Heinrich Zschokke
Meister Jordan
Heinrich Zschokke

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14. Der verständige Wandergesell.

In frühester Morgendämmerung andern Tages machte sich Veit auf, das väterliche Haus zu verlassen, und warf das Ränzel über die Schultern. – Noch glänzte der Mond zwischen einzelnen Sternen. Noch schliefen Vater, Mutter, Christiane. Er wollte den Schmerz des Abschieds nicht erneuern. Auch stand ihm noch ein anderes Lebewohl bevor, von welchem Niemand wissen sollte. Ida hatte es gefordert. Vielleicht hätte Jonas seinem Sohn, unter andern guten Lehren, auch die Warnung mit auf den Weg geben können, im Verkehr mit Personen andern Geschlechts Ruhe und Besonnenheit zu bewahren, und nicht ein anfängliches Wohlgefallen zur entschiedenen Neigung, und die Neigung zur verblendenden Leidenschaft auflodern zu lassen. Vielleicht aber hatte er das Warnen wohlbedächtig unterlassen, um nicht selber des jungen Menschen Lüsternheit nach einer Gefahr zu wecken, die diesem noch unbekannt sein mochte; oder er maß die Verständigkeit des Sohnes nach der seinigen ab. Weil er nichts argwohnte, hatte er geschwiegen. Selbst Martha hatte nichts Bedenkliches wahrgenommen, während Frauen sonst in dergleichen Angelegenheiten Sperberaugen haben.

Wo die Gärten des Goldschmieds und des Hofgürtlers hinter ihren Häusern zusammenstießen, stand schon die kaum sechszehnjährige Ida im leichten Gewande, ihren Liebling erwartend. Wie geflügelt schwang sich Veit über den Hag, an ihren Busen, an ihre Lippen; und sie umfing ihn mit einer Innigkeit, daß ihm ward, als würde sein ganzes Wesen zur Flamme. Lange seufzten sie einander leise nur ihre Namen zu, dann flüsterten sie einander weinend ihr gegenseitiges: »Vergiß mein nicht!« dann Schwüre und Gelübde, sich ewig anzugehören und treu zu bleiben bis in den Tod. Dem guten Veit schien es in diesem Augenblicke leichter, Alles, selbst Vater und Mutter zu entbehren und ganz zu verlieren, als die Einzige, ohne welche ihm das Weltall ein todtes Nichts blieb.

Ida riß sich zuerst von ihn. los. Er taumelte betrübt und gedankenlos durch die leeren Straßen zum Thore der Stadt. Dort im Freien weinte er seinen Schmerz aus, und beschloß, nach kürzester Wanderschaft heimzueilen, um für immer seiner Geliebten eigen zu werden.

Die Thränen versiegten endlich. Wie im Sonnenglanz die Landschaft rings aufleuchtete, ward es auch heller und ruhiger in seinem Herzen. Zerstreuungen unterwegs, Gedanken an die Zukunft, an mögliche Begegnisse und Abenteuer auf der Reise, wie sie die Phantasie vorspiegelte, beschäftigten ihn allmälig lebhafter. Er sah gelassener ins Vergangene. Nun von den Schutzengeln seiner Tage, von Vater und Mutter auf lange Zeit getrennt, wurden ihm beide theurer, als je zuvor. Zwar Ida stand mit ihnen noch auf gleicher Linie. Doch wenn er zuweilen an seine einstige Heimkunft dachte und was, nach Jahr und Tag, im Vaterhause vorgefallen sein könne, und wen er vielleicht vermissen würde, dann rief es in ihm: »Nur meine Herzensältern, nur Euch möcht' ich nicht verlieren!« Selbst Ida's Bild trat zurück. Und wenige Tage später, wenn er sich der Abschiedsstunde im Garten, und seines damaligen Jammers erinnerte, ward er fast unwillig über sich. Es dünkte ihn, er habe einen bösen Rausch, einen Anfall von Wahnsinn gehabt.

Ueber seine Reiseschicksale schrieb er, von Zeit zu Zeit, nach Hause; und jedesmal, so oft er den Aufenthaltsort änderte. Denn die Aeltern wollten stets unterrichtet bleiben, wo er sich befinde, um ihm im Fall der Noth hülfreich werden zu können. Meister Jordan hatte ihn mit mäßigem Reisegeld ausgestattet; reichlicher wahrscheinlich die sorgliche Mutter. So lang er's vermochte, verweilte er nirgends länger in den Städten, als nöthig war, ihre Sehenswürdigkeiten kennen zu lernen. Nur in Nürnberg, dann in München brachte er mehr, denn ein volles Jahr zu. Darauf begab er sich nach England, wo er sogleich in einer großen Fabrik zu London Arbeit fand.

