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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Der Gefangene zu Elmira

Das Gefängniß von Elmira für kriegsgefangene Conföderirte Soldaten lag am Abhange eines waldbewachsenen Bergkammes und gewährte fast den Anblick einer kleinen Stadt. Sechszig lange kasernenartige Gebäude bildeten die Mitte und unzählige hölzerne Baracken und Zelte schlossen sich in winkelrechten Reihen daran. Das Ganze umgab ein etwa zwölf Fuß hoher Bretterzaun, aus welchem in weiten Distanzen auf einer daran befindlichen Plattform Posten aufgestellt waren. An dem einen Ende dieser kleinen regelmäßig gebauten Stadt befanden sich, von den übrigen Gebäuden entfernt, die Gebäude für das Hospital.

Das ganze Gefängniß mit seinen schönen Spaziergängen, lieblichen Rasenplätzen und schattigen Baumgruppen bot einen äußerst wohlthuenden Anblick. Alles hatte den Anstrich der Ordnung, der Reinlichkeit und der Bequemlichkeit. Die Gefangenen, von denen je sechs ein Zimmer oder ein Zelt bewohnten, konnten ganz nach Gefallen in den Gängen spazieren gehen oder in dem Schatten der Bäume auf dem Rasen lagern. Es fehlte diesen Leuten nichts als die Freiheit, und die Entbehrung dieses einen Gutes war ihnen so leicht gemacht, wie es überhaupt geschehen konnte.

Von Elmira nach dem Gefängnisse hin fuhren ununterbrochen Equipagen und Omnibusse, denn heute kamen mehrere Züge kriegsgefangener Soldaten an, die hier untergebracht werden sollten; um diese zu sehen, waren Tausende von Fremden aus allen Orten der Nähe nach Elmira gekommen.

Nicht alle Equipagen aber enthielten blos Neugierige, eine, die langsam herbeifuhr, hielt vor dem Eingangsthor an. Die Wache öffnete und man hob ein schönes, bleiches, todtkrankes Mädchen aus dem Wagen. Gefangene und Soldaten stürzten herbei und stießen Rufe der Ueberraschung aus und blickten theilnehmend auf die liebliche Gestalt.

»Es ist Nelly, das liebe Mädchen!« hörte man von allen Seiten sagen. »Was mag ihr nur widerfahren sein?«

Der Unteroffizier der Wache ließ sie auf die Matratze eines Feldbettes legen und in die Amtswohnung des Hospital-Aufsehers tragen.

Wenige Minuten später sah man zwei Männer aus einem Omnibus steigen und ebenfalls die Richtung nach dem Eingange des Gefängnisses nehmen. Ehe sie denselben erreichten, standen sie still und betrachteten dasselbe mit sichtbarer Verwunderung.

»Beim Henker!« hob nach einer Weile der Aeltere an. »Ich hätte nicht gedacht, daß sich eine Regierung so viele Umstände mit den Kriegsgefangenen macht. Das sind ja Häuser, wie sie viele Farmer nicht besser bewohnen, und Promenaden, als ob diese Leute hier zu ihrer Erholung eine Sommerwohnung gemiethet hätten. Da verstehen es unsere Herren doch besser mit den Yankees umzuspringen. – Wenn man bedenkt, das Gefängniß bei Millen und dies –«

Der Gefährte des Mannes brütete in finsteren Gedanken.

»Was ist Ihnen, Mr. Booth?« fragte der Andere.

»Das Gefängniß macht auf mich einen sehr übeln Eindruck, Mr. Atzerott.«

»Einen übeln Eindruck? – Na, ich denke, jeder Soldat, dem es in der Gefangenschaft so geboten wird, kann sich gratuliren.«

»Das bestreite ich nicht, aber ich wollte, der Commandant dieses Gefängnisses, der Major Colt, hätte etwas mehr Aehnlichkeit mit unserem Wirtz«

»Wie können Sie unseren Soldaten nur ein solches Schicksal wünschen?«

»Das ist nicht der Grund, weshalb ich es sage, aber mich überkommt ein peinigendes Gefühl, wenn ich sehe, wie die Yankees uns an Großmuth und Menschlichkeit zu übertreffen suchen.«

»Nichts als Prahlerei, Mr. Booth. Ich würde Sanders, Breckenridge und Wirtz für Narren erklären, wenn sie von ihrem System abgingen und auch die Prinzipien der Menschlichkeit an ihr Aushängeschild schrieben. Wir machen es, wie wir wollen und die Yankees, wie sie wollen. Wollen sie unseren Gefangenen Villen bauen, so lassen Sie ihnen doch das Vergnügen, nur sollen sie sich nicht einbilden, daß das auch für uns maßgebend ist.«

Sie hatten sich inzwischen dem Zaune genähert. Da faßte Atzerott seinen Gefährten am Arm.

