Braunkohlenmagnaten Reinhold Malkomesius (in seinen letzten Lebensjahren des Hauptaktionärs der »Malkomesius-Braunkohlenwerke A.G.«). Das Wappen aber war nicht das ihres Mannes, sondern das ihres Vaters, des bekannten Reeders Jacques de Vannier aus Antwerpen. Niemals hatte sie ein anderes geführt, niemals sich mehr an eben dieses geklammert, als nach dem Tode ihres Gatten. Ich betrachtete lange die Schriftzüge: Wie hart, wie erstarrt waren diese regelmäßigen, leidvollen Buchstaben . . . Von welcher Unterdrückung des Natürlich-Lebendigen gaben sie Kunde, von welcher Angst, das Entscheidende zu tun . . .

Ich nahm die Blätter aus dem Umschlag und begann zu lesen:

»Mein lieber Henry, ich wüßte kaum den Gefühlen der Genugtuung und Freude Ausdruck zu geben, die uns alle bewegten, als wir vor einigen Tagen die Nachricht von deiner bevorstehenden Ankunft in Philippinenthal erhielten. Hatte ich doch nach allem, was mir Germaine – mit der wir (Gott sei's geklagt!) im August auf dem Landsitz meines Bruders Etienne in Lugano zusammentrafen – über dich erzählte, 15 kaum noch eine Hoffnung, dich hier promovieren zu sehen. Niemand konnte von deinem Entschluß angenehmer überrascht werden als Kuno, zumal er sich ja auch gerade mit allen Kräften auf sein Referendarexamen vorbereitet.

Auch Renate freut sich sehr auf dein Kommen. Du wirst versuchen müssen, lieber Henry, sie etwas aufzumuntern. Sie hat den tragischen Ausgang ihrer Ehe immer noch nicht überwunden und fühlt sich als junge, geschiedene Frau doch sehr neben das Leben gestellt. Auch quält sie der Gedanke, daß ich eine Gegnerin der übereilten Auflösung ihrer Ehe war. Mußte ich denn nicht auch umlernen? Und ist mein ganzes Leben nicht ein einziges großes Opfer gewesen? Sie malt viel, übt fleißig Chopin und Schumann und hört mit mir regelmäßig die ausgezeichneten Vorlesungen des Lektors Antoine Jacquemier.

Was ich unendlich bedaure, ist, daß du meinen Ältesten hier nicht vorfinden wirst. Die Firma hat ihn, nachdem sie auch in das große Holzgeschäft gegangen ist, auf zwei Jahre nach Nordamerika geschickt, wo er sich, wie er schreibt, sehr wohl fühlt. Es ist merkwürdig, wie verschieden die beiden Brüder sind. Allerdings ist Kuno um zehn Jahre jünger als Eduard und weit mehr verwöhnt. Sein Wald, seine Büchse, seine Pfeife, seine Hunde – und die Romane von Ganghofer: das ist Eduard. Und ein Herz von Gold . . . 16

Über Germaine hören wir die unerfreulichsten Dinge. Wie mein Bruder Gaston zu einer solchen Tochter kommt, ist mir mehr als rätselhaft. Auch der Onkel ihres verstorbenen Mannes, der Graf Esteban Fuentes, soll außer sich sein über das Leben, das sie schon vor Ablauf des Trauerjahres zu führen begann.

Aber wohin komme ich! Jedenfalls siehst du, daß es uns an Gesprächsstoff nicht fehlen wird.

Ich erwarte dich also heute abend um halb acht pünktlich. Ich habe das Essen absichtlich so früh angesetzt, damit wir recht lange Zeit zum Plaudern haben.