Nichts befremdete den Vater Jonas aus Veits Berichten so sehr, als daß der fahrende Gesell fast in jeder Stadt das Handwerk wechseln konnte, und bald bei einem Gelbgießer, bald bei einem Gürtler, bald bei einem Rothgießer Anstellung hatte. »Daß mir der Bursch mit seinem Allerleitreiben nur kein Pfuscher wird!« rief er zuweilen: »Neunerlei Handwerk macht neun Bettler. Drum sag' ich: Schuster bleib' beim Leisten! Wo nimmt der Junge seine Kunststücke her! Bei mir hat er sie nicht gelernt.«

Veit aber war keiner von den Handwerksburschen gemeinen Schlages, die da wandern, um zu wandern; blauen Montag feiern; bei Kartenspiel, Wein, und Bierkrügen den Wochenverdienst verthun, und hintenher von Haus zu Haus fechten gehen; viel sehen und nichts davon verstehen. Er, zu wenigen Bedürfnissen gewöhnt, verließ keine Stadt, ohne einen hinreichenden Zehrpfennig erarbeitet und erspart zu haben; hatte keinen Feierabend, ohne ihn bei einem lehrreichen Buche zuzubringen, oder mit Besichtigung von vorhandenen Glocken-, Stück- und Bildgießereien, von Kunstkabineten oder Modellkammern polytechnischer Anstalten. Und wo er etwas sah, davon er nicht Grund und Zweck begriff, wagte er bescheidene Fragen. Dann schrieb er es in sein Tagebuch ein. Weil er im Fragen Kenntniß verrieth, die an einem Handwerksburschen befremdeten, ließ man sich gern mit ihm ein und stillte seine Wißbegier. So gerieth er vielmals mit erfahrenen Männern, selbst mit manchen berühmten, in eine Bekanntschaft, die ihm großen Nutzen brachte. Wohl spotteten und höhnten die übrigen Gesellen den Bruder Altenheimer, den gelehrten Gürtler, tapfer aus. Er ließ sie spotten und höhnen; blieb gegen sie gefällig und dienstfertig; aber wußte die unsaubern Geister immerdar in angemessener Ferne von sich zu halten.

»Täglich mehr überzeug' ich mich,« schrieb er einmal an seinen Vater, »daß das zunftmäßig gebotene Wandern der Gesellen für die wenigsten von großem Vorteil, für viele verderblich sei. Wie sollen diese Menschen, meist von verwahrloster Erziehung, in ihrem Berufe höhere Vollkommenheit erlangen, wenn sie dafür, in Schule und Haus, ohne Vorbereitung gelassen sind? Niemandem kömmt etwas in den Sinn, wofür er keinen Sinn offen hat. Von einem Herbergevater kehren sie beim andern ein; von einer Werkstatt in die andere, und finden überall den Schlendrian, das mechanische, geistlose Arbeitsleben wieder, wie in der ersten, wo sie, als Lehrlinge, zu ihrer Profession abgerichtet worden sind. Höchstens gewinnen sie durch Uebung Handfertigkeit; dann und wann lauern sie da und hier ihren Meistern einen Kunstgriff, ein Rezept ab, was er eifersüchtig geheim hält. Damit dünken sie sich etwas.«

»Selbst der Charakter solcher Landläufer wird nicht selten im Umgang mit ihres Gleichen verwüstet. Sie lernen Saufen und Raufen, Spiel und Unzucht mit schlechten Weibern, Komplotiren und Räsonniren. Hat's schlimme Folgen, machen sie sich aus dem Staube; lachen die Polizei aus und lassen verführte Mädchen sitzen. Viele kommen, wie äußerlich ehrbar sie thun mögen, schlechter heim, als sie weggingen. Viele gehen zu Grunde, ehe sie die Heimath wiedersehen.«

»Glaubet es, Herzensvater, nur Wenigen wird die Wanderzeit zur rechten Schule des Lebens, in welcher bei häufigem Wechsel guter und schlimmer Tage, der Kopf einen Schatz von Erfahrungen, die Denkart Festigkeit und Stärke, das Herz Edelmuth und Gottvertrauen annimmt. Nur Wenige, welche aber schon wissenschaftlichere Bildung mitbringen, können für ihr Berufsfach Werthvolleres erobern; ihre Einsicht erweitern, und Erfindungen und Entdeckungen, die im Gebiet anderer Gewerbe und Künste gemacht sind, in ihre eigene Profession herüberziehen und benutzen.«

Es scheint in der That, daß Veit dies Herüberziehen und Benutzen meisterlich verstand. Jonas mochte den Sinn dieser merkwürdigen Worte wohl nicht ganz begriffen haben, weil er selber in seiner Jugend übel geschult worden war, und wenig von neuen Erfindungen und Entdeckungen in andern Gebieten wußte. Er würde schwerlich sonst ausgerufen haben: »Wo nimmt der Junge seine Kunststücke her? Bei mir hat er sie nicht gelernt.« Er hätte sich nicht so sehr verwundert, daß sein Sohn zu London in einer großen Fabrik von Guß- und Metallwaren, nicht nur baldige, sondern, wegen seiner Brauchbarkeit, sehr vorteilhafte Anstellung erhalten hatte. Und wenn er daran hätte zweifeln wollen, würde ihn ein Brief überzeugt haben, den er anderthalb Jahre später, und zwar aus Paris, empfing, welchem Veit eine englische Banknote von 200 Pfund (das ist von circa 2200 fl.) beigelegt hatte.

»Ich gestehe,« meldete er, »daß ich meinen bisherigen Herrn, Sir Francis Dalton, und das schöne London, ungern verließ. Er aber drang so lebhaft in mich, die Stelle in den Gießereien des Herrn Bellarme bei Paris, seines in größter Verlegenheit befindlichen Freundes, anzunehmen, daß ich endlich nachgab.«

»Herr Bellarme und seine liebenswürdige Gemahlin empfingen mich ungemein gütig. Er, ein angesehener Gutsbesitzer, zugleich Inhaber einer ausgedehnten Gießerei von Glocken, allerlei Bildwerken und den mannigfaltigsten Luxusartikeln in Bronze, daneben einer prächtigen Wahlniederlage in Paris, ist kränklich. Ich glaube, er leidet an der Schwindsucht. Sein bisheriger Handlungsgenoß hatte sich von ihm getrennt, und die ganze, weitläufige Geschäftsführung lastete nun auf ihm. Im vollen Vertrauen auf die Empfehlungen von Sir Francis, hat er sie mir übertragen. Er schien anfangs, wegen meiner Jugend, etwas mißtrauisch; auch war die Aufgabe keineswegs leicht. Aber ich verlor den Muth nicht, und beziehe jetzt weit bedeutendern Gehalt, als in London, wo ohnehin, was man zum Leben braucht, weit theurer ist, denn hier.«

»Sir Francis beschenkte mich bei der Abreise mit einer kostbaren, goldenen Repetiruhr, und seine Gemahlin mit einem Brillantenring. Die Diamanten aber verkauft' ich. Dergleichen Schmuck zu tragen, geziemt mir nicht. Auch die Uhr verwandele ich in Geld, denn ich trage doch keine lieber, als die Ihr, meine Herzensältern, einst am Weihnachtsmorgen mir unter den lichterreichen Baum gelegt habt. Den Ertrag von diesen und andern Geschenken und Ersparnissen in London send' ich euch nun hiebei. Verwendet dies geringe Zeichen meiner Dankbarkeit nach euerm Gefallen und zu euerm Nutzen.«

Bei dieser Stelle schüttelte Meister Jordan den Kopf, und rief, innig bewegt, dennoch aber wie zürnend, indessen über Martha's Wange eine Thräne mütterlicher Zärtlichkeit schlich: »Nein, nein! mit nichten! Was denkt auch der Narr? Er wird's selber noch brauchen, der Einfaltspinsel. Wart' er nur, bis er ans Meisterstück kömmt! Was mich absonderlich an der Geschichte freut, ist seine Genügsamkeit und Demuth. Er schämt sich seiner alten, silbernen Taschenuhr nicht. Das würde nicht Jeder thun. Es gehören starke Beine dazu, die ungewohntes Glück tragen sollen. Die hat der Bursch.«


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