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Achtes Kapitel.
Der Gipfel des Elends

Daheim saß Mrs. Powel und wartete mit banger Sorge auf die Zurückkunft ihres Mannes. Die Mittagsstunde war nahe, und noch immer erschien er nicht. Er hatte doch versprochen, zum Essen nach Hause zu kommen, und er pflegte immer Wort zu halten.

Eine bange Ahnung überkam die schwächliche Frau, sie vermochte kaum, sich aufrecht zu erhalten.

Horch! – jetzt ließen sich Tritte auf der Treppe hören. In freudiger Erregung sprang sie auf und öffnete die Thür. Ach es war nicht der Ersehnte; zwei fremde Gesichter waren es, welche sie erblickte, und welche sie mit Ernst und Strenge betrachteten.

»Sind Sie Mrs. Powel?« fragte einer der Herren, ohne Weiteres eintretend.

Sie bejahte in bescheidenem Tone, während ihr Herz fast hörbar pochte; sie hatte in dem Begleiter des Fremden, den Gerichtsdiener erkannt, der ihrem Gatten die Vorladung überbracht hatte.

»Ich bin Criminalcommissarius«, fuhr der Erste fort, »und habe den Auftrag hier eine Haussuchung abzuhalten. Ihr Mann befindet sich, der Unterschlagung verdächtig, in Untersuchungshaft.«

Mit einem Schrei brach die Unglückliche zusammen. Die beiden Kinder hatten im Nebenzimmer diesen Schrei gehört, sie eilten herbei, und als sie die Mutter wie todt am Boden liegen sahen, stützten sie sich mit herzzerreißendem Weinen auf sie.

Die Beamten, die gewiß schon manche ergreifende Scene angesehen hatten, konnten doch bei dem Anblick nicht kalt bleibe. Der Criminalcommissarius hob die Entseelte aus, legte sie auf das Sopha und stand neben ihr, bis sie sich erholt hatte. Sie schlug die Augen auf, und ihr Schmerz lös'te sich in heftiges Weinen auf, und fest preßte sie ihre ebenfalls weinenden Kleinen an sich.

Ein Blick auf die Beamten erinnerte sie an deren Auftrag.

»Sie wollen eine Haussuchung vornehmen?« sagte sie. »Durchsuchen Sie Alles. Dort« – auf den Schreibtisch deutend – »sind die Papiere meines Mannes, hier ist der Schlüssel.«

Unter den Briefen wurde nichts Verdächtiges gefunden. Als aber der Beamte das letzte Schubfach auszog und darin die Goldstücke erblickte, sagte er:

»Aha, hier haben wir die Goldstücke, von denen der Zeuge Atzerott sprach. Madame ich muß dies Geld mitnehmen.«

»Um Himmelswillen es ist Alles, was ich habe, wovon soll ich mit meinen Kindern leben?« rief die junge Frau entsetzt.

Der Beamte zuckte die Achseln, zählte das Geld, notirte die Summe und steckte es ein. Da die Haussuchung weiter nichts ergab, so nahm er seinen Hut und empfahl sich, die unglückliche Frau mit ihrem tödtlichen Schmerz und in ihrem namenlosen Elend allein lassend. –

Das Gerücht von Mr. Powels Verhaftung und der soeben stattgehabten Haussuchung hatte sich blitzschnell im Hause und in der Nachbarschaft verbreitet. Auf dem Hausflur hatte sich alsbald eine Anzahl klatschsüchtiger Frauen und neuigkeitsbegieriger Männer zusammen gefunden, die über das interessante Tagesereigniß sehr lebhaft debattirten.

»Wer hätte das gedacht«, rief der Barbier, der drüben an der Ecke wohnte; »erst macht er in seinem Geschäfte bankerott, natürlich durch seine eigene Schuld, da nimmt ihn ein alter Freund, der ehrenwerthe Mr. Jackson, auf und beschäftigt ihn, daß er nicht zu verhungern braucht, und nun begeht er gar eine Unterschlagung. Ja ja, so geht's bei den Verbrechern, sie schreiten immer stufenweise abwärts bis die Strafe sie mal ereilt.«

»Mr. Jackson«, fügte der Inhaber des kleinen Leidens im Souterrain hinzu, »kann sich gratuliren, daß er den Buchhalter auf diese Weise losgeworden ist« was würde er dort nicht mit der Zeit noch veruntreut haben.«

»Mir ist nur das unbegreiflich«, versetzte der Schuhmacher aus dem dritten Stock, »wie er noch die Keckheit haben kann, die Sache selbst an's Licht, an die Oeffentlichkeit zu bringen. Hätte er geschwiegen, so wäre die Sache vielleicht gar nicht vor Gericht gekommen.«

»Das ist ja eben das Raffinirte bei seiner That«, versetzte der Hauswirth. »Er wollte dadurch den Verdacht von sich ablenken und die Schuld auf den ehrenwerthen Mr. Atzerott schieben. Gott sei Dank, daß es ihm nicht gelungen ist:«

»Schändlich – abscheulich! – pfui, wie schlecht!« stimmte das übrige Auditorium im Chor ein.

»Uebrigens sollen seiner Frau auch nicht viel dran sein;« äußerte die Gemüsehändlerin.

»Die kennt man wenig«, meinte die Frau des Schuhmachers. »Uebles hat man von ihr noch nicht gehört, sie soll sehr eingezogen leben.«

»O, über die –« nahm die gelbbraune Wittwe das Wort, die im Nebenhause wohnte und im Verdacht der Kuppelei stand – »über die habe ich schöne Geschichten gehört –«

»Was haben Sie gehört Nachbarin?« zischelten neugierig Alle.

»Man spricht nicht von so was gern«, antwortete sie mit einem bedeutungsvollen Hüsteln.

»Ich verstehe«, bemerkte die Frau des Barbiers, »außerdem aber ist sie auch eine heimliche Verschwenderin. Gut Essen und Trinken; – den ganzen Tag Kuchen und Kaffee und dabei versteht sie nicht die Spur von der Wirthschaft, da mußte der arme Mann natürlich zu Grunde gehen und zuletzt zum Dieb werden.«

»Er wird wohl seiner Strafe nicht entgehen, war des Barbier's Ansicht. »Und hoffentlich wird seine saubere Ehehälfte auch was mit abkriegen.«

Plötzlich verstummte das Gespräch und die Blicke Aller richteten sich nach der Treppe; aus deren oberster Stufe in diesem Augenblick die bleiche, schwankende Gestalt der Mrs. Powel sichtbar wurde. An jeder Hand hatte sie eines der beiden ältesten Kinder; die Aufsicht über das Jüngste hatte eine Freundin übernommen. Um die Schultern hatte Sie einen Shawl, der noch ein Ueberbleibsel aus der Zeit ihres Wohlstandes war, ebenso das Taschentuch, mit dem sie. Sich ihre Thränen abtrocknete, welches von blendend weißem, feinem Leinen war.

Das aus dem Hausflur versammelte Publikum wich mit den Mienen des Abscheues zurück, als ob sie mit der Pest behaftet wäre, und bildete so eine breite Gasse, durch welche sie hindurch passiren mußte.

Sie bemerkte es, die Arme – und wie ein Messerstich drang es ihr ins Herz. Doch verneigte sie sich höflich grüßend. Niemand dankte ihr. Wohl aber mußte sie von der Gemüsehändlerin die verletzende Aeußerung hören:

»Ein schönes Shawltuch – na wer weiß wo das hergekommen ist!«

»I,« setzte die Kupplerin hinzu, »wenn ich so leicht Geld verdiente, wie gewisse Leute, kaufte ich mir auch ein Shawltuch und so feine Taschentücher.«

Mrs. Powel drückte die Händchen ihrer Kinder, daß sie fast aufschrien und beschleunigte ihre Schritte, um aus dem Bereich der giftigen Pfeile zu gelangen, mit denen diese Leute ihr Herz durchbohrten.

Weinend setzte sie ihren Weg fort bis sie bei dem Courte-House anlangte und zwar von der hintern Seite des Gebäudes, da wo die engvergitterten kleinen Fenster der Zellen sich befinden, in deren einer – ach der Gedanke war vernichtend für sie – auch ihr Mann schmachtete!

Sie wagte das unheimliche Gebäude nicht anzusehen und eilte schnellen Schrittes um die Ecke, dem Eingange zu. In dem Augenblick als sie eben um die Ecke biegen wollte, hörte sie hinter sich einen Pfiff, der ganz eigenthümlich klang, und es war ihr fast, als wurde derselbe aus einer der Zellen beantwortet. Sie war viel zu sehr mit ihrem Kummer beschäftigt, als daß sie besonders darauf geachtet hätte, in demselben Augenblick fiel ein dreieckig gefalteter Zettel zu ihren Füßen nieder, der offenbar aus einem der Fensterchen herabgefallen war. Sie bückte sich und hob das Papier auf. Statt der Aufschrift standen auf demselben die drei Buchstaben K. G. C.

Sie stand still und blickte hinauf, als wollte sie den Eigenthümer des Briefes irgendwo erblicken, da fühlte sie plötzlich, wie ihr der Zettel aus der Hand gerissen wurde.

Es war Mr. Atzerott der höhnisch grüßend sagte:

»Geben Sie her, man muß den Zettel dem Gefängnißinspector übergeben.«

Er war schnell verschwunden. –

In dem Eingange des Courte-House fand Mrs. Powel den Gerichtsdiener stehen, den sie schon zweimal gesehen hatte. An diesen wendete sie sich mit der Bitte, daß er sie zu ihrem Manne führen möge.

Der Gerichtsdiener erwiderte ihr theilnehmend, daß das ohne Erlaubniß des Untersuchungsrichters nicht geschehen dürfe, und erbot sich zugleich, ihr diese Erlaubniß auszuwirken, sie möge nur derweile hier eintreten.

Er öffnete die Thür eines kleinen Zimmerchens. Die nackten, kahlen Wände, die dürftige Ausstattung, die in nichts weiter als einer Bank bestand, die vergitterten Fenster, die dumpfe, kalte Luft, das Alles war geeignet, Madame Powel die unheimliche Nähe der Gefängnisse zu verrathen. Sie weinte still vor sich hin. Auch die Kinderchen, welche die Größe ihres Unglücks nicht ahnten, schmiegten sich an sie und weinten mit ihr.

Nach einer Stunde bangen Harrens kam endlich der Gerichtsdiener zurück mit der schriftlichen Erlaubniß des Untersuchungsrichters. Diese Erlaubniß aber enthielt die Beschränkung – wie er ihr schonend mittheilte –, daß die Unterredung nur in Gegenwart eines Zeugen stattfinden dürfe; daß er also dabei zugegen sein werde.

Die schwere eisenbeschlagene Thür öffnete sich bald vor ihnen, und die Familie betrat den düstern, feuchtkalten Gang, der auf beiden Seiten die Zellen für die Gefangenen und Verbrecher enthielt.

Vor einer kleinen, eisenbeschlagenen Thür machte der Schließer Halt. Das schwere Schloß knarrte, die Thür öffnete sich und Mrs. Powel befand sich in der kleinen Gefängnißzelle, ihrem Gatten gegenüber. Dieser, als er sein liebes, gutes Weib, seine Kinder auf der Schwelle erblickte, stieß einen Schrei aus, ob vor Schmerz oder Freude, war schwer zu entscheiden. Er eilte auf seine Lieben zu, drückte alle an seine Brust, wobei die Thränen seine Wangen feuchteten.

Der Gerichtsdienet hatte sich scheu in eine Ecke zurückgezogen und wagte kaum, einen Blick auf die bemitleidenswerthe Familiengruppe zu werfen. In dem Herzen dieses sonst so harten Mannes regte sich tiefes Mitgefühl.

Der Auftritt, der nun folgte, war wahrhaft herzzerreißend. Powel hatte seine Frau, welche von der Aufregung erschöpft war, zu dem ärmlichen Lager geführt, und die Wankende dort niedersitzen lassen. Dann nahm er die Kinder auf seinen Schooß. Sein Herz schnürte sich zusammen beim Anblick der armen; dem Unglück preisgegebenen Familie, und er fand anfänglich kaum einige Worte des Trostes und der Ermuthigung. Doch gab ihm der jammernswerthe Anblick der Seinigen Stärke und Kraft. Mit zitternder Stimme sagte er, seinen Arm um die Schulter seiner Gattin legend:

»Habe·nur Muth und Vertrauen, liebes Weib, Gott wird nicht zulassen, daß man mich ungerecht verurtheilt, und gewiß in ganz kurzer Zeit siehst Du mich wieder bei Dir in der Mitte unserer Kinder. Denke an unser armes, kleines Mädchen, um derentwillen Du den Gram schon unterdrücken mußt. Der Gram tödtet Dich und sie. Habe Muth und hoffe, es wird gewiß noch Alles gut, und wir werden wieder glücklich.«

Sie schaute mit ihren verweinten Augen zu ihm empor und schüttelte zweifelnd das Haupt.

»Warum sollte nicht meine Unschuld an den Tag kommen?« fuhr Powel fort. »Am Belastendsten ist für mich der Besitz der Goldstücke, welche ich von meinem Freunde Mr. Crofton auf dem Bahnhofe erhielt. Sobald man sich überzeugt hat, daß ich in der That das Geld von ihm erhalten« habe, so hat der Verdacht, der auf mir ruht seine Stütze verloren und trifft dann vielmehr Mr. Atzerott. Es sind bereite energische Anstalten gemacht, den Aufenthalt Mr. Croftons zu ermitteln, ist das gelungen, so bin ich gerettet.«

»Ach, Charly,« erwiderte sie schluchzend, »so sehr ich auch yon Deiner Unschuld überzeugt bin, so wage ich doch nicht mehr auf ein Glück zu hoffen. Dieser Schlag ist zu hart und wird Dich und uns Alle auf ewig vernichten. Mr. Crofton macht, wie Du sagst, eine Reise durch die westlichen Staaten, wie soll er dort, aufgefunden werden? – Atzerott wird bei seinem Leugnen verharren; so bleibt denn das Verbrechen der Unterschlagung auf Dir haften und auf Deinen armen Kindern für ewige Zeiten – Man reißt Dich von uns, auf lange, lange Zeit. – O· Gott; was· soll aus uns werden!«

Die Kinder fingen jetzt an zu begreifen, daß der Vater sie verlassen wolle. Sie stimmten daher in das Schluchzen der Mutter mit lautem Weinen ein, umklammerten den Vater und flehten, er möge sie doch nicht verlassen, mit den zärtlichsten Liebkosungen ihm schmeichelnd, vereinten sie ihre Bitten.

Der Gerichtsdiener, der bis jetzt stille in der Ecke gestanden hatte, fuhr sich mit dem Rockärmel über die Augen, schlich sich dann unbemerkt nach der Thür und verließ für diesmal seine Pflicht vergessend, die Zelle.

»Du gehst nicht fort von uns, Vater! Du kommst mit uns und der Mutter nach Hause!« bat der kleine blondlockige Knabe, ihm die Wangen streichelnd und sein Köpfchen auf des Vaters Schulter legend. »Ich will auch immer artig sein und nicht wieder so lärmen, wenn Du schreibst.«

»Sei ruhig, mein Söhnchen,« sagte Powel mit bebender Stimme. »Ich komme bald wieder zu Euch. Du mußt nur ja nicht der Mutter Kummer machen, sondern immer artig und folgsam sein.«

»Ach ja, Vater, artig will ich schon sein, aber Du mußt jetzt mitkommen!« rief der Kleine.

»Komm doch, lieber Papa!« flehte das älteste Töchterchen, »Mama weint sonst so viel, wenn Du nicht da bist, und wenn Mama weint, dann muß ich immer mitweinen.«

»Es ist Zeit,« sagte Powel gefaßt zu seiner Frau. »Geh jetzt mit den Kindern nach Hause. Ihr macht mir sonst das Herz schwer, und ich habe Muth und Fassung ja so nöthig. – Weine nicht! Gott wird schon zu rechter Zeit Hülfe schicken; das bedenke gutes Weib, und habe Muth.«

Mrs. Powel hatte sich erhoben, und indem sie ihren Mann fest und lange umarmte, barg sie ihr Haupt an seine Brust. Dann einen Kuß auf die Lippen ihres Gatten drückend, ihm mit inniger Liebe in die treuem Augen schauend, sagte sie leise:

»Ja, Du hast Recht, ich will gefaßt und ruhig sein um den Kinder willen, und Gott wird helfen!«

»So recht, mein gutes, braves Weib! Und nun lebt wohl, lebt Alle wohl!«

Nachdem er noch einmal seine Frau geküßt, hob er die Kleinen zu sich empor, um auch sie zum Abschied zu küssen. Mit dem Mädchen gelang dies wohl, doch der Knabe klammerte seine Aermchen um den Hals des Vaters und wollte ihn nicht los lassen..

»Du mußt mit uns gehen, Vater!« jammerte er. »Du mußt nicht hier bleiben in dieser häßlichen Stube mit dem kleinen Fenster. Es ist ja zu Hause bei uns viel hübscher. Komm doch, lieber Papa.«

Fast mit Gewalt mußte sich Pawel des Knaben entledigen. Dann ging er selbst zur Thür der Zelle, öffnete dieselbe und geleitete seine Frau hinaus, wobei er sich vergebens bemühte, den laut weinenden Knaben zu beruhigen. Noch lange, nachdem sich die eiserne Thür hinter den Seinigen geschlossen, hörte er die Stimme des Jammernden auf dem Gange.

Das Weinen des Kindes weckte ein Echo in seiner Brust; und laut weinend und schluchzend warf er sich auf sein ärmliches, hartes Lager.


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