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Raimund

Wer schläft im Leichentuche weiß und rein?
Wer ist's, dem jene Fackeln heimwärts leuchten?
Wem folgt der Priester Chor und die Gemeine?

»Um den sich unsrer Augen Wimpern feuchten,
War der Dechant am Dionysi-Stifte,
Raimundus, der als Heil'ger wird bald leuchten.

»O Himmel, wie er ruderte und schiffte,
Ein reiner Schwan durch dieser Zeiten Wellen,
Ein hell Krystall, getrübt von keinem Gifte!

»Wie hat er unser Herz an hehren Stellen
Gefaßt, zermalmt, erheitert und gewonnen,
Wie lockt' er unsrer Augen warme Quellen!

»Heil Heiliger! Du schwangst zu ew'gen Wonnen
Dich aus dem kalten Nebel dieser Erden,
Der dir zerrann ins Licht der Himmelssonnen!

»Stehst selig nun bei der erkornen Heerden
Zur Rechten, auf dem süßen Gnadenhügel!
Wir aber müssen noch versuchet werden.«

Nun öffnet sich des Schlosses rost'ger Bügel,
Die schweren Angeln in den Kreisen klingen,
Aufrasseln des Gewölbes ehrne Flügel.

Voran die Brüder Trauerweisen singen,
Umflammt von weißer Knaben Fackelbränden,
Den Sarg darauf die Träger langsam bringen.

Zuletzt mit schmerzlich stillgewundnen Händen
Jüngling und Jungfrau, Männer, Greise, Frauen,
Noch immer wallt's, noch will der Zug nicht enden.

Die nun hinein, die müssen bebend schauen
Des Todes Erndt' in rothem Fackellichte,
Wie über Särgen sich die Särge bauen.

Damit Raimundus sich zu Andern schichte,
Gehn sie, den Deckel über ihn zu breiten:
Da flieht das Blut von jeglichem Gesichte.

Denn in den Leichenlaken, in den weiten,
Beginnt sich ein Lebendiges zu rühren,
Und lang empor sehn sie den Dechant gleiten.

Wüst starrt er aus den Falten seiner Bühren,
Die Augen sprechen: Seht, Raimundus lebet!
Nein, ruft das Grab, ich that ihn mir erküren.

Es öffnet sich der bleiche Mund und bebet:
»Laß mein Gebein in Schnee und Thau sich baden,
Dem reinen Mann die reine Stätte gebet!

»Ich bin vor meines Richters Stuhl geladen,
Ich bin gestanden vor des Richters Schranken,
Ich bin verworfen von dem Spruch der Gnaden.

»Auf eitel Gleißen standen die Gedanken,
Den Schein trug von der Sünde ich zu Lehre,
Mit Lügen wollt' ich mich zum Himmel ranken.

»Doch vor den Stürmen, die durch's Jenseits wehen,
Bleibt ungelöscht nur eines Sternes Schimmer,
Der Stern heißt Wahrheit; die wird ewig stehen.

»Ich höre schon der Brüder dumpf Gewimmer!
Die Beicht ist aus. Hu, wie die Flamme lodert!«
Drauf schließt das Leichenbild den Mund für immer.

Im wilden Klippenthal Raimundus modert.

Immermann


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