»Ich werde nicht weiter mitgehen. Es kennt mich in dieser Gegend so Mancher. Gehen Sie nur allein hinein. Ich werde mit dem nächsten Zuge nach New-York abfahren und dort das Experiment mit den Kleidern anstellen. Zu Surrattsville statte ich Ihnen Bericht ab. Ich wünsche Ihnen den besten Erfolg.«

Booth erwiderte kalt den Gruß seines Spießgesellen und warf ihm einen verachtenden Blick nach.

»Es wäre mir lieber, ich könnte ohne diese elenden Creaturen fertig werden,« murmelte er.

»Wohin, Sir?« rief ihn der Posten vom Thore an, als er sich demselben näherte.

»Zum Commandanten. Ich wünsche einen Gefangenen zu sprechen.«

»Wird wohl nicht angehen, Sir. Aber wenden Sie sich an den Wachthabenden.«

Der Wachthabende zuckte ebenfalls die Achsel, als er das Anliegen des jungen Mannes gehört hatte.

»Nur in Ausnahmefällen können wir den Besuch Fremder gestatten. Zu wem wollen Sie denn?«

»Zu Mr. Robert Payne.«

»Dem Arzt?«

»Ich weiß nicht, ob er hier ebenfalls als Arzt fungirt, früher aber, ehe er in die Armee der Conföderirten eintrat, war er Arzt.«

»Das ist derselbe, den ich meine. Zu dem dürfen Sie am allerwenigsten, ja wenn es ein Anderer wäre, dem man kein Complott zutraut, dann hätte es nicht solche Schwierigkeiten, aber dieser Payne ist ein Mensch, der stets auf Intriguen oder Meuterei oder Gewaltthätigkeiten sinnt.«

»Mein Anliegen aber ist ein sehr dringendes.«

»Worin besteht es?«

»Ich komme von seinem Vater, einem Prediger in Kentucky, und bringe ihm dessen letzten Gruß und letzten Willen.«

»Ah,« sagte der Unteroffizier, »das ist etwas Anderes. – Ja wohl, in einem solchen Falle muß man eine Ausnahme machen. Folgen Sie mir, Mister –. Wie heißen Sie doch?«

»Booth – Wilkes Booth.«

»Mister Wilkes Booth, ich werde Sie zum Commandanten führen.«

Der Major Colt war ein liebenswürdiger und freundlicher Mann. Er hörte theilnehmend die erfundene Geschichte vom Tode des Predigers Payne mit an, und gab dann ohne Umstände die Erlaubniß, den Gefangenen zu sprechen.

»Sie müssen sich aber zu dem Zweck nach dem Hospital bemühen,« fügte er hinzu. »Mr. Payne hat heute dort den Dienst als Assistenzarzt. Wir haben ihm diese Beschäftigung angewiesen, weil wir glauben, daß er in seiner Berufsthätigkeit die Unannehmlichkeiten einer Gefangenschaft leichter ertragen und weniger empfinden wird. Es scheint in der That, als ob er jetzt sein Schicksal erträglicher findet. Während er Anfangs alle Augenblicke die verwegensten Fluchtversuche machte, hat er dieselben in letzter Zeit gänzlich aufgegeben. Er thut seine Schuldigkeit im Hospital und ist ein unermüdlicher Arzt. – Ich würde Sie der Unannehmlichkeit überheben, Mr. Booth, nach einem Ort zu gehen, wie ein Hospital doch immer ist: ich könnte Mr. Payne hierherrufen lassen, allein das geht nicht, da der Oberarzt gerade mit der Untersuchung der neuangekommenen Gefangenen beschäftigt ist.«

Mr. Booth erklärte, daß es ihn durchaus nicht genire, in ein Hospital zu gehen; darauf schrieb der Commandant ein paar Worte auf einen Zettel und händigte ihm denselben ein.

»Geben Sie das Mr. Smith, dem Aufseher, der wird Sie zu Mr. Payne hinführen.«

Booth dankte und empfahl sich.

Als er den langen Gang des mittleren Hospitalgebäudes dahinschritt, stürmte ihm ein ältlicher kleiner Mann entgegen. Er stellte sieh demselben mitten in den Weg.

»Lassen Sie mich, Sir,«' sagte der alte Mann. »Ich habe jetzt keine Zeit, ich muß in meine Wohnung.«

»Ich will Sie auch nicht aufhalten,« versetzte Booth, »sagen Sie mir nur in aller Eile, wo ich den Aufseher, Mr. Smith, finde.«

»Der bin ich selbst, Sir; aber ich habe keine Zeit, es hat sich in meinem Hause ein Unglück zugetragen ...«

»Und ich habe noch weniger Zeit,« unterbrach ihn Booth. –

»Hier ist ein Befehl des Commandanten. Führen Sie mich zu Mr. Robert Payne, dem Assistenzarzt.«

»Gehen Sie dort hinein, in die Thür rechter Hand, da werden Sie ihn finden.«

Booth ließ den Alten los, der in vollem Laufe seiner Wohnung zueilte, und näherte sich der bezeichneten Thür, die zum Sprechzimmer führte.

In dem Sprechzimmer saß an einem Tische neben dem Fenster ein Mann, der den Kopf sinnend in die Hand stützte. Er war in einfacher, aber eleganter schwarzer Kleidung. Sein Blick war finster, stier und durchbohrend, seine Gestalt eine wahrhaft herkulische.

Ob er wohl träumte, daß 18 Monate nach diesem Tage die Beschreibung seiner Person in allen Blättern Amerika's zu lesen war? – Wir können unsern Lesern kein besseres Bild von der Person dieses Mannes geben, der in der blutigen Katastrophe des April 1865 eine so wichtige Rolle spielte, als wenn wir die Anzeige wiedergeben, die damals in allen Zeitungen in gesperrten Lettern zu lesen war. Diese Anzeige lautete:

»Signalement des Mörders Robert Lewis Payne. Höhe 6 Fuß 1 Zoll; schwarzes, dickes, volles und schlichtes Haar; weder Bart noch eine Erscheinung des Bartes; an den Kinnladen rothe Backen; Gesicht ziemlich voll; 26 oder 27 Jahre alt; große Augen, aber nicht hervorstehend, Farbe der Augen braun, die Brauen sind schwarz und düster; Gesicht nicht groß aber rund; Gesichtsfarbe gesund; Nase gerade und wohlgeformt und von mittlerer Größe; Mund klein; Lippen dünn, die Oberlippe steht vor, wenn er spricht; Kinn spitzig vorstehend; Hals kurz; Hände weich und klein; Finger spitz zulaufend und keine Anzeichen harter Arbeit tragend; breite Schultern; schlank in den Hüften, gerade Figur, stark aussehender Mann; trägt einen Ueberzieher mit Taschen an den Seiten. Pantalons schwarz, neue Stiefel. Stimme tief und hohl klingend.«

Das war der Mann, der brütend dort am Fenster saß, und wahrlich, dieser wilde, leidenschaftliche Blick stempelte ihn schon damals zum Mörder. – –

Er hatte den Rücken der Thüre zugewandt und bemerkte das Eintreten Booth's nicht, der auf ihn zutrat und von hinten seine Schulter berührte.

Payne schrack zusammen, als ob er über einem Verbrechen ertappt worden sei und blickte sich erbleichend um.

»Wilkes!« rief er, »bist Du auch hier?«

»Nicht als Gefangener, Robert. Ich komme, um Dich zu besuchen und zu befreien.«

Der finstere Mann lachte laut auf; aber sein Lachen klang wie das Hohngelächter eines Dämon.

»Hältst Du das für unmöglich?« fragte Booth. »Ich habe mir Dein Gefängniß so genau angesehen, daß ich der Ueberzeugung bin, es muß nicht schwer sein, daraus zu entkommen, daß Du Dich aber nach der Freiheit sehnst und die Gitter dieses Käfigs zu durchbrechen wünschst, wie ein gefangener Jaguar, davon bin ich überzeugt.«

Der Angeredete schwieg.

»Ich sehe, daß Du heute noch so verschlossen bist, wie Du es von jeher warst,« fuhr Booth fort. »Gut, so will ich für Dich reden. – Du sehntest Dich früher nach Freiheit, erst seit ganz kurzer Zeit hast Du Deine Fluchtversuche aufgegeben.«

Payne blickte ihn betroffen an.

»Woher weißt Du das?«

Ohne auf die Frage zu antworten, fuhr Booth fort:

»Das ist nur auf zweierlei Weise erklärlich. Entweder Du bist mit Deiner Lage so völlig zufrieden, daß Du das Vaterland und die Pflicht gegen dasselbe über die Behaglichkeit vergißt, oder es ist ein Gefühl in Deiner Brust, das stärker ist als die Liebe zur Freiheit«

»Das ist es, Wilkes. Wenn ich diese Ketten, die mich an diesen verfluchten Ort fesseln, heute abwürfe, ich würde, wo ich auch sein möchte, schwerere Ketten mit mir umherschleppen. – Aber meine Pflicht vergessen? – Meine Rache vergessen? – Nie, nie!«

»Also Du giebst Deine Rache nicht auf.«

»Eher mein Leben.«

»Und doch willst Du nicht frei sein?«

»Nein, wenigstens jetzt noch nicht. Später, später hole ich Alles nach.« –

»Aenderst Du Deinen Beschluß auch dann nicht, wenn ich Dir sage, daß ich expreß gesandt bin, um Dich zur Theilnahme an unserer Befreiung von der Tyrannei aufzufordern?«

»Auch dann nicht.«

»Es giebt nur ein Gefühl, was mächtig genug wäre, einen solchen Entschluß zu rechtfertigen – Das ist die Liebe! ... Liebst Du etwa?«

»Ob ich liebe? – Nein, die Flammen der Liebe kenne ich nicht, aber das Feuer der Leidenschaft, die Guth der Wollust, die kenne ich, und die sind es, die hier verzehrend brennen.«

»Er drückte die Faust auf seine breite Brust und athmete schwer, dann fuhr er fort:

»Ich will offen gegen Dich sein, damit Du weißt, in wie weit und wann Du auf meine Hilfe zählen darfst. – Das Mädchen, welches ich meine, ist die Tochter eines verfluchten Yankees, des Aufsehers vom Hospital. Sie ist schön, unschuldig und der Gegenstand einer fast abgöttischen Verehrung bei Hoch und Niedrig. – Sie muß mein werden!«

»Was, Du willst die Tochter eines Yankees heirathen, suchst das Glück häuslicher Zufriedenheit – Du?«

Payne machte ein verächtliches Gesicht.

»Sprach ich von Heirath oder von Glück? – Ich sage, sie muß mein werden. Ich brenne vor wilder Lust, und ich schwöre beim Satan und seiner Hölle, ich ruhe nicht eher, als bis ich diese Lust an ihr gebüßt. Das ist Seligkeit und Rache zu gleicher Zeit. – Ist das geschehen, Wilkes, dann gehöre ich Dir!«

»Und wenn es Dir nicht gelingt, sie Deiner Lust zu opfern? ...«

Ich habe geschworen, daß es geschehen soll, und es wird geschehen – da hilft kein Einschließen und kein Sträuben!«

»Und ich sage Dir, daß es nicht geschehen wird.«

Payne blickte ihn fragend an.

Noch ehe Booth eine Antwort geben konnte, wurde die Thür hastig aufgerissen und Mr. Smith, der Hospital-Aufseher, stürzte herein.

»Um Gotteswillen, Mr. Payne!« rief er händeringend, »erbarmen Sie sich, kommen Sie herauf zu mir, meine Tochter Nelly stirbt. Ganz plötzlich ist sie erkrankt, während sie zum Besuch bei meinem Bruder in der Stadt war. Kommen Sie geschwind und helfen Sie.«

Payne hörte bestürzt zu.

»Ich komme sogleich,« rief er und winkte dem Aufseher, sich zu entfernen.

Als dieser sich entfernt hatte, wandte er sich an seinen Freund:

»Entschuldige mich Wilkes, ich muß zu ihr.«

»Du kannst ruhig hier bleiben,« antwortete Booth gelassen.

»Du rettest sie doch nicht vom Tode.«

»Woher glaubst Du das?«

»Weil ich ihre Krankheit kenne. Sie hat das gelbe Fieber.«

Payne's rollendes Auge maß ihn vom Kopf bis zu den Zehen.

»Mensch, bist Du wahnsinnig?« schrie er, »wie soll sie zum gelben Fieber kommen?«

»Das wird Dir später klar werden, doch jetzt nochmals: Steht Dein Entschluß fest, daß Du eher nicht diesen Ort verlassen willst, als bis Du bei ihr reüssirt hast?«

»Unwiderruflich!«

»So leb wohl. Du findest mich oder erfährst meinen Aufenthalt stets im Hause der Frau Surratt zu Surrattsville.«

»Leb wohl, Wilkes,« antwortete Payne. – »Zürne mir nicht, ich kann jetzt nicht anders; aber sei überzeugt, meine Rache endet nur mit meinem Leben!«

 

Ende des ersten Bandes.

 


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