Tausend liebe Dinge, auch von Renate und Kuno,

Deine treue Tante Eugenie.«

Ich faltete die Blätter zusammen und schob sie in den Umschlag zurück. Etwas wie eine plötzliche Lähmung hatte von meinem Körper und meinem Geiste gleichzeitig Besitz ergriffen. Ich starrte in das Gewebe des Vorhangs, der das Fenster nach der Straße hin bedeckte . . . In meiner Kehle saß eine Beklemmung, welche wuchs und wuchs . . . und schließlich zu einer Angst wurde, zu einer grauen, feigen, infamen Angst . . . Angst wovor? Schon daß ich dieses »wovor« denken konnte, erschien mir wie eine Erleichterung, gab mir die Kraft, aufzustehen, den Raum, in dem ich noch 17 als letzter Gast neben einer halbgeleerten Kaffeetasse saß, zu verlassen und in mein Zimmer hinaufzugehen.

– Verzeihung, sagte der Oberkellner, der mir bis zum Aufgang der Treppe nachgelaufen war, Sie vergessen Ihre Briefe . . .

– Tausend Dank . . . Bringen Sie mir einen Cognac nach oben . . .

– Wird sogleich geschehen . . .

Ich sah auf meine Hand, welche die Briefe und Telegramme umschloß . . .

Wie sollte ich leben, atmen, arbeiten in der Luft, die mich aus diesen Briefen anwehte, das Schreiben Toggenburgs ausgenommen?

Ich lehnte am Fenster und starrte in die halb entlaubten Fliederbüsche eines gegenüberliegenden Gartens . . . Im Hintergrunde dieses Gartens, der nur aus einer einzigen großen Rasenfläche bestand, lag ein ödes, graugrünes Gebäude mit vielen vorhanglosen Fenstern und einer breiten Bogentür. Über dieser Tür stand in gewölbten Goldbuchstaben zu lesen: Chirurgische Klinik . . .

– Also da, sagte ich zu mir, also da wird man dich vielleicht unter das Messer nehmen . . .

Und ich wurde mir bewußt, daß ich ja nicht nur nach Philippinenthal gekommen war, um zu promovieren, sondern um durch die Hand eines der berühmtesten deutschen Fachärzte von einem Leiden befreit zu werden, das mir schon lange genug zur Last 18 gefallen und nur deswegen noch nicht behoben worden war, weil sich die Internisten nicht darüber klar werden konnten, worum es sich eigentlich handle und ob überhaupt geschnitten werden müsse . . .

Aber abgesehen davon – hatte nicht Adrian von Amersfoort, der große Freund und Vertraute seit sieben langen Jahren, darauf bestanden, daß ich »das exercitium dieses heimischen Universitätsjahres, mit allem, was es mit sich bringt«, auf mich nähme? Ich las nochmals die Depesche, die er mir geschickt hatte: »Vergiß nicht, daß es weder Entfernung noch Trennung für uns gibt« – – und im selben Augenblick war alle Angst verflogen, vernichtet in einer jähen Scham über die Anwandlung so unmännlicher Schwäche – und fast zugleich verwandelt in ein neugieriges, ja lustiges Gespanntsein auf alle Dinge, die nun kommen würden . . .

Ich trank den Cognac, den der Oberkellner gebracht hatte, zündete mir eine Zigarette an und begann, die notwendigsten Sachen auszupacken. Denn ich rechnete damit, spätestens am Abend des kommenden Tages ein ordentliches Zimmer gefunden zu haben. Ich überschlug meine Zeit: Es war drei Uhr. Es blieben mir gut vier Stunden, um einige Depeschen und Briefe aufzugeben, die Verzollung meines vorausgeschickten Gepäckes vornehmen zu lassen und auf die Wohnungssuche zu gehen. Denn wenn mich Tante Eugenie auf pünktlich halb acht zu sich gebeten hatte, so konnte 19 ich ohne weiteres erst um acht Uhr kommen und sicher sein, daß man um halb neun immer noch nicht zu Tisch gegangen sein würde. Ich kannte die Saumseligkeiten dieses Hauses nur zu gut, da ich in meiner späten Schulzeit oft genug bei Kuno zu Gast gewesen war. Immerhin: ich würde zur Vorsicht vorher anläuten, um nicht das Wiedersehn mit einem Mißton beginnen zu lassen. 20

 


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