Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Ich war in der letzten Aprilwoche, nach einem kurzen Besuch bei meinen Eltern und bei Manfred, nach Philippinenthal zurückgekehrt. Das neue Semester hatte im Überschwang eines fast unwahrscheinlichen Frühlings begonnen. Die kleinen Universitätsstädte sehen um diese Zeit aus, als sei das Herzleuchten der jüngsten Studenten, denen das Leben noch nicht auf die Flügel getupft hat, in die Lüfte über ihren Giebeln geflattert . . . in die Buntheit ihrer wartenden Schaufenster, über die Tische der frischgestrichenen Gartenterrassen . . . In den Friseurgeschäften sind die neuen Haarwasserbatterien der einzelnen Verbindungen aufgefahren (jede Flasche trägt die Farben und den Namen des Besitzers), in den Buchhandlungen feiern die »Leitfäden« Orgien einer fast militärischen Aufreihung . . . Das Glück selbst scheint seinen Einzug gehalten zu haben . . .

In meinem eignen Dasein hatte es kaum Änderungen gegeben. Kuno war nach Greifswald übergesiedelt und hatte den Gedanken an das Referendarexamen aufgegeben, Bowi war mit Ach und Krach versetzt worden, Edgar konnte sich noch nicht zu einer Entscheidung aufraffen, aber das Armband mit den Farben der Burgundia trug er nicht mehr. Kallenbach war glücklich, Otto war stiller geworden, als uns lieb war. Wir wurden das Gefühl nicht los, daß er einen absonderlichen Plan ausbrüte, über den er sich ausschwieg. Tante Eugenie – von Renate 210 sekundiert – erwartete das Glück von Kunos Verbannung in die Arbeit. Kädda aber hatte mir ins Ohr geflüstert, daß ihre Tochter Ria im sechsten Monat sei. Das Rabenmensch habe sie fünf volle Monate lang hintergangen . . . Nicht einmal dem eignen Kinde könne man in diesen Zeiten noch trauen – – und es sei die größte Beleidigung für eine Mutter, an der Schwangerschaft ihrer Tochter nicht von allem Anbeginn teilzunehmen. Sie sage nun überhaupt nichts mehr. Hochheiligdaseigottfür und so wahr die Frau etwas weniger habe als der Mann sage sie kein Todessterbensmausewörtchen mehr. Sie wisse, was sie sich schuldig sei. Sie habe nachgelesen, was in Gottlieb Schlauchs Taschenkalender stehe, Seite 15: Eltern und Kinder:

»Das Kind, das seine Mutter nicht mehr ehrt,
Ist eines Mutterherzens nicht mehr wert.
Erst wenn es reuig um Verzeihung fleht,
Die Mutterliebe wieder aufersteht.
Wohl ihm, wenn es sich früh genug besinnt,
Eh seine Träne auf dem Kirchhof rinnt!«

Ria solle nur nicht glauben, sie werde zur Geburt hinfahren und den Maschures machen. Sie sei keine Hebamme. Sie wolle ihre Ruhe, ihre hochwohlverdiente Ruhe, ihre dreimalbeinundschenkelohnerheumatismus Ruhe. Drei Schinken habe sie hingeschickt, ein Faß 211 Sauerkraut, Persil zum Waschen für ein ganzes Jahr, sechs selbstgestrickte Leibbinden für ihren Schwiegersohn, der es leicht einmal in den Därmen habe, drei Meter hochpikfeinen Velvetsamt zu einem Kleid für ihren Enkelsohn, Eingemachtes auf neuste Art und ein lektrisches Bügeleisen, ein hochölglattes Leichtstoßbügeleisen, wo nichts anbrennen kann . . . Und das sei der Dank . . . Nein, es sei Schluß – Schlußbumsundbastaalleweil . . . Mein gereinigter Anzug sei gekommen . . . Der Nachbar Seligmann habe ihr erzählt, die Soldatenfranziska, die alle Abend mit dem Täschchen den Kasernenweg hinaufgehe, sei gestern abend vom Vorgarten aus bei mir eingestiegen . . . Das sei bestimmt gelogen! Mit einem solchen Mensch gäbe ich mich doch nicht ab. Aber man könne nie wissen. Sie habe schon einmal vor vielen Jahren einen hochwohlnoblen Studenten gehabt und der habe auch . . . Aber daran sei nur ihre Tochter Ria schuld gewesen . . . Doch davon wolle sie jetzt nicht sprechen. Ob sie Zunge und geräucherte Leberwurst vom Knollmann mitbringen solle, und der Klavierstimmer komme erst am Montag. Die Witwe Sulzmann von nebenan habe Krebs von ihrem Lebenswandel, und der Doktor Schaub habe gesagt, gegen Ausschweifungskrebs sei kein Kraut gewachsen. Die Milli bei »Hassel« gehe, sie übernehme eine Filiale von Greb & Grützner in Wiesbaden. Sie habe ihr »Kofferchen gepackt«, aber der Forstmann heirate sie nicht, er wolle Abstand 212 zahlen und Limente. Diese Weinwirtschaften hätten es in sich . . . nichts wie um die Dulla, nichts wie um die Dulla.


Mit Frau Posttirektor Fürbringer – Fürbringer? wo und in welchem Zusammenhang hatte ich diesen Namen gehört? – also mit Frau Lotte Fürbringer, sagte sie eine Woche später, hätte ich auch etwas freundlicher sein können. Es sei gar nichts dabei, daß sie Frau Posttirektor Fürbringer in meiner Abwesenheit meine – ihre – hochwohlnobelschönen Salonzimmer gezeigt habe – und ich sei dazugekommen und habe gesagt, meine Wohnung sei doch kein Museum . . . Frau Posttirektor sei ihre Freundin, die Tochter aus dem Baugeschäft Beutelmann. Eine schöne, saubere, junge Witwe. Eine glückliche und bis zur Grabesstunde sicher gestellte Witwe, der das Butterbrot niemals auf die geschmierte Seite gefallen sei! Die habe es verstanden! Der alte Posttirektor Fürbringer habe jahrelang als Junggeselle bei ihren Eltern gewohnt. Er sei ein feiner, nochmals feiner und kränklicher Mann gewesen – und Lotte habe sich in den Kopf gesetzt, ihn und sich glücklich zu machen . . . Sie habe es fertig gebracht – und sei als Ehefrau in dem Bett des alten Mannes verblieben, in das sie als Bettschatz hineingehüpft sei . . . Und alles sei so praktisch gewesen – der Vater hätte keine Möbel und keine Ausstattung zu kaufen brauchen – sie sei 213 einfach nur über den Flur zu ihrem Alten gezogen . . . Gewiß, sie habe vielleicht manchmal den Kopf zur Seite gewendet und einen Husten vorgeschützt, wenn er sie hätte abschmatzen wollen . . . Aber das Abschmatzen sei nicht die Hauptsache in der Ehe. Und schließlich solle einer ihr einmal sagen, wo alles, alles nach Wunsch gehe – und wo man nicht Wasser in seinen Johannisbeerwein gießen müsse . . . Kurz und gut: nach einem Jahr habe der alte Posttirektor eine schwere Infolenza mit seftischer Lungenentzündung bekommen – und fort war er, fort, fort, fort, futschigato. Und sie war eine junge, hochblühende Witwe – wunderbar habe sie ausgesehen im Kreppschleier und später mit dem weißen Rand am Trauerhut – wie die Maria Schduad – und das Geriß um sie sei sofort losgegangen. Denn sie habe außer einer Pension von 450 M. im Monat noch ein Vermögen in bar, Häusern und Grundstücken von 139 000 M. geerbt. Sie ganz allein, ganz und hochwirklich mutterseelenallein! Aber sie habe alle Bewerber abgewiesen! Das habe sie gerade nötig gehabt, noch einmal zu heiraten! Was die Ehe sei, das habe sie ja gewußt – und diese Erfahrung noch einmal zu machen: dafür gebe sie ihre schöne Pension bis an ihr seliges Ende nicht auf! Was sie sonst brauche, das könne sie sich als reiche, pensionierte Witwe suchen, wo sie wolle! Dumm sei ich, kreuzdumm, mir so eine Gelegenheit entgehen zu lassen, wo sie doch die Frau Posttirektor nur 214 meinetwegen habe in das Zimmer geführt und ihr den Mund nach mir langgemacht! Alles habe sie ihr gezeigt, meine Anzüge, meine Wäsche, meine Dolettensachen . . . und das Bild im Silberrahmen auf meinem Schreibtisch, das Bild mit der Eleganten, das habe sie absichtlich fortgetan und mir gesagt, der Rahmen hätte geputzt werden müssen. Mehr wie eine Mutter sorge sie für mich – und ich danke es ihr nicht! Noch nicht einmal einen Stuhl habe ich der Frau Posttirektor angeboten, wo ihr doch jedermann fast in den Hintern kröche! Ich sei gerade so dumm und dickköpfig wie ihre Ria – die habe auch nicht kapieren wollen! Einmal nur komme das Glück – und dann müsse man es am Schlawitsch packen . . . Aber das habe das dumme, das zum Wandeinrennen dumme Stoffelsmensch nicht getan . . . Da sitze sie nun, die Ria, in Kaiserslautern mit ihrem Karl-August, in der Effgalienverwertungsfabrik, die ein ganz gutes, aber noch lange kein prima Geschäft sei – da sitze sie – und könnte doch schon Frau Professor sein, wenn sie nur zugegriffen hätte, ja, ja, ja, wenn sie nur zugegriffen hätte. Denn der Herr Professor, das sei jener hochhochnoble Student, der bei ihr gewohnt habe. Er habe eine großartige Kajäre gemacht, weil er oben ein Ärmchen besessen habe – und sie könne sich noch die Haare an jeder Stelle ihres Körpers ausreißen, wenn sie bedenke, daß sich die Ria diesen Braten habe entgehen lassen! Denn der 215 Herr Professor, Herr Ludwig Zickner, habe nicht nur ein, sondern zwei Augen auf sie geworfen gehabt! Ein schöner, ein erquickender, statiöser Mensch! Und fleißig, was fleißig heißt! In der linken Hand das lateinische Buch, in der rechten das heweräische, und als auf und ab im Zimmer, und bald lateinisch und bald heweräisch gebabbelt, und den Blick zur Decke und, ›Frau Mulch, stören Sie mich nicht, ich bin bei meiner Examen‹ und ›Frau Mulch, wer bei seiner Examen ist, der spürt nicht Hungers noch Durstes‹, und ›Frau Mulch, Gott hat Ihnen ein schönes Kind gegeben, ein schönes, blondes Mädchen‹, und ›Frau Mulch, das bestgewachsene Geschöpf, das meine Augen je gesehen‹ und ›Frau Mulch, glücklich der Mann, der dermaleinstens von diesem schönen Menschenkind Kinder haben darf‹ . . . Ach, noch heute würden ihr die Augen feucht, wenn sie an diesen Mann denke . . . und könnte doch ihr lieber, herrgottsliebtreuer Schwiegersohn sein! Nur für ihn habe sie der Ria das geblümte Hauskleid und das blausamtene mit der weißen Seidenlitze machen lassen – und habe ihr das Frühstückstablett mit Spitzendeckchen in die Hand gedrückt und gezeigt, wie man es machen müsse! ›Guten Morgen, Herr Zickner! Haben Sie gut geschlafen? Ach, und wie frisch Sie aussehen, wie jung! Und wie gut Ihnen der kleine Schnurrbart steht! Was ist ein Mann ohne Schnurrbart? Ein Konfirmand . . . Geben Sie auf Ihre Nerven acht, Herr Zickner! Arbeiten Sie 216 nicht zuviel! Sie überanstrengen sich! Sie müssen auch an die Freuden des Lebens denken!‹ Und dann etwas gelacht, und die Zähne gezeigt – wunderbare Zähne habe die Ria gehabt – und etwas näher gekommen und einmal mit dem Ellenbogen wie aus Zufall an ihn gestoßen, und sich mit dem Rücken gegen ihn gestellt und gestolpert und gegen ihn gefallen . . . Und da solle ein schwarzäugiger, heißblütiger Mann wie Herr Zickner nicht auf Heirat anbeißen? Aber die Ria sei eben ein Hornochsenmensch gewesen . . . Bums, habe sie das Kaffeetablett hingestumpt – bums, dem Herrn Zickner wieder ihren dicken Allerwertesten gezeigt (›wissen Sie, sie war etwas breit‹) – und bums, sei sie zur Tür draußen gewesen und am Briefkasten und geguckt, ob vom Karl-August ein Brief da war! Ja, ja, ja – so sei das gewesen, und dann habe Herr Zickner mit einem Freund und noch einem Freund zusammen aus lauter Verzweiflung der Pflegetochter der Frau Rechnungsrat Gutberlet den Klapperstorch bestellt – aber er habe keine Limente zahlen müssen, weil es der Fall plurius gewesen sei, und es sei vertuscht worden, und Gottseidank sei das Kind gestorben . . . Ja, ja, auch sie könne etwas erzählen, und man brauche noch lange nicht in Paris zu wohnen oder in einer von diesen Dreckmenscherstädten, um das Leben kennen zu lernen! Sie habe acht Jahre lang die Wirtschaft »Zur grünen Linde« gehabt, eine Goldgrube! Und was sie da erlebt habe, 217 daraus könne man einen Roman machen, einen ganzen, dicken Roman! Vier Studentenverbindungen habe sie zum Essen gehabt, und noch viel mehr sommerabends in ihrer großen Gartenwirtschaft – und jahrelang habe sie sieben Zimmer im dritten Stock nur an die Verbindung »Siegerlandia« vermietet! Und wie gern – oh, wie hochgern hätten die Studenten bei ihr gewohnt! Vier »Mahden« (Mädchen) habe sie halten müssen! Und nie nicht sei ihr bekannt worden, daß etwas vorgekommen sei! Und sei ›allgemein Bedauerns und Klagens‹ gewesen, wie sie wegen ihrer schweren Beine und schlechten Augen – ›oh, meine Augen, ach, meine Augen‹ – die Wirtschaft habe aufgeben müssen . . . Aber einmal habe alles ein Ende – und sie warte nur noch im Glauben an Gott, unseren Herren, auf das ihre. Sie habe ihr Leben lang nach dem Wahlspruch gelebt: Tue recht und scheue niemand . . . Und sei sie im Zweifel gewesen, so habe sie zu Gottlieb Schlauchs Taschenkalender gegriffen und sich neue Kraft geholt. Denn darin finde man alles, alles, alles, genau so, wie es vorne geschrieben stehe:

»In diesem Buche findest du,
Gewißheit, Weisheit, Trost und Ruh.
Für jede deiner Lebenslagen,
Wird Schlauch dir stets das Rechte sagen.
Warst du betrübt: du weinst nicht mehr,
Denn Schlauch ist allen Kummers Wehr – 218
Lachst du zuviel, ermahnt dich Schlauch:
Die Lust verflüchtigt sich wie Rauch.
Bei jedem deiner Erdentritte
Zeigt Schlauch dir stets die rechte Mitte«.

Ich solle mir nur den Schlauch kaufen. Und der »Prinz« auch!

Mit dem »Prinzen« meinte sie Manfred. Sie hatte ihn so getauft wegen seines edlen, gar zu hochedlen Aussehens. Samt und Seide müsse man ihm anziehen, und eine Krone ins blonde Haar. Ein herrgottswunderappetitlicher Mensch, wie sie noch nie keinen gesehen habe. Zu schade für diese Welt . . . zu schade . . . zu jammertränentalensschade. 219

 


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