Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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5

Und Mathieu und Marianne lebten noch mehr als zwanzig Jahre, und Mathieu war neunzig, Marianne siebenundachtzig Jahre alt, als ihre drei ältesten Kinder, Denis, Ambroise und Gervais, die noch immer rüstig an ihrer Seite lebten, sich zusammentaten, um ihre diamantene Hochzeit, den siebzigsten Jahrestag ihrer Vermählung, durch ein großes Fest zu feiern, bei welchem die ganze Familie auf dem Gute Chantebled sich vereinigen sollte. Es war das keine kleine Sache. Als sie die Liste vollendet hatten, fanden sie, daß aus Mathieu und Marianne entsprossen waren einhundertachtundfünfzig Kinder, Enkel und Urenkel, uneingerechnet einige jüngst Geborene, welche die vierte Generation bildeten. Wenn noch die angeheirateten Männer und Frauen dazukamen, waren sie im ganzen dreihundert. Und wo auf dem Hofe einen so großen Raum finden, in welchem sie die riesige Familientafel aufstellen konnten, die sie planten? Der Hochzeitstag fiel auf den zweiten Juni, der Frühling war in diesem Jahr von außerordentlicher Sonnigkeit und Milde. Sie beschlossen daher, daß das Mahl im Freien stattfinden solle, und die Tafel sollte gegenüber dem einstigen Pavillon auf der großen Rasenfläche gedeckt werden, die, von prächtigen Buchen und Ulmen umschlossen, einem riesigen grünen Saale glich. Wie heimlich würden sie sich alle da fühlen, mitten im Schoße der gütigen Erde, unter der nun mächtig entwickelten Eiche, welche von den beiden Ahnen gepflanzt worden, deren blühend reiches Geschlecht nun ihre glückliche Fruchtbarkeit zu feiern gekommen war.

Die Vorbereitungen und Anordnungen zu dem Feste wurden mit liebevoller und fröhlicher Begeisterung gefördert. Alle wollten daran teilnehmen, alle eilten herbei zu der glorreichen Familienvereinigung, von den Alten mit grauen Haaren bis zu den Kleinen, die noch den Finger in den Mund steckten. Und auch der weiche blaue Himmel, die strahlende Sonne wollten mit dabei sein, ebenso wie die ganze Besitzung, die rieselnden Quellen, die grünenden Felder, die reiche Ernten versprachen. Sie war prächtig anzusehen, diese gewaltige Hufeisentafel mitten im Grase, mit ihrem schimmernden Gedeck, über das die Sonne durch das Gitterwerk des Laubes einen Strahlenregen hinstreute. Das ruhmreiche Ehepaar, der Vater und die Mutter, sollten Seite an Seite im Mittelpunkte unter der großen Eiche sitzen. Dann war beschlossen worden, daß auch die andern Ehepaare nicht getrennt werden sollten, sondern daß es schön und herzlich sein würde, sie nebeneinander zu setzen, nach dem Rang der Generationen geordnet. Und was die jungen Männer und jungen Mädchen, die Kinder beiderlei Geschlechtes betraf, so sollten sie sich bunt anreihen, wohin Zufall oder frohe Wahl sie verschlug.

Dann kamen sie vom Morgen an in Scharen aus allen vier Weltgegenden herbei, strömten wieder in dem gemeinsamen Familienneste zusammen, von welchem aus sie sich zerstreut hatten. Aber ach! Der Tod hatte schon viele abgemäht, viele konnten nicht mehr kommen. Abgeschiedene ruhten, von Jahr zu Jahr in größerer Zahl, auf dem kleinen stillen, blumigen Friedhofe von Janville, der in so lindträumerischer Einsamkeit dalag. Neben Rose, neben Blaise, die als erste hingegangen waren, hatten schon viele andre sich hier zum ewigen Schlafe gebettet, hatten ein jedes ein Stück Herz der Familie mitgenommen und aus dieser heiligen Erde eine Stätte des Kultus unvergänglicher Erinnerung gemacht. Zuerst hatte Charlotte, die schon lange leidend gewesen, sich Blaise zugesellt, glücklich, ihre Tochter Berthe als ihre Stellvertreterin bei Mathieu und Marianne zurücklassen zu können, die von diesem Verluste ins Herz getroffen waren, als ob ihnen ihr Sohn zum zweitenmal gestorben wäre. Dann war ihre Tochter Claire dahingegangen, den Hof ihrem Manne, Frédéric, und ihrem Bruder Gervais überlassend, der im Jahre darauf ebenfalls Witwer geworden war. Hierauf hatten sie ihren Sohn Grégoire verloren, den Mühlenbesitzer, dessen Witwe Thérèse dort noch immer in der Mitte einer großen Nachkommenschaft herrschte. Dann war noch eine ihrer Töchter, die gute Marguerite, die Frau des Doktors Chambouvet, an der Bräune gestorben, infiziert von zwei Kindern einer armen Arbeiterin, die sie bei sich aufgenommen hatte. Und die andern Verluste waren nicht mehr zu zählen, die Männer und Frauen, die in die Familie geheiratet hatten, und die Kinder besonders, der Tribut an das Unglück, die Opfer der Stürme, welche über die menschliche Ernte hinfahren, alle die verschwundenen teuren Wesen, denen die Lebenden nachweinen und die die Erde heiligen, in der sie ruhen.

Aber wenn die teuren Toten da unten in dem großen Schweigen ruhten, welch froher Lärm, welcher Jubel des Lebens an diesem Morgen auf den Straßen, die nach Chantebled führten! Es kamen immer mehr hervor als starben, eine Blüte neuer Wesen schien jedem Tode zu entsprießen. Zu Dutzenden wuchsen sie aus dem Boden hervor, in welchen ihre Väter, ermattet vom guten Tagewerke, sich zur Ruhe gelegt hatten. Und sie kamen nun von allen Seiten herbei, wie die Schwalben, die im Frühling glücklich ihre Nester wieder aufsuchen, die blaue Luft mit der Freude über ihre Wiederkehr erfüllend. Unaufhörlich brachten Wagen neue Gäste in den Hof, immer neue Ehepaare mit Scharen von Kindern, deren blondköpfige Flut immer mehr anschwoll. Urgroßväter mit schneeigen Haaren führten ganz Kleine, die noch kaum gehen konnten. Junge Mädchen von blühender Frische halfen alten Damen aus dem Wagen. Mütter waren wieder schwanger, Väter hatten den hübschen Gedanken gehabt, die Verlobten ihrer Töchter mitzubringen. Alle waren sie miteinander verwandt, miteinander verschwägert in unlösbarer Verflechtung, Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, Schwiegerväter, Schwiegermütter, Schwäger, Schwägerinnen, Söhne, Töchter, Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen in allen Graden, in allen erdenkbaren Mischungen, bis in die vierte Generation. Alle bildeten sie eine einzige Familie, ein einziges kleines Volk, welches der glück- und stolzerfüllte Gedanke vereinigte, dieses so seltene und herrliche Fest der diamantenen Hochzeit zu feiern, der Hochzeit der beiden glorreichen Helden des Lebens, aus denen dieses ganze Volk entsprossen war. Und wie sie alle aufzählen, wie sie alle nennen, die da in den Hof einzogen, wie ihre Namen, ihre Alter, ihre Verwandtschaftsgrade angeben, wie ermessen, mit wie viel Kraft, Gesundheit und Hoffnung sie die Welt bereicherten!

Zuerst die vom Hofe selbst, die hier gewurzelt hatten und hier aufgewachsen waren. Gervais, zweiundsechzig Jahre alt, wurde unterstützt von seinen beiden ältesten Söhnen Léon und Henri, die ihrerseits schon Väter von zusammen zehn Kindern waren; und seine drei Töchter, Mathilde, Léontine, Julienne, jünger als die Söhne, die in der Umgebung verheiratet waren, hatten zusammen zwölf. Frédéric, der Witwer nach Claire, fünf Jahre älter als Gervais, hatte seinen Platz als treuer Gehilfe an seinen Sohn Joseph abgetreten, während seine beiden Töchter, Angèle und Lucile, ebenso wie sein jüngster Sohn, Jules, ebenfalls auf dem Gute dienten und alle vier zusammen eine kleine Schar von fünfzehn Kindern, Knaben und Mädchen, ihr eigen nannten. Von denen, die von auswärts kamen, waren die von der Mühle die ersten: Thérèse, die Witwe Grégoires, führte ihre Nachkommen herbei, ihren Sohn Robert, der nun die Mühle unter ihrer Aufsicht leitete, ihre drei Töchter, Geneviève, Aline und Natalie, mit einem ganzen Gefolge hinter sich, zehn Kindern ihrer Töchter und vieren des Sohnes. Dann kamen Louise, die Frau des Notars Mazaud, Madeleine, die Frau des Architekten Herbette, gemeinsam mit dem Doktor Chambouvet, Witwer nach der guten Marguerite, alle drei gefolgt von je einem fröhlichen kleinen Trupp, die erste mit vier Töchtern, wovon Colette die älteste, die zweite mit fünf Söhnen, an deren Spitze Hilaire, der dritte mit nur einem Knaben und einem Mädchen, Sebastien und Christine; und alle diese verzweigten sich wieder weiter, hinter ihnen wuchsen schon zwanzig Urenkel hervor. Aber nun zog Paris heran, Denis und Marthe erschienen mit großem Gefolge: Denis, bald siebzig Jahre alt, Urgroßvater durch seine Töchter Hortense und Marcelle, der köstlichen Ruhe nach vollbrachter Arbeit genießend, seitdem er die Fabrik seinen Söhnen Lucien und Paul übergeben hatte, Männern von über vierzig Jahren, deren Söhne ihrerseits auf dem Wege zu allen Erfolgen waren – ein ganzer erobernder Stamm, der fünf Wagen entstieg, die Eltern, die vier Kinder, die fünfzehn Enkel, die drei Urenkel, wovon zwei noch im Polster. Und als letzte kamen endlich das kleine Volk Ambroises, der den Schmerz erfahren hatte, seine Frau Andrée frühzeitig zu verlieren, der aber selbst noch so frisch geblieben war, daß er mit siebenundsechzig Jahren noch sein Kommissionshaus leitete, wo seine Söhne, Léonce und Charles, einfache Angestellte waren, wo seine Schwiegersöhne, die Gatten seiner Töchter Pauline und Sophie, vor ihm zitterten – ein unumschränkter Herrscher, dem alles gehorchte, Großvater von sieben schon erwachsenen Enkeln und neun prächtigen Enkelinnen, von denen vier ihn schon zum Urgroßvater gemacht hatten, noch ehe selbst Denis, der Philosoph, sein älterer Bruder, diese Würde erreicht hatte. Diese Gruppe kam in sechs Wagen. Der Aufzug hatte zwei Stunden gedauert, und der Hof war nun erfüllt von einer frohen, lachenden, glücklichen Menge, auf welche die helle Junisonne wohlwollend niederstrahlte.

Mathieu und Marianne hatten sich indes noch nicht gezeigt. Ambroise, der der oberste Ordner des Festes war, hatte ihnen das Versprechen abgenommen, daß sie in ihrem Zimmer bleiben würden, gleich gekrönten Häuptern, die ihrem Volke unsichtbar sind, bis er sie holen würde. Er wollte, daß sie in feierlicher Weise erschienen. Und als endlich das ganze Volk versammelt war und er den Augenblick für gekommen erachtete, fand er an der Tür, sie bewachend gleich einem Leibgardisten, seinen Bruder Benjamin. Inmitten all der Fruchtbarkeit dieses Stammes, der mit so außerordentlichem Eifer arbeitete und sich vermehrte, war Benjamin der einzige Müßige, der einzige Unfruchtbare geblieben. Mit dreiunvierzig Jahren ohne Frau, ohne Kinder, lebte er nur für das Glück des Elternhauses, als Kamerad seines Vaters, als leidenschaftlicher Verehrer seiner Mutter, welche beide dem liebenden Egoismus nachgegeben hatten, ihn für sich allein zu behalten, indem sie sagten, daß das Leben, dem sie so viele Wesen geschenkt hatten, ihnen wohl dieses zum Geschenk machen könne, diesen letzten der Schar. Zuerst hatten sie nichts dagegen eingewendet, daß er heirate; aber als sie dann sahen, daß er zögerte, daß er jede Frau zurückwies, nachdem er die einzige verloren, die er geliebt hatte, empfanden sie darüber eine große geheime Freude. Dennoch hatten allmählich uneingestandene Selbstvorwürfe sie zu quälen begonnen, darüber, daß sie selbstsüchtig des Glückes seiner Gemeinschaft genossen wie eines vergrabenen Schatzes, an dem ihr nach einem so verschwenderischen Leben geizig gewordenes Alter sich ergötzte. Litt ihr Benjamin nicht darunter, daß er um ihrer Freude willen so eifersüchtig behütet, innerhalb der vier Wände ihres Hauses verschlossen wurde? Er war immer träumerisch und melancholisch gewesen, seine schönen Augen schienen stets das Jenseits der Dinge zu suchen, das unbekannte Land der vollkommenen Befriedigung, dort drüben hinter dem Horizont. Und nun, da das Alter kam, da er nicht mehr jung war, schien sein seelisches Leid zu wachsen, als ob er innerlich daran verzweifle, jemals das Unbekannte zu versuchen, ehe er nutzlos und glücklos endete.

Aber Ambroise befahl, und Benjamin gab die Tür frei. Und im Sonnenschein, auf dem blumigen Rasen, erschienen Mathieu und Marianne. Ein lauter, allgemeiner Jubel empfing sie, frohes Lachen, Händeklatschen. Die freudig erregte Menge, die da beisammen war, die ganze hundertköpfige Familie rief:

»Es lebe der Vater! Es lebe die Mutter! Langes, glückliches Leben dem Vater und der Mutter!«

Mit neunzig Jahren hielt sich Mathieu noch immer sehr aufrecht, seine schlanke Gestalt war von einem enganliegenden schwarzen Leibrocke umschlossen, als wäre er ein Neuvermählter, auf seinem unbedeckten Kopfe lag der Schnee seiner dichten Haare, die er einst kurz getragen hatte, und die er mit der Koketterie des Alters hatte lang werden lassen, seitdem sie einem neuen Wachstum des kraftvollen alten Baumes glichen. Das Alter mochte sein Gesicht vertrocknet, mit Runzeln durchfurcht haben, aber er hatte noch immer seine großen, klaren, lächelnden Augen, diese Augen voll Leben und Tiefe, die noch immer den Mann des Gedankens und der Tat, den einfachen, heiteren und guten Mann verrieten. Und Marianne, siebenundachtzig Jahre alt, im hellen Hochzeitskleide, hielt sich ebenfalls sehr aufrecht, noch immer rüstig, noch immer schön in ihrer Gesundheit, mit ihren kräftigen Hüften, die eine Welt getragen hatten, mit ihrer vollen Brust, die sie genährt hatte. Ganz weißhaarig gleich ihrem Manne, mit verklärtem Gesichte, das unter ihrem seidigen Haar von einer letzten Röte angehaucht war, glich sie einer jener heiligen Marmorstatuen, deren Züge die Zeit verwittert hat, ohne ihnen die ruhige Schönheit nehmen zu können, einer furchtbaren Cybele, die wohlerhalten in ihren festen Linien aufgefunden worden und nun im hellen Tag wiedererstanden ist, mit zärtlich-heiterem Ausdrucke in ihren großen schwarzen Augen.

Arm in Arm, aneinander gelehnt, als liebende Gatten, die von weither gekommen, die siebzig Jahre miteinander gewandert sind, ohne sich je zu verlassen, sahen Mathieu und Marianne mit tränenumflorten Augen lächelnd auf ihr Volk, auf die üppig gediehene Familie, die fortfuhr ihnen zuzujubeln.

»Es lebe der Vater! Es lebe die Mutter! Langes, glückliches Leben dem Vater und der Mutter!«

Dann kam die Zeremonie des Glückwunsches, der Ueberreichung des Blumenbuketts. Eine kleine Blondine von fünf Jahren, Rose, war damit betraut. Sie war gewählt worden als das älteste der Kinder der vierten Generation. Sie war die Tochter Angelinens, welche die Tochter Berthes, welche die Tochter Charlottens, der Frau Blaises war. Und als die beiden Ahnen sie mit ihrem großen Bukett herankommen sahen, da verstärkte sich ihre Bewegung und sie stammelten, von Erinnerungen überwältigt, unter glücklichen Tränen:

»Unsre kleine Rose! Unser Blaise, unsre Charlotte!«

Die ganze Vergangenheit lebte wieder auf. Man hatte der Kleinen den Namen Rose gegeben, zum Andenken an jene andre, vielbeweinte Rose, die erste Abgeschiedene, die dort drüben auf dem kleinen Friedhofe ruhte. Und Blaise war auch dahin gebettet worden, und Charlotte war ihm gefolgt. Dann hatte Berthe, ihre Tochter, die Philippe Havard geheiratet hatte, Angeline bekommen. Und dann hatte Angeline, die Georges Delmas geheiratet hatte, Rose bekommen. Hinter dem Kinde standen Berthe und Philippe Havard, und Angeline und Georges Delmas. Alle diese waren in der kleinen Rose verkörpert, die Toten ebenso wie die Lebenden, eine so lange, blühende Linie der Abstammung, soviel Leiden und soviel Freuden, alle die tapfere Fortpflanzung, dieser ganze reiche Lebensstrom – alles dies mündete in diesem kleinen, zarten, blonden Engel mit den morgenfrischen Augen, in denen die Zukunft erglänzte.

»Oh, unsre Rose, unsre Rose!«

Rose war inzwischen vorgetreten, das große Bukett mit ihren beiden Händchen haltend. Seit vierzehn Tagen lernte sie einen sehr schönen Glückwunsch auswendig. Noch heute früh hatte sie ihn ihrer Mutter fehlerlos hergesagt. Aber als sie sich da inmitten der vielen Leute sah, war sie so aufgeregt, daß ihr kein Wort mehr einfiel. Sie verlor jedoch darüber nicht die Fassung. Sie war schon ein Persönchen voll Mut. Ohne sich viel zu besinnen, ließ sie das Bukett los und warf sich Mathieu und Marianne um den Hals, indem sie mit ihrem dünnen Flötenstimmchen rief:

»Großpapa, Großmama, heute ist euer Hochzeitstag und ich will euch einen schönen Kuß geben.«

Das war sehr hübsch. Man fand es sogar viel hübscher als den eingelernten Glückwunsch. Es gab wieder allgemeines Lachen, Händeklatschen, Zurufe. Dann setzte man sich sogleich zu Tische. Aber das war keine leichte Sache. Die riesige Hufeisentafel stand unter der Eiche, auf einem großen Viereck kurzgeschorenen Rasens. Zuerst begaben sich Mathieu und Marianne, immer noch Arm in Arm, feierlich nach der Mitte und nahmen mit dem Rücken gegen den Stamm des Baumes Platz. Links von Mathieu setzten sich Marthe und Denis, Louise und ihr Gatte, der Notar Mazaud, da man den hübschen Gedanken gehabt hatte, die Ehepaare nicht zu trennen. Rechts von Marianne nahmen Platz Ambroise, Thérèse, Gervais, der Doktor Chambouvet, alle verwitwet, dann wieder ein Ehepaar, Mathilde und ihr Mann, der Architekt Herbette, dann Benjamin allein. Hierauf folgten nach dem Rang der Generationen die andern Ehepaare. Endlich nahmen, wie das bestimmt worden war, die Jugend, die Kinder, die Schar der jungen Leute und der ganz Kleinen nach ihrem Gefallen ihre Plätze ein, inmitten einer außerordentlichen lärmenden Verwirrung.

Ah, welch ein Augenblick stolzer Freude für Mathieu und für Marianne! Sie sahen sich da in einem Triumphe, den sie sich nie zu erträumen gewagt hätten. Das Leben schien, wie um sie für ihre Zuversicht, für ihre beherzte Förderung zu belohnen, sich darin gefallen zu haben, ihr Dasein über die gewöhnliche Grenze hinaus zu verlängern, damit sie mit eignen Augen das wunderbare Blühen ihres Werkes sollten sehen können. Ihr ganzes Chantebled nahm an dem Feste teil, alles was sie da Nützliches und Schönes gegründet und geschaffen hatten. Von den bebauten, den Sümpfen abgerungenen Feldern wehte der Hauch der heranreifenden Erntefülle zu ihnen her; von den Weiden inmitten der weiten Wälder kam der warme Hauch der zahllosen Viehherden, der immerfort sich mehrenden Lebewesen; von den gefaßten Quellen, mit denen sie die Heiden befruchtet hatten, die nun reiche Ernten lieferten, drang das Plätschern zu ihnen herüber, das Rieseln des Wassers, das wie das Blut der Erde ist. Hier war das soziale Heilswerk vollbracht, der Hunger gestillt, Lebensmittel neu geschaffen, aus dem Nichts unbebauter Erde hervorgebracht. Und in welch geliebter Umgebung bereitete ihnen ihr glückliches und dankbares Geschlecht dieses Fest! Diese Buchen und Ulmen, die aus dem Rasenplatze einen weiten grünen Saal machten, die hatten sie selbst gepflanzt, sie hatten sie wachsen sehen Tag um Tag, als die friedlichsten und stärksten ihrer Kinder. Diese Eiche besonders, heute ein Riesenbaum, dank der klaren Flut des Bassins, in welches unaufhörlich eine der Quellen sich ergoß, das war ihr großer Sohn, den sie hier am Tage der Gründung von Chantebled in die Welt gesetzt hatten, indem er, Mathieu, das Loch grub, und sie, Marianne, das junge Stämmchen hielt. Und nun, da der Baum sie mit seiner gewaltigen Laubkrone überschattete, war er nicht das königliche Symbol der ganzen Familie? Gleich ihm war sie unzählbar; gleich ihm hatte sie ihre Aeste ins Unendliche vermehrt und verbreitet, und sie bedeckten nun weithin den Boden; und gleich ihm bildete sie allein einen ganzen Wald, einem einzigen Stamme entsprossen, von demselben Safte genährt, stark in derselben Gesundheit, erfüllt von Sonne, Wind und Gesang. An den mächtigen Stamm gelehnt, fühlten sich Mathieu und Marianne eins mit seiner Herrlichkeit, mit seiner majestätischen Würde, königlich gleich ihm, denn sie hatten so viel Kinder gezeugt, als er Zweige zählte, sie thronten hier über dem Volt ihrer Nachkommen, die das Leben von ihnen hatten, so wie seine Blätter es von ihm hatten. Die dreihundert Gäste zu ihrer Rechten, zu ihrer Linken waren nur ihre Verlängerung, ein einziger großer Lebensbaum, aus ihrer Liebe erwachsen, der noch immer mit allen seinen Fasern an ihnen festhielt! Sie fühlten den freudigen Stolz, mit dem alle ihnen huldigten, die Rührung der Alten, den lauten Frohsinn der Jungen. Sie hörten das Pochen ihrer eignen Herzen bis in der Brust der blondköpfigen Knaben, die mit lachendem Vorgenuß auf die Kuchen des Desserts schauten. Ihr ganzes Werk der Menschenzeugung war um sie, in ihnen vereinigt, wie die riesige Kuppel des Baumes, und von allen Seiten, rings um sie, umfloß sie die Fruchtbarkeit jenes andern Werkes, der Schaffung einer neuen Erde, jener Natur, die sich erweitert und bereichert hatte in dem Maße, als sie selbst sich vermehrt hatten.

Da kam die Schönheit Mathieus und Mariannens zum Vorschein, die, daß sie sich siebzig Jahre lang geliebt hatten, und daß sie sich noch heute liebten wie am ersten Tage. Siebzig Jahre lang waren sie Seite an Seite, Arm in Arm durchs Leben gegangen, ohne einen Zank, ohne eine Untreue. So weit gewandert in gleichem festem und vertrauendem Schritte, hatten sie gewiß viele herbe Schmerzen erfahren, aber diese hatten sie immer nur von außen getroffen. Wenn sie oft geweint hatten, so hatten sie sich damit getröstet, daß sie miteinander weinten. Unter ihren weißen Haaren bewahrten sie noch immer den Glauben der Zwanzigjährigen, ihre Herzen ruhten noch immer eins im andern, wie am ersten Tage ihrer Ehe, denn ein jedes hatte seines gegeben und es nie wieder zurückgenommen. Es war das unlösliche Band der Liebe, die einzige wirkliche Ehe, die, welche fürs ganze Leben unerschütterlich bleibt, denn es gibt kein Glück als in der ewigen Dauer. Ihr glückliches Schicksal war, daß sie beide die Kraft zu lieben hatten, den Willen zu handeln, die göttliche Begierde, deren Flamme die Welten erschafft. Er, der seine Frau vergötterte, hatte keine andre Freude gekannt als diese Schaffenslust, hatte das zu vollendende Werk, das vollendete Werk, als seinen einzigen Daseinszweck, seine Pflicht und seinen Lohn betrachtet. Sie die ihren Mann vergötterte, hatte sich einzig bemüht, Gefährtin, Gattin und Mutter zu sein, gute Gebärerin, gute Erzieherin, wie Boutan gesagt hatte, und besonders gute Ratgeberin, mit zartsinnigem Takt begabt, der alle Schwierigkeiten löste. Und so, mit jedem Kinde einander näher gebracht wie durch ein immer enger gezogenes Band, waren sie dahin gelangt, miteinander zu verschmelzen. Ihrer war die Klugheit, die Gesundheit, die Kraft. Sie hatten über alle Hindernisse und Kümmernisse nur triumphiert dank dieser ihrer langen Eintracht, ihrer gegenseitigen Treue, der ewigen Jugend ihrer Liebe, deren Rüstung sie unüberwindlich machte. Sie konnten nicht besiegt werden, sie hatte durch die bloße Macht ihrer Einigkeit triumphiert, ohne es selbst zu wollen. Und sie lebten nun als Helden aus, als Eroberer des Glücks, Hand in Hand, von kristallener Reinheit, sehr groß, sehr schön, noch vergrößert und verschönert durch ihr hohes Alter, durch dieses so lange Dasein, das von einer einzigen Liebe erfüllt war. Und ihr zahlloses Geschlecht, das sie hier umgab, der erobernde Stamm, der ihren Lenden entsprungen war, besaß keine andre Kraft als diese Kraft der Einigkeit, die er von ihnen erbte, diese treue Liebe, die die Ahnen ihren Nachkommen vermachten, das Gefühl der Solidarität, die sie einander im Kampfe um die Verbesserung des Lebens zur Seite stehen ließ, als ein einziges brüderliches Volk.

Eine frohe Bewegung ging um die Tafel, das Auftragen begann. Alle Dienstleute des Hofes waren dazu herangezogen worden, kein einziger Fremder sollte dabei sein. Fast alle waren auf dem Hofe aufgewachsen, sie gehörten auch zur Familie. Nachher sollten auch sie ihr Mahl haben, ihrerseits die diamantene Hochzeit feiern. Und inmitten von Gelächter und heiteren Ausrufungen wurden die ersten Schüsseln herumgereicht.

Plötzlich wurde das kaum begonnene Auftragen unterbrochen. Ein allgemeines Stillschweigen entstand, etwas Unerwartetes war geschehen. Auf dem Rasen, mitten zwischen den beiden Armen der Hufeisentafel schritt ein junger Mann herauf, den niemand kannte. Er lächelte heiter und ging geradeswegs auf Mathieu und Marianne zu. Vor ihnen angelangt, sagte er mit kräftiger Stimme:

»Guten Tag, Großvater! Guten Tag, Großmutter! Ihr müßt noch ein Gedeck auflegen lassen, denn ich bin gekommen, um euern Ehrentag mitzufeiern.«

Die ganze Gesellschaft blieb stumm vor Erstaunen. Wer war dieser junge Mann, den keiner von allen je gesehen hatte? Er konnte nicht zur Familie gehören, sonst hätte man sein Gesicht gekannt, seinen Namen gewußt. Warum begrüßte er also die Ahnen mit den ehrwürdigen Namen Großvater und Großmutter? Und die immer stärker werdende Verblüffung rührte besonders daher, daß er eine außerordentliche Aehnlichkeit mit Mathieu hatte, ein Froment ohne Widerrede, denn er hatte deren helle Augen, deren hohe Stirn. Der junge Mathieu lebte in ihm wieder auf, so wie ihn ein pietätvoll in der Familie bewahrtes Bild mit siebenundzwanzig Jahren darstellte, als er die Eroberung von Chantebled begann.

Da erhob sich Mathieu bebend, während Marianne glückselig lächelte, denn sie hatte vor allen andern begriffen.

»Wer bist du denn, mein Kind, der du mich Großvater nennst, und der mir wie ein Bruder gleicht?«

»Ich bin Dominique, der älteste Sohn eures Sohnes Nicolas, der mit meiner Mutter Lisbeth in dem großen freien Lande, im neuen Frankreich lebt.«

»Und wie alt bist du?«

»Ich werde im nächsten August siebenundzwanzig sein, wenn dort drüben die Wasser des Niger, des guten Riesen, unsre weiten Felder befruchten werden.«

»Und sage uns, bist du verheiratet, hast du Kinder?«

»Ich habe eine Französin zur Frau, die in Senegal geboren ist, und in unserm Ziegelhause, das ich gebaut habe, wachsen schon vier Kinder unter der flammenden Sonne des Sudan auf.«

»Und sag' uns weiter, hast du Brüder, hast du Schwestern?«

»Mein Vater Nicolas und meine Mutter Lisbeth haben achtzehn Kinder gehabt, von denen zwei tot sind. Wir sind sechzehn, neun Söhne und sieben Töchter.«

Mathieu lachte fröhlich, wie um zu sagen, daß sein Sohn Nicolas, nun fünfzig Jahre alt, ein wackerer Arbeiter des Lebens sei, der besser gearbeitet habe, als selbst er. Er blickte Marianne an, die ebenfalls glückselig lächelte.

»Also, mein Kind, da du der Sohn meines Sohnes Nicolas bist, komm und küsse uns zu unsrer Hochzeitsfeier. Es wird ein Gedeck für dich aufgelegt werden, du bist zu Hause.«

Dominique hatte im Nu die Tafel umlaufen. Er faßte die beiden Alten in seine starken Arme und küßte sie, während sie vor glücklicher Erregung fast schwach wurden, so schön war die Überraschung, daß ihnen an einem solchen Tage noch ein Sohn beschert wurde, der aus einem fernen Himmel herunterfiel und von der andern Familie Zeugenschaft ablegte, dem andern, ihren Lenden entsprossenen Volke, das im Begriffe war, sich dort unter der Glut der Tropen mit verstärkter Fruchtbarkeit zu vermehren.

Diese Überraschung verdankten sie der schlauen Veranstaltung Ambroises, der nun wohlgefällig die Einzelheiten dieses von ihm vorbereiteten effektvollen Streiches erzählte. Seit acht Tagen beherbergte und verbarg er Dominique in seinem Hause, den sein Vater aus dem Sudan gesendet hatte, um mit ihm, Ambroise, einige auf den Export bezügliche Fragen zu ordnen, und besonders um in der Fabrik Denis eine ganze Reihe landwirtschaftlicher Maschinen von eigenartiger, den dortigen Verhältnissen angepaßter Konstruktion zu bestellen. Nur Denis war also mit im Geheimnis gewesen. Als nun die ganze Tafel Dominique in den Armen der beiden Ahnen sah, als die ganze Geschichte bekannt geworden war, da gab es ungeheuern Jubel, betäubende Zurufe, begeisterte Umarmungen, in denen der Abgesandte der schwesterlichen Familie, der Prinz der zweiten Dynastie Froment, dort in dem Wunderlande des künftigen Frankreichs, beinahe erdrückt worden wäre.

»Hier, uns beiden gegenüber, soll er seinen Platz haben,« ordnete Mathieu heiter an. »Er allein soll uns gegenüber sitzen, wie der Gesandte eines mächtigen Reiches. Denn wir dürfen nicht außer acht lassen, daß er außer seinem Vater und seiner Mutter neun Brüder und sieben Schwestern vertritt, uneingerechnet die vier Kinder, die er selbst schon sein eigen nennt. Setze dich hierher, mein Sohn, und nun essen wir!«

Das Hochzeitsmahl verlief unter Fröhlichkeit und Rührung im Schatten der großen Eiche, durch deren Laubgitter ein Sonnenregen die Tafel überstreute. Ein köstlich frischer Geruch stieg aus dem Grase auf, es schien, als ob die freundliche Natur mit zur Verschönerung des Festes beitragen wollte. Das Lachen verstummte keinen Augenblick, selbst alte Männer wurden wieder zu übermütigen Kindern angesichts der neunzig und siebenundachtzig Jahre des Jubelpaares. Ringsum gab es nur von Fröhlichkeit erleuchtete Gesichter unter weißen, unter braunen und blonden Haaren; die ganze große Familie war von Freude erfüllt, schön in gesunder und heiterer Schönheit, die Kinder strahlend, die jungen Männer prächtig, die jungen Mädchen reizend, die Ehepaare vereint, Seite an Seite. Und welch gesunder Appetit! Und mit welch frohem Lärm wurde jede Schüssel empfangen! Und wie wurde dem guten Weine zugesprochen, um das gütige Leben zu feiern, das ihren zwei Patriarchen das große Glück gewährt hatte, sie alle bei einer so herrlichen Gelegenheit an ihrem Tische zu vereinigen. Beim Dessert gab es dann wieder Reden, Toaste, Zurufe. Aber in den Gesprächen, in den lebhaften Reden, die von einem Ende der Tafel zum andern flogen, kam man immer wieder auf die Ueberraschung des Tages, auf den triumphierenden Eintritt des brüderlichen Gesandten zurück. Seine Person, seine unerwartete Anwesenheit, alles was er noch nicht erzählt hatte, all das Abenteuerliche, das man hinter ihm ahnte, erhitzte die allgemeine Erregung der Familie, die von diesem Feste unter freiem Himmel berauscht war. Und sobald der Kaffee aufgetragen war, stürmten Fragen von allen Seiten auf ihn ein, er mußte sprechen.

»Ja, was soll ich euch sagen?« erwiderte er lächelnd auf eine Frage Ambroises, der wissen wollte, was er von Chantebled halte, wo er ihn des Morgens herumgeführt hatte. »Ich fürchte, daß ich nicht sehr liebenswürdig scheinen werde, weder für dieses Stück Land noch für euer Werk, wenn ich aufrichtig bin. Die Landwirtschaft ist hier zweifellos eine Kunst, ein bewundernswertes Zusammenwirken von Wissen, Wollen und fester Ordnung, um dieser alten Erde die Ernten zu entreißen, die sie noch liefert. Ihr arbeitet viel, ihr wirkt Wunder. Aber, du lieber Gott, wie klein ist euer Gebiet! Wie könnt ihr da nur leben, ohne die Ellbogen der Nachbarn in euren Weichen zu fühlen? Ihr seid hier in dicken Lagen übereinandergeschichtet, so daß ihr nicht einmal so viel Luft zum Atmen habt, als der Brust eines freien Mannes nötig ist. Und eure ausgedehntesten Felder, was ihre eure großen Güter nennt, sind nichts als Erdschollen, wo eure paar Stücke Vieh nur den Eindruck einiger verirrter Ameisen machen. Ach, dagegen die Unermeßlichkeit unsers Niger, die Unermeßlichkeit der Ebenen, die er tränkt, die Unermeßlichkeit unsrer Felder dort drüben, die keine andern Grenzen haben als die des fernen Horizonts!«

Benjamin hatte ihm bebend zugehört. Seitdem dieser Sohn der mächtigen Wasser und emer andern Sonne da war, wandte er den Blick nicht mehr von ihm, während seine träumerischen Augen sich mit dem Ausdruck einer immer wachsenden Erregung füllten. Und als er ihn so sprechen hörte, konnte er bei Anziehung des Unbekannten nicht länger widerstehen, er verließ seinen Platz, ging um den Tisch herum und setzte sich neben ihn.

»Der Niger, die unermeßliche Ebene... Sprich, erzähl uns von dieser Unermeßlichkeit!«

»Der Niger, der gute Riese, unser aller Vater dort drüben! Ich war kaum acht Jahre alt, als mein Vater und meine Mutter Senegal in einem Aufwallen unüberlegter Tapferkeit und toller Zuversicht verließen, von dem unwiderstehlichen Verlangen gedrängt, in den Sudan einzudringen und ihr Glück im Bebauen neuer Länder zu versuchen. Wir brauchten viele Tagereisen durch Buschland, über Gebirge und Flüsse, um von Saint-Louis nach unsrer jetzigen Farm jenseits Dschenne zu gelangen. Aber ich erinnere mich jener Reise nicht mehr, mir ist es, als sei ich aus dem guten Niger selbst entstanden, aus der wunderbaren Fruchtbarkeit seiner Wasser. Er ist gewaltig und sanft, er rollt unermeßliche Fluten, einem Meere gleich, von einer solchen Breite, daß keine Brücke ihn überspannt, von so langem Lauf, daß er den Horizont von einem Ende zum andern erfüllt. Er enthält Archipele, er hat Arme, die von Gräsern bedeckt sind wie Wiesen, große Tiefen, die von Heeren mächtiger Fische bevölkert sind. Er hat seine Stürme, er hat seine Tage der Glut, wo seine Wasser von der flammenden Umarmung der Sonne befruchtet werden, er hat seine milden, köstlichen, purpurnen Nächte, wo von den Sternen der Friede auf die Erde niedersinkt. Und er ist der Ahnherr, der Gründer, der Befruchtende, er hat den Sudan gezeugt, er hat ihn mit seinen unschätzbaren Reichtümern beschenkt, er verteidigt ihn gegen das Eindringen der umgebenden Wüsten, und nährt ihn mit seinem befruchtenden Schlamme. Jedes Jahr, zur bestimmten Zeit, quillt er über, bedeckt das Tal gleich einem Meere, und läßt dann den fetten, von ungeheurer Fruchtbarkeit schwangeren Boden zurück. Gleich dem Nil hat er die Sandwüsten besiegt, er ist der Vater unzählbarer Generationen, er ist der schaffende Gott einer noch unbekannten Welt, die einmal das alte Europa bereichern wird. Und das Tal des Niger, die gewaltige Tochter des großen Riesen – welche reine Unendlichkeit, welch freier Flug ins Grenzenlose! Die Ebene öffnet sich, erweitert sich, schiebt die Wände des Himmels zurück, ohne Hindernis und ohne Abschluß. Immer nur Ebene und Ebene, Felder, die wieder in Felder übergehen, wagrechte Flächen, so weit der Blick reicht, deren Ende der Pflug erst in Monaten erreichen würde. Hier wird die Nahrung für ein zahlreiches Volk geerntet werden, an dem Tage, wo man die Bebauung mit Mut und Verständnis durchführen wird, denn der Boden ist noch jungfräulich, so wie ihn der gute Fluß vor Tausenden von Jahren geschaffen hat. Dieses ganze Gebiet wird dem Kultivator zufallen, der den Mut haben wird, es zu nehmen, sich da einen so großen Besitz zu schaffen, als die Kraft seiner Arbeit ihn umfassen kann, nicht mehr Hektare, sondern Meilen von Ackerland, auf welchem unerschöpfliche Ernten heranreifen. Und welch erhabener Hauch weht über diese Unermeßlichkeit, welcher Hochgenuß, die ganze Weite in einem Atemzug einsaugen zu können, welch gesundes und kräftiges Leben, nicht mehr aufeinandergehäuft zu sein, sich frei und mächtig zu fühlen, Herr der Erde, die man sich erkoren hat, unter der Sonne, die für alle strahlt!«

Aber Benjamin wurde nicht müde, ihm zuzuhören, ihn auszufragen.

»Und wie seid ihr dort eingerichtet? Wie lebt ihr? Welcher Art sind eure Arbeiten, eure Gewohnheiten?«

Dominique lachte behaglich in dem Bewußtsein, sich in Erstaunen zu setzen, sie zu überwältigen, alle die unbekannten Verwandten, die er da beisammen fand, die er an seinen Lippen hängen sah, von immer wachsender Neugierde erregt. Nach und nach hatten sich viele erhoben und ihm genähert. Selbst die Kinder umgaben ihn, als ob er ihnen ein schönes Märchen erzählte.

»Oh, wir leben in einer Republik, wir bilden eine Kommune, in welcher jedes Mitglied an dem brüderlichen Werke mitarbeiten muß. In der Familie gibt es Handwerker aller Professionen für die großen Arbeiten, die in etwas primitiver Art ausgeführt werden. Aber der Vater hat sich besonders als geschickter Baumeister erwiesen, denn er hat bauen müssen, als wir dort ankamen. Und er macht seine Ziegel sogar selbst, dank der Tonlager, die sich bei Dschenne befinden. Unser Gut ist also jetzt ein kleines Dorf, ein jedes Kind, das heiratet, bekommt sein Haus. Dann sind wir nicht bloß Ackersleute, wir sind auch Fischer und Jäger. Wir haben unsre Boote, der Niger ist außerordentlich fischreich, wir machen gewaltigen Fang. Die Jagd würde ebenfalls hinreichen, die Familie zu ernähren, das Wild ist in Mengen vorhanden, es gibt Scharen von Rebhühnern und Perlhühnern, abgesehen von den Flamingos, den Pelikanen, den Reihern, Tausenden von Tieren, die nicht eßbar sind. Schwarze Löwen statten uns manchmal Besuche ab; Adler segeln gelassenen Fluges über unsern Köpfen hin; Nilpferde spielen zu dreien und vieren um die Abenddämmerung im Flusse, mit der schwerfälligen Grazie badender Negerkinder. Indessen sind wir hauptsächlich Bauern, Könige der Ebene, wenn der Niger sich zurückgezogen, nachdem er unsre Felder befruchtet hat. Unser Besitz ist nicht von Grenzen eingeschlossen, er geht so weit, als wir unsre Arbeit ausdehnen können. Und wenn ihr die eingeborenen Bauern sehen könntet, die gar nicht einmal ackern, die kaum ein andres Werkzeug haben als Stöcke, mit denen sie den Boden aufkratzen, ehe sie ihm den Samen anvertrauen! Keine Sorge, keine Mühe, die Erde ist fett, die Sonne heiß, die Ernte wird immer gut. Wenn nun wir den Pflug anwenden, wenn wir dieser von Leben strotzenden Erde einige Sorgfalt angedeihen lassen, was für gewaltige Ernten, welch ein Überfluß an Frucht, der eure Scheuern zersprengen würde! Wenn wir erst die Maschinen haben, die ich bei euch bestellt habe, werden wir einer ganzen Schiffsflottille bedürfen, um euch den Überfluß unsrer Speicher zuzusenden. Nach dem Zurücktreten des Flusses wird Reis gebaut, der manchmal zwei Ernten ergibt. Dann pflanzen wir Hirse, Erdnüsse, und wir werden Korn bauen, sobald wir den Anbau im großen in Angriff nehmen können. Weite Baumwollpflanzungen reihen sich aneinander. Wir pflanzen auch Maniok und Indigo, wir haben Felder mit Zwiebeln, mit Nelkenpfeffer, mit Kürbissen und Gurken. Und ich spreche gar nicht von den wildwachsenden Pflanzen, den kostbaren Gummibäumen, von denen wir einen ganzen Wald haben, den Brotbäumen, Kuhbäumen, Pifangstauden, die auf unserm Boden wachsen wie bei euch die Weiden an den Flußufern. Endlich sind wir auch Viehzüchter; wir haben sich unaufhörlich vermehrende Herden, deren Kopfzahl wir nicht einmal kennen. Wir haben Ziegen und langhaarige Schafe zu Tausenden, unsre Pferde galoppieren frei auf Weiden so groß wie die Städte, unsre Buckelochsen bedecken eine Meile des Ufers, wenn sie zum Trinken an den Niger hinabsteigen, um die Stunde heiterer Pracht, da die Sonne untergeht. Und vor allem sind wir freie Menschen, frohe Menschen, die arbeiten, um die Freuden eines fessellosen Lebens zu genießen, die die Befriedigung haben, sich sagen zu können, daß ihr Werk sehr groß, sehr gut und sehr schön ist, da es das neue Frankreich ist, das beherschende Frankreich der Zukunft.«

Nun sprach er unaufhaltsam weiter. Man brauchte ihn nicht mehr zu fragen, er schüttete seine von Größe und Schönheit erfüllte Seele aus. Er erzählte von Dschenne, der einstigen Königsstadt mit den ägyptischen Bewohnern und Bauten, die noch das Tal beherrscht. Er erzählte von den vier andern Zentren, Vammako, Njamina, Segu, Sansandig, großen Dörfern, die eines Tages große Städte sein würden. Er erzählte besonders von Timbuktu, der Herrlichen, der so lange unbekannten Stadt, die ein Schleier von Legenden umhüllt, gleich einem verbotenen Paradies, mit ihrem Gold, ihrem Elfenbein, ihren schönen, gefälligen Frauen, die sich gleich einer Fata Morgana unerreichbarer Genüsse über dem gefräßigen Sande erhebt. Er erzählte von Timbuktu, dem Doppeltore der Sahara und des Sudan, der Genzstadt, wo das Leben ausmündete, sich vermischte, sich austauschte, wohin das Kamel der Wüste europäische Waffen und Waren brachte, ebenso wie das unentbehrliche Salz, wo die Nigerbarken das kostbare Elfenbein abluden, das Gold, das man von der Erdoberfläche sammelte, die Straußfedern, den Gummi, das Getreide, alle Reichtümer des fruchtbaren Tales. Er erzählte von Timbuktu dem Stapelplatz, Timbuktu der Metropole und Hauptmarkt von Zentralafrika, mit ihren Mengen von Elfenbein, ihren Mengen von jungfräulichem Golde, ihren Vorräten an Reis, an Hirse, an Erdnüssen, an Indigo, ihren Schätzen an Straußfedern, ihren Metallen, ihren Datteln, ihren Stoffen, ihren Metallarbeiten, ihrem Tabak, ihrem Salz insbesondere, großen Steinsalzplatten, die auf Lasttieren von dem schrecklichen Taudeni hergebracht wurden, der Sahara-Salzstadt, deren Boden meilenweit aus Salz besteht, eine Hüllenmine dieses Minerals, das im Sudan so kostbar ist, daß es als Wertmesser gilt gleich dem Gelde, notwendiger als Gold. Endlich erzählte er von Timbuktu der Verfallenen und Verarmten, der einst so blühenden und prächtigen Stadt, die heute in Trümmern liegt, die hinter ihren rissigen Mauern die Reste der Schätze, die sie noch besitzt, vor den Räubern der Wüste birgt, die aber alsbald wieder die stolze und reiche Stadt werden wird, welche königlich zwischen dem Sudan, der überreichen Kornkammer, und der Sahara, der Straße nach Europa, thront, wenn Frankreich diese Straße geöffnet haben, die Provinzen dieses neuen Reiches miteinander verbunden, dieses zweite unermeßliche Frankreich gegründet haben wird, gegenüber welchem das alte Vaterland nur noch das kleine, denkende Gehirn darstellen wird, den leitenden Kopf.

»Das ist der Zukunftstraum,« rief er, »das ist das gewaltige Werk, das einmal ausgeführt werden wird. Unser Algerien mit Timbuktu quer durch die Sahara verbunden, elektrische Lokomotiven das alte Europa durch die endlose Wüste tragend! Timbuktu mit Senegal verbunden durch Dampferflotten auf dem Niger, durch Eisenbahnlinien, die das weite Reich nach allen Seiten durchfurchen! Das neue, ungeheure Frankreich verbunden mit dem Mutter- Frankreich, dem alten Vaterlande, endlich gegründet, bereit, die hundert Millionen Bewohner aufzunehmen, die hier eines Tages entstehen werden... Freilich wird sich das nicht von heute auf morgen vollziehen. Die transsaharische Eisenbahn ist noch nicht gebaut, dort dehnen sich zweitausendfünfhundert Kilometer Wüste, deren Ausbeutung die Kolonialgesellschaften nicht locken kann. Es müßte ein Gedeihen sichtbar werden, ein Anfang von Bodenkultur, Entdeckungen von Minen, der steigende Export müßten das Kapital der Hauptstadt ermutigen, sich dort hinaus zu wagen. Dann müßte die einheimische Bevölkerung in Betracht gezogen werden, allerdings meist aus gutartigen Negerstämmen bestehend, aber auch aus einigen wilden, diebischen, religiös fanatischen Stämmen, die die großen Schwierigkeiten der Eroberung vermehren, die uns das furchtbare Problem des Islam entgegenstellen, welches uns immer ein schweres Hindernis sein wird, solange wir es nicht gelöst haben. Und nur das Leben, lange Jahre des Lebens können ein neues Volk schaffen, es der neuen Erde anpassen, seine Elemente miteinander verschmelzen, ihm seine normale Existenz, seine einheitliche Kraft, seinen Geist geben... Gleichviel! Heute ist bereits ein neues Frankreich in der Ferne geboren, ein unbegrenztes Reich, und es bedarf unsers Blutes, wir müssen es ihm geben, damit es sich bevölkere, damit es dem Boden seine unschätzbaren Reichtümer abgewinne, damit es das reichste, das stärkste, das gebietendste Land der Welt werde.«

Von Begeisterung durchglüht, erbebend vor dem fernen, endlich sichtbar gewordenen Ideal, hatte Benjamin die Augen voll Tränen. Da war es das starke Leben, das edle Leben, das andre! Die Lebensaufgabe, das Lebenswerk, von dem er bisher nur unklar geträumt hatte! Er fragte abermals:

»Und gibt es dort viele französische Familien gleich der eurigen, die kolonisieren?«

Dominique lachte laut auf.

»Das nun gerade nicht! Es gibt wohl einige Ansiedler auf unsern alten Besitzungen in Senegal. Aber dort tief im Tale des Niger, jenseits Dschenne, glaube ich, daß wir die einzigen sind. Wir sind die Pioniere, die kühne Vorhut, die Wagehälse der Zuversicht und der Hoffnung. Und wir dürfen uns einiges Verdienstes dabei rühmen, denn den verständigen Leuten erscheint das, was wir getan, einfach ein Glücksspiel gegen die gesunde Vernunft. Stellt es euch nur einmal vor! Eine französische Familie mitten unter den Wilden angesiedelt, die keinen andern Schutz hat als die Nachbarschaft eines kleinen Forts, wo ein weißer Offizier ein Dutzend eingeborener Soldaten befehligt, die manchmal gezwungen ist, felbst zur Flinte zu greifen, die eine Farm anlegt inmitten eines Landes, das der Fanatismus irgendeines Stammeshäuptlings von einem Tage zum andern zur Erhebung bringen kann. Es ist ein Wahnsinn, um die Welt zu empören, und das ist's, was uns so wohlgemut, so gesund, so siegesbewußt macht. Wir öffnen die Bahn, wir geben das Beispiel. Wir tragen unser liebes altes Frankreich dort in die Ferne, wir haben uns inmitten eines jungfräulichen Landes ein weites Gebiet geschaffen, das einmal eine Provinz werden wird, wir haben ein Dorf gegründet, das in hundert Jahren eine große Stadt sein wird. Es gibt in den Kolonien keine fruchtbarere Rasse als die französische, sie, die auf ihrem alten Boden unfruchtbar geworden zu sein scheint. Und wir werden uns vermehren, wir werden die Welt erfüllen! Kommt doch, kommt doch, ihr alle, da ihr hier zu sehr aufeinandergepfercht seid, da es euern engbrüstigen Feldern, euern überhitzten, vergifteten Städten an Licht mangelt! Da drüben ist Platz für alle, da gibt es unverbrauchten Boden, da gibt es Luft, die noch niemand geatmet hat, da gibt es eine Aufgabe zu erfüllen, die aus euch allen Helden, kraftvolle Menschen machen wird, die sich ihres Daseins freuen. Kommt mit mir, ich nehme mit Freuden Männer, ich nehme Frauen mit, und ihr werdet neue Provinzen schaffen, und ihr werdet neue Städte gründen für die zukünftige Allmacht des großen, unermeßlichen Frankreich!«

Er war so frohgemut, so schön, so tapfer, so stark, daß die ganze Tafel abermals in Beifallsrufe ausbrach. Sie würden ihm zweifellos nicht folgen, da alle diese Eheleute ihre Nester gebaut hatten, da alle diese Jugend schon zu sehr in der alten Erde festhaftete, mit den Wurzeln der Rasse, deren feuriger Abenteurergeist heute am häuslichen Herde eingeschlafen ist. Aber alle die großen und kleinen Kinder horchten begierig auf diese wunderbare Geschichte, wie auf ein Märchen, welches in ihrer Erinnerung haften und eines Tages in ihnen den leidenschaftlichen Drang nach fernen Unternehmungen erwecken würde! Die Saat des geheimnisvollen Unbekannten war ausgestreut, sie wird dereinst in einer Ernte von fabelhaftem Reichtum aufgehen.

Nur Benjamin rief inmitten des allgemeinen lauten Enthusiasmus, der seine Stimme verschlang:

»Ja, ja, ich will leben! Nimm mich mit, nimm mich mit!«

Dominique schloß nun:

»Und, Großvater, das habe ich dir noch nicht gesagt, mein Vater hat unsrer Pflanzung dort den Namen Chantebled gegeben. Oft erzählt er uns, wie du deine Besitzung hier in einem Anlauf voraussehender Kühnheit gegründet hast, während alle Welt dich verspottete, die Achseln zuckte, dich für verrückt erklärte. Und dort drüben sieht man mit demselben geringschätzigen Mitleid auf meinen Vater, denn man prophezeit uns, daß der gute Niger eines Tages unser Dorf wegschwemmen wird, wenn nicht eine räuberische Negerbande uns vorher tötet und aufißt... Oh, ich bin darüber sehr ruhig, wir werden siegen, so wie du gesiegt hast, denn der tolle Wagemut der Tat ist die höchste Weisheit. Dort drüben wird ein neues Reich der Froment, ein neues, gewaltiges Chantebled erstehen, für welches ihr beide, Großmutter und du, die Ahnen, die fernen Patriarchen sein werdet, die man gleich Göttern verehrt. Und so trinke ich denn auf deine Gesundheit, Großvater, und auf deine Gesundheit, Großmutter, im Namen eures zweiten, künftigen Volkes, das unter der glühenden Tropensonne mächtig emporwächst!«

Mathieu, der sich erhoben hatte, sagte mit kräftiger Stimme, in tiefer Bewegung:

»Auf deine Gesundheit, mein Kind! Auf die Gesundheit meines Sohnes Nicolas, seiner Frau Lisbeth und aller derer, die ihrer Liebe entsprungen sind! Auf die Gesundheit aller, die noch geboren werden sollen, von Generation zu Generation!«

Und Marianne, die sich ebenfalls erhoben hatte, sagte:

»Auf die Gesundheit eurer Frauen und Mädchen, eurer Gattinnen und Mütter! Auf die Gesundheit aller, die lieben, die gebären, die immer mehr Leben zu immer mehr Glück hervorbringen werden!«

Nun wurde die Tafel aufgehoben, alle verließen ihre Plätze, um sich über den Rasen zu zerstreuen. Es gab noch einen letzten Triumph für Mathieu und Marianne, die von der dichten Menge ihrer Kinder umschlossen wurden. Ihre ganze siegreiche Fruchtbarkeit, das ganze kleine glückliche Volk, das ihnen entsprossen war, überfiel sie mit seinem Jubel, erstickte sie mit seinen Liebkosungen. Zwanzig Arme hielten ihnen gleichzeitig ihre Kinder, blonde und braune Köpfchen hin, daß sie sie küssen. Sie, in ihrem hohen Alter, in dem Zustande seliger Kindheit, in den sie zurückglitten, erkannten die Knaben und Mädchen nicht immer. Sie irrten sich, verwechselten die Namen, hielten die einen für die andern. Man lachte, man verbesserte, man rief ihr Gedächtnis zu Hilfe. Und sie lachten auch und gestanden mit einer Gebärde ihren köstlichen Irrtum. Was hatte es zu sagen, wenn sie sie verwechselten, da doch alle ihr Fleisch und Blut waren? Es waren Frauen da, die guter Hoffnung waren, Enkelinnen, Urenkelinnen, und sie riefen sie zu sich, um sie zu küssen, um den Kindern Glück zu bringen, die wieder geboren werden sollten, den Kindern ihrer Kinder, bis ins Unendliche, ein Geschlecht, das sich immer mehr verbreiten, ihr Dasein bis in ferne Zeiten fortsetzen würde. Dann waren saugende Mütter da, deren Kinder während der Mahlzeit geschlafen hatten; und da sie nun erwachten und vor Hunger schrien, sollten auch sie ihr Teil bekommen, und sie gaben ihnen zu trinken, fröhlich und stolz mit unverhüllter Brust unter den Bäumen sitzend und miteinander lachend. Sie stellten die königliche Schönheit der Frau dar, die Gattin und Mutter ist, den entscheidenden Sieg der fruchtbaren Mutterschaft über die lebenstötende Jungfräulichkeit. Möchten doch die Sitten sich ändern, und der Begriff der Moral, und der Begriff der Schönheit, und möchte doch eine Welt neu entstehen durch die Huldigung vor der triumphierenden Schönheit der Mutter, die ihr Kind trinken läßt, umgeben von der Majestät ihrer göttlichen Würde. Immer neue Samenmengen zeugen immer neue Ernten, die Sonne erhebt sich immer wieder über der Erde, die Milch rieselt endlos aus den nährenden Brüsten, sie, der ewige Lebenssaft der Menschheit. Und dieser Milchstrom rollt das Leben durch die Adern der Welt, und er schwillt, und er quillt über endlos durch die Jahrhunderte.

Die größtmögliche Menge Lebens um der größtmöglichen Menge Glückes willen. Das ist die Betätigung des Glaubens an das Leben, der Zuversicht auf sein gutes und gerechtes Werk. Die siegreiche Fruchtbarkeit bleibt die unbezwingliche Kraft, die gebietende Macht, die allein die Zukunft schafft. Sie ist die große Umstürzende, die unermüdliche Arbeiterin am Fortschritte, die Mutter jeder Zivilisation, die unaufhörlich das unzählbare Heer ihrer Kämpfer erneuert, die im Laufe der Jahrhunderte Milliarden von Armen, von Hungrigen, von sich Empörenden auf die Eroberung der Wahrheit und Gerechtigkeit aussendet. In der Geschichte der Menschheit ist nicht ein Fortschritt geschehen, ohne daß es die Zahl gewesen wäre, die die Menschheit auf ihrer Bahn vorwärtsgedrängt hätte. Das Morgen wie das Gestern wird nur erobert werden durch die Wucherung der Menge, die nach dem Glücke stiebt. Nur so wird sich all das Wohltätige erfüllen, das unsre Zeit erhofft, die ökonomische Gleichheit endlich erobert sein gleich der politischen Gleichheit, die richtige Verteilung der Güter eine Leichtigkeit geworden, die Arbeit in ihrer herrlichen Notwendigkeit erkannt und zum Gesetz gemacht. Es ist nicht wahr, daß sie den Menschen als Strafe für die Sünde auferlegt ist, sie ist im Gegenteil eine Ehre, ein Schmuck, das kostbarste der Güter, das Glück, die Gesundheit, die Kraft, die Seele der Welt, die selbst unaufhörlich in der Arbeit, in der Schaffung der Zukunft begriffen ist. Es ist Arbeit, Kinder in die Welt zu setzen, es ist Arbeit, naturgemäß zu leben, ohne unsinnige Verdrehtheit, und der gleichmäßige Rhythmus des Tagewerkes bewegt die Welt vorwärts auf der Bahn in die Ewigkeit ihrer Bestimmung. Und das Elend, das verabscheuungswürdige soziale Verbrechen wird verschwinden in dieser Verherrlichung der Arbeit, in dieser Verteilung der allgemeinen Aufgabe auf alle, in der jedem sein Gebührendes an Pflichten und Rechten zugemessen sein wird. Mögen die Kinder nur entstehen, sie werden immer nur Werkzeuge des Reichtums sein, Vermehrung des menschