Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Das erste Opfer

Ganz in der Nähe von New-York am East-River liegt die Stadt Elmira. In der Nähe derselben hatte die Regierung der Vereinigten Staaten ein Terrain von mehr als vierzig Acker Ausdehnung angekauft, um dasselbe zum Gefängniß für kriegsgefangene Conföderirte Soldaten einzurichten. Elmira wurde seit jener Zeit von unzähligen Fremden aus New-York und der Umgegend besucht, welche Alle kamen, sich diese Anstalt anzusehen, oder aus dem Antlitz dieser Tausende von Leuten, die hier zufrieden lebten und sich keineswegs zurücksehnten nach den Annehmlichkeiten eines südlichen Kriegers, neue Hoffnung für den guten Erfolg des schrecklichen Bürgerkrieges zu schöpfen.

Unter den Fremden, welche zu diesem Zweck im Georgs Hotel abgestiegen waren, gehörten auch Booth und Atzerott, welche direct von Leesburg angekommen waren und sich auf der Reise nach New-York befanden.

Sie hatten zwei nebeneinander liegende elegante Zimmer inne, und saßen behaglich nebeneinander auf dem Sopha beim Frühstück.

»Wissen Sie bestimmt, daß Sie Robert Payne hier treffen werden?« fragte Atzerott seinen Gefährten, als dieser aufstand und gedankenvoll das Zimmer durchschritt.

»Ich denke ja,« war die Antwort. »Er ist in der Schlacht bei Gettysburg gefangen worden, und so viel ich erfahren, sind die Gefangenen von Gettysburg sämmtlich nach Elmira gebracht worden. – Dieser Ansicht war wenigstens Mr. Payne, Roberts Vater, der Geistliche zu Georgesville.«

Dieser Name schien durch eine absonderliche Ideenverbindung eine Erinnerung in ihm wachzurufen, die sein unstetes Auge zu schwärmerischem Glanze verklärte. Mit dem eigenthümlichen Ausdruck stiller Glückseligkeit hob er die Hand, welche er bisher auf dem Rücken ruhend gehalten, zu seinem Auge empor und sein Blick wetteiferte an Glanz mit dem Diamanten, den er auf dem kleinen Finger trug. Er führte denselben an seine Lippen und murmelte den Namen Derer, die diesen Ring an seinen Finger steckte.

»Die Frage ist nur,« begann Atzerott nach einer Weile wieder, »ob es uns gelingen wird, ihn zu sehen, denn die Yankees werden schwerlich so dumm sein und zugeben, daß ihre Gefangenen Besuche empfangen; uns aber unter den Haufen zu mischen und den Bretterzaun und die Dächer der Baraken anstarren wie die Neugierigen es thun, die hierherkommen, das würde uns wenig helfen.

»Ich habe noch keinen bestimmten Plan. Indessen denke ich, es wird uns gelingen, ihn zu sprechen. Wie ich höre, soll es auch durchaus nicht schwer sein, aus den Gefängnissen der Yankees zu entfliehen; also ist es um so leichter möglich, daß Robert Payne entflieht, denn was verzweifelten Muth anlangt, so hat er den genug bewiesen.«

»Ich würde Ihnen aber doch rathen, vom Besuch des Gefängnisses abzustehen. Es könnte Sie Einer der Unsern erkennen und durch ein unvorsichtiges Wort verrathen; und in dem Falle würden Sie in äußerst unfreiwillige Verbindung mit Ihrem Freunde Payne gebracht werden. – Ich wenigstens werde nicht mit Ihnen dahin gehen.«

Booth blickte seinen Genossen ein wenig verächtlich an.

»Ich schrecke nicht vor so unbedeutender Gefahr zurück; und Ihre Furchtsamkeit ist ein Grund mehr für mich, mich nach Leuten umzusehen, die eben so viel Muth haben, wie ich selbst. Wenn Sie schon vor solcher Gefahr zurückschrecken, wie sollen Sie dann mit mir in größeren Gefahren aushalten! – Nein, Atzerott, Sie sind nicht ein Mann, wie ich ihn brauche. Aber ein solcher ist Payne!«

Atzerott wollte eine Entgegnung machen, wurde aber daran gehindert durch die Stimme des Oberkellners, der auf dem Corridor einem der Hausdiener zurief:

»Dies Gepäck hierher, die beiden Koffer und die Kiste gehören den beiden Herren auf Nr. 12 und 13.«

»Gut, ich werde es hinauf besorgen,« antwortete der Hausdiener, und in der nächsten Minute öffnete er die Thür des Zimmers, in welchem sich Booth und Atzerott befanden.

Er trug zwei kleine Lederkoffer und eine längliche Holzkiste.

»Was wollen Sie?« schrie ihm Atzerott entgegen, unwillig gerade in dem Moment gestört zu sein, wo er das Gespräch mit Booth am wenigsten gern unterbrochen sah. –

Als er aber sah, daß der Mann das Gepäck brachte, sprang er hastig auf und schob ihn fast zur Thür hinaus:

»Zurück mit dem Gepäck!« – Lassen Sie die beiden Koffer hier, aber gehen Sie mit der Kiste hinaus.«

»Die Kiste gehört Ihnen auch, Herr ...«

»Ich weiß, ich weiß – aber ich will die Kiste nicht hier haben; – hinaus damit!«

»Dann werde ich sie beim Portier abgeben, bis Sie wieder abreisen.« –

»Thun Sie das; geben Sie sie ab, wo Sie wollen, und wo sie sicher ist, aber kommen Sie mir nicht nahe mit der Kiste.« –

Der Hausdiener schüttelte verwundert den Kopf, stellte die beiden Koffer hin und ging mit der Kiste zum Portier hinab.

Der Portier bewohnte im Erdgeschoß ein Zimmer mit einem Fenster nach dem Hausflur und einem nach der Straße hinaus. Wer die Sauberkeit und Ordnung in dem Stübchen sah, den zierlichen Geschmack in den Arrangements der Blumen und Nippesssachen, die glänzend weißen Decken auf dem Tisch und der Komode, die untadelich gekräuselten Gardinen an den Fenstern, der würde schwerlich vermuthet haben, daß der kleine weißhärige alte Mann, der Bewohner dieses Zimmers, der dort behaglich in seinem Lehnstuhle am Fenster saß, ein Junggeselle sei.

Mr. Smith ist aber nicht derjenige, dem das Lob gebührt, das man der Einrichtung seines Stübchens zu zollen gezwungen ist, vielmehr sind diese Ordnung, diese Sauberkeit und dieser Geschmack in der That das Verdienst eines weiblichen Wesens und zwar seiner Nichte, der Tochter seines Bruders, der blondköpfigen hübschen Kleinen, die dort am andern Fenster sitzt, mit einer Handarbeit beschäftigt, und dann und wann ihre hellen und unschuldigen blauen Augen so zärtlich auf den Alten richtend, daß es nicht zu verwundern wäre, wenn dieser auf seine alten Tagen noch, von Reue über sein Cölibat erfüllt, sich bestrebte, den Fehler wieder gut zu machen.

Das hübsche Mädchen unterhielt den Alten mit ihrer natürlichen Heiterkeit so vorzüglich, daß er mehr als einmal sagte:

»Wie schade, Nelly, daß Du nicht den ganzen Tag um mich sein kannst; ich würde mich noch einmal so ruhig und glücklich hier fühlen.«

»Ach ja, Onkelchen, erwiderte sie, »ich würde auch gern den ganzen Tag von früh bis zum Abend bei Dir bleiben, aber Du weißt, ich bin zu Hause nicht zu entbehren. Aber das verspreche ich Dir, Onkelchen, daß ich jeden Tag, wenn ich nach der Stadt gehe, zu Dir herankomme, Dir Dein Zimmer ein wenig in Ordnung bringe und ein Stündchen mit Dir plaudern will. Papa und Mama sehen es schon gerne, wenn ich Dich besuche, denn sie wissen, daß Du so allein schreckliche lange Weile haben mußt. Sie würden auch öfter selber zu Dir kommen, aber wir haben ja da draußen so schrecklich viel zu thun.«

»Oh, das weiß ich recht gut, mein Kind. – Ich habe es Willy, Deinem Vater, gleich gesagt, daß es ein schlimmer Posten ist, ein Angestellter in einem so großen Hospital zu sein, wo es täglich hunderte von Kranken gibt, und ein gefährlicher Posten dazu, denn wie leicht könnte er dort von einer gefährlichen Krankheit angesteckt werden.

»Ei, Onkelchen, die Furcht verliert man,« antwortete lachend das Mädchen. »Anfangs habe ich mich auch recht vor manchem Kranken gefürchtet, aber jetzt – wie oft reiche ich den schlimmsten Kranken selbst die Medicin. Ich glaube, ich fürchtete mich nicht, und wenn Einer das gelbe Fieber hätte.«

»Ich glaube Dir, Nelly, denn Du hast ein mitleidiges Herz, und um Einem wohl zu thun, bist Du im Stande, Dich selbst zu opfern. Ist es doch auch ein Opfer, daß Du hier in der Gesellschaft eines langweiligen alten Mannes fast täglich einige Stunden Deiner kostbaren Jugendzeit verbringst.«

»Sprich nicht so, Onkel,« antworte Nelly, indem sie lachend aufstand und einen Kuß auf die Wange des alten Mannes drückte. »Glaube ja nicht, daß es hier so langweilig ist. – Ich betrachte meinen Aufenthalt bei Dir als meine angenehmste Erholung. Denke doch, daß ich zu Hause weiter nichts sehe als Elend und Jammer: – Gefangene, die nach ihren Lieben in der Heimath seufzen, oder ihr Loos verwünschen, und Kranke, die Niemand von denen, die ihnen nahe stehen, an ihrem Bette sehen dürfen, das ist Alles, was ich den ganzen Tag über sehe, da kannst Du Dir doch denken, daß es mir eine sehr angenehme Erholung ist, hier bei Dir, fern von jenem Orte des Unglücks einige Stunden zuzubringen.«

»Und hier, Du gutes Kind, hier hast Du keine andere Zerstreuung, als die Sorge für mich und meine Bequemlichkeit.«

»O, nicht doch, es macht mir Vergnügen, durchs Fenster hinauszusehen auf die Straße, die glänzenden Toiletten der Damen zu bewundern, die von New-York hierherkommen, und die Herren, die Alle so vornehm aussehen, und kein Einziger so finster und verzweifelt, wie die Männer dort unten im Gefängnisse, das ist ordentlich wohlthuend für mich; wie angenehm ist es nicht, lauter glückliche Gesichter zu sehen! Nur die beiden Herren, die vor Kurzem hier ankamen, sahen mir nicht aus, als wären sie zufriedenen Gemüthes, weder der Häßliche mit dem falschen Blick und den rothen Haaren, noch der Jüngling mit dem blassen Gesicht und den dunklen, feurigen Augen; – ach wie schön war der – wie beneidenswerth ist Diejenige, die ihn pflegen darf, wenn er krank ist, und ihn trösten kann, wenn er traurig ist!«

»Kleine Schwärmerin,« versetzte der Alte scherzend, »wenn Du ein so empfängliches Herz besitzest, so bewundere ich nur, daß Du dort, wo Du doch tagtäglich Tausende von Männern siehst, nicht schon längst Dein Herz an Einen verloren hast.«

»Ach nein Onkel,« antwortete sie treuherzig;« die Männer im Gefängnisse und namentlich die Kranken, mit denen ich fast ausschließlich nur zu thun habe, kommen mir gar nicht vor, wie Wesen, welche zarter Empfindungen fähig sind. – Wilde Leidenschaft ist ein Hauptcharakterzug bei Allen, die ich kennen lernte, und wenn ich auch mit Allen inniges Mitleid fühlte, so habe ich doch Keinen lieben können, und auch Keiner hat mich lieben wollen«

»Oh, sagtest Du mir nicht, daß sich einer der Kriegsgefangenen, der als Arzt im Hospital beschäftigt ist, sehr um Deine Gunst bewerbe?«

»Ja – Mr. Payne, Aber das ist ein unheimlicher Mensch, vor dem ich mich fürchte. Er sieht stets so finster und wild aus, als ob er ein schreckliches Verbrechen auszuführen im Begriff sei. Ich weiche ihm aus so viel ich kann, aber je mehr ich ihm ausweiche, desto mehr scheint sich seine Leidenschaft zu entzünden. In seinem Blick hat er einige Aehnlichkeit mit dem schönen Jüngling.«

»Mit wem?«

»Mit dem Jüngling, von dem ich vorhin sprach, der mit dem häßlichen Herrn kam –Du ließest ihnen die··Zimmer 12 und 13 anweisen.«

»Ah der – das ist ein Schauspieler. – Warte einmal, hier habe ich seine Karte: – Wilkes Booth, heißt er.«

»Sein Gefährte aber ist doch kein Schauspieler? – Er müßte denn nur Rollen von bösen und ränkesüchtigen Menschen spielen.«

»Ich glaube nicht, daß der Andere ein Schauspieler ist,« antwortete der Portier »Wenn mich mein Gedächtniß nicht täuscht, so sah ich ihn bereits früher in New-York, als Dein Vater noch Portier ins Hause von Charles Powel & Co. war. – O, Himmel!« fügte er mit einem tiefen Seufzer hinzu, »wer hätte das Unglück voraussehen können!« –

»Ach ja, es ist schrecklich; mein Vater ist ganz unglücklich über das Schicksal des armen Mr. Powel. Er ist nicht durch seine Schuld ins Elend gerathen.«

»Gewiß nicht – sein schurkischer Compagnon hat ihn betrogen, und das Elend würde er noch ertragen, aber die Schande –«

»Meinst Du, daß er schuldig ist?«

»Keineswegs, eines gemeinen Verbrechens war Mr. Powel nicht fähig.«

»So hätte er doch freigesprochen werden müssen.«

»Ja wohl, aber der Schein spricht gegen ihn – der einzige Entlastungszeuge, den er zu nennen vermochte, war nicht aufzufinden.«

»Ich weiß, Du meinst Mr. Crofton; mein Vater hat es mir erzählt. Als man endlich ermittelt hatte, daß er in Boston sei, und schon Hoffnung für Powel schöpfte, da kam die Nachricht, daß an demselben Tage, da man den Aufenthalt des Mr. Crofton erfahren hatte, derselbe mit dem Macdonald in See gegangen sei.«

»Die unglückliche Familie!« –

In diesem Augenblick klopfte es an der Thür. Mr. Smith schob das nach dem Flur gehende Fenster zurück, um zu sehen, wer da sei.«

»Was willst Du?« fragte er den Hausdiener, welcher draußen stand.

»Ich bringe hier die Kiste, sie gehört den Herren auf No. 12 und 13. Sie wollen aber, daß die Kiste bei Ihnen aufbewahrt werde; der Eine von ihnen geberdete sich gerade, als müßte er des Todes sein, wenn ich sie in sein Zimmer setzen würde. Sein Benehmen war mir ordentlich ausfallend.«

»So setze die Kiste hier hinein,« versetzte der Portier.

Der Hausdiener gehorchte und stellte die Kiste in eine Ecke neben der Thür.

»Sonderbar,« meinte Nelly, »daß die Herren einen Theil ihres Gepäckes auf ihr Zimmer nehmen, diese Kiste aber, die gar nicht einmal vernagelt oder verschlossen ist, hierher stellen.«

»Sie werden ihre Gründe haben,« versetzte der Portier.

»Ich möchte wohl wissen, was für Gründe sie dazu haben.

War es der schöne junge Mann, der solche Furcht vor der Kiste hatte?« wandte sie sich an den Hausdiener.

»Nein, es war der Andere,« antwortete dieser.

»Ich hätte große Lust nachzusehen, was die Kiste enthält,« sagte, als der Hausdiener sich entfernt hatte, Nelly, die von der ihrem Geschlecht eigenen Neugierde keineswegs frei war.

»Oh, nicht doch!« verwies sie ihr Onkel. »Man muß nicht unbefugt den Geheimnissen Andrer nachspähen, es ist nicht ehrlich.«

Nelly beruhigte sich für den Augenblick und setzte sich wieder an ihre Arbeit, nahm aber, während ihr Onkel das Gespräch über Mr. Powel und dessen Familie fortsetzte, an demselben nur sehr zerstreut Antheil: ihre Gedanken beschäftigten sich fortwährend mit der geheimnißvollen Kiste. Sie hatte einmal ein flüchtiges Interesse für einen der Herren, denen die Kiste gehörte, gehegt, und dies Interesse trug wesentlich dazu bei, ihre Neugierde zu vergrößern.

Der Alte hatte von dem, was im Innern seiner Nichte vorging, keine Ahnung und hegte also auch für das Geheimniß der Gäste nicht die geringste Besorgniß, als er durch das Eintreffen mehrerer Fremden genöthigt war, seine Nichte eine halbe Stunde in seinem Zimmer allein zu lassen.

Kaum aber war er hinaus, so erhob sich Nelly und eilte, den Gegenstand ihrer Neugierde näher zu betrachten.

Ganz richtig, die Kiste war nicht verschlossen, nur ein über dieselbe geschnallter Riemen hielt den eingeschobenen Deckel fest.

»Es wäre ganz leicht,« murmelte sie, »die Kiste zu öffnen und wieder so zu verschließen, daß es Niemand merkt.«

Schon streckte sie ihre Hand nach dem Riemen aus, allein sie zog dieselbe zurück.

»Nein, nein,« sagte sie. »Es hieße ja das Vertrauen des guten Onkels mißbrauchen, wenn ich es thäte. Ich will doch lieber meine Neugierde besiegen.«

Sie setzte sich wieder an ihren Platz und nahm die Arbeit zur Hand; sie arbeitete jedoch nicht, sondern ließ die Hände in den Schooß sinken und betrachtete von fern die Kiste.

»Vielleicht kann ich aus der Schwere der Kiste oder aus dem Geräusch beim Schütteln erkennen, was d'rin ist.«

Sie hob die Kiste auf; dieselbe war eben nicht schwer. Sie schüttelte, doch hörte sie nichts. – Sollte sich der Deckel nicht ein wenig verschieben lassen? – Nein, das ging nicht ... Aber wenn sie den Riemen ein wenig lüftete? ... Richtig, dann ging es, der Deckel ließ sich ein wenig verschieben und sie konnte hineinsehen.

Es waren Kleider in der Kiste.

»Sollten es blos Kleider sein? – Wie konnten Kleider ihm solches Entsetzen bereiten? – Es muß doch aber wohl nichts in der Kiste sein, das der Eigenthümer geheim zu halten wünscht, denn sonst hätte er sie nicht so gut wie offen hierherstellen lassen. – Ach was, Onkelchen ist auch gar zu gewissenhaft ...«

Und ehe sie gewollt, war der Riemen offen, der Deckel herausgezogen.

»Wahrlich, nichts als Kleider – Kinderkleider ... Sollte er schon verheirathet sein und dies seiner Familie zum Geschenk mitnehmen? – Sicherlich ist es so, diese Gegenstände gehören dem schönen Herrn, und der Andere ist ein Weiberfeind, der auch nicht einmal Kinder- und Frauenkleider in seiner Nähe dulden mag, deshalb ließ er die Kiste hierherstellen. – Ach ja, der schöne Mann ist schon verheirathet, hier sind auch Frauenkleider – ein schöner Shawl – ein Halsband – ein seidener Paletot ... Oh, wie wird sich die Glückliche freuen, welcher er diese Sachen zum Präsent bringt.«

Sie seufzte und hegte vielleicht tief im Herzen den Wunsch, daß sie die Glückliche sein möge. – Oh, hätte sie gewußt, welche verrätherische Tücke dieser Schmuck in sich barg, sie wäre zurückgeschaudert bei dem Gedanken, daß derselbe für irgend ein Wesen bestimmt sei. Kurzsichtige Menschen, sie klagen und lamentiren, wenn ihnen ein bescheidener Wunsch versagt ist, – und sie wissen nicht, welche Wohlthat ihnen durch die Versagung dieses Wunsches geschehen ist! ...«

Nelly hatte ein Stück nach dem andern aus der Kiste genommen, es ausgebreitet und mit dem Gefühle der Bewunderung und eines gewissen Neides betrachtet.

»Ach, wenn ich in solcher Kleidung einhergehen könnte, vielleicht verliebte sich dann auch ein Mann in mich, so schön wie er –«

Sie hatte den Paletot in ihren Händen. – Einen Augenblick zauderte sie und wars einen Blick durch's Fenster. Es beobachtete sie Niemand. Da hing sie das Kleidungsstück um ihre Schultern und stellte sich vor den Spiegel, ihr hübsches Gesicht mit Wohlgefallen betrachtend.

»Sehe ich nicht aus, wie die vornehmen Damen aus New-York? – Dazu dies Halsband und diesen Hut –«

Sie legte die Gegenstände an.

»Ich entsinne mich, so trug sie Mrs. Powel zu der Zeit, als mein Vater noch Portier in ihrem Hause war. Ach Gott, sie wird jetzt eben so bescheiden gekleidet sein wie ich ...«

Sie unterbrach sich in dieser Unterhaltung, denn sie hörte aus dem Hausflur ein Geräusch. Scheu blickte sie um sich, und ein Schrei des Schreckens entfuhr ihr, denn am Fenster sah sie das Gesicht des rothhaarigen Atzerott mit teuflichem Grinsen auf sie gerichtet.

Schnell zog sie die Kleidungsstücke wieder aus; zugleich verschwand auch das Gesicht vom Fenster, aber ein Lachen, das ihr wie das Lachen des Satan vorkam, erscholl vom Hausflur.

Eben hatte sie die Kleidungsstücke wieder eingepackt und die Kiste geschlossen und war pochenden Herzens auf einen Stuhl gesunken, da hörte sie draußen die Stimme des Fremden ihren Onkel rufen:

»Heda! Mr. Smith!«

»Was steht zu Befehl, Sir?«

»Besorgen Sie für meinen Freund einen Wagen nach dem Gefängniß zu fahren.«

Nelly's Herz schlug hörbar, wird er sie jetzt bei ihrem Onkel anklagen, daß sie die Kiste geöffnet hatte? – Nein, er sagte nichts davon, sie hörte, wie er sich nach der Treppe zu entfernte, während ihr Onkel eintrat.

»Was ist Dir Kind?« rief er aus, »Du siehst ja so verändert aus?«

»Ich fühle mich unwohl,« stotterte sie.

»Um Himmelswillen, ich werde sogleich nach einem Arzt schicken –«

»Nein, nein, Onkel, es ist nichts – ich bin nur so erschrocken. – Ich will Dir's offenbaren, ich habe die Kiste dort geöffnet.«

»Ei, ei, also hast Du Deiner Neugierde doch nicht widerstehen können?«

»Verzeihe mir, Onkel, daß ich Dein Vertrauen gemißbraucht habe, ich will auch nie wieder meiner thörichten Neugierde so nachgeben und Dir ungehorsam sein.«

»Nun, nun, mein Herzensmädchen, beruhige Dich nur, ich verzeihe Dir – sei nur wieder munter und fröhlich wie vorher – Gott sei Dank, daß es weiter nichts ist als das Gewissen, was Dich so bleich aussehen macht.«

Nelly versuchte zu lächeln, aber das Lächeln mißlang vollständig.

»Ich weiß nicht, ich habe so sonderbare Kopfschmerzen und einen Fieberfrost – hu – es schauert mich ordentlich. –«

»Kind, Du bist wirklich krank. – Ja, ja, ich sehe es, Dein Auge röthet sich zusehends, Du mußt nach Hause. – Gott, wo finde ich nur einen Wagen, den letzten habe ich soeben für Mr. Booth bestellt. –«

Während er sprach, fuhr der Wagen vor und Mr. Booth schritt mit seinem Gefährten über den Hausflur, um einzusteigen.

»Bester Herr,« rief der alte Smith, angstvoll auf ihn zueilend, »würden Sie mir wohl einen großen Dienst erweisen? Sehen Sie hier meine Nichte, die eben noch munter wie ein Fisch war, ist ganz plötzlich erkrankt. Ihr Vater ist Beamter im Hospital dort im Gefängnisse. Wollen Sie sie nicht bis dahin mitnehmen? Es giebt keinen Wagen mehr, und mit dem Omnibus kann ich sie in diesem Zustande doch unmöglich fahren lassen. Haben Sie Erbarmen und nehmen Sie sie mit.«

»Sehr gern,« antwortete Booth, »haben Sie die Güte, ihr hineinzuhelfen.«

Das Mädchen, das unsägliche Schmerzen erduldend in der Sophaecke saß, warf ihm einen so innigen Blick des Dankes zu, daß er gerührt auf sie zutrat, um ihr selbst in den Wagen zu helfen.

»Zurück, Sir, thun Sie es nicht!« rief Atzerott ihn am Arm festhaltend.

Booth warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Atzerott aber näherte sich ihm und flüsterte ihm ins Ohr:

»Sie hat das gelbe Fieber! – Sie hat die Kleider anprobirt.«

Der junge Mann schrack zusammen. Seine Stirn verfinsterte sich – voll Abscheu blickte er Atzerott an und wandte sich dann an den Alten:

»Helfen Sie Ihrer Nichte hinein und lassen Sie sie allein hinfahren, ich werde mit dem Omnibus fahren.

Getäuscht, seufzte das Mädchen, und Thränen rannen von ihren Wangen, als sie den jungen Mann davoneilen sah.


 << zurück weiter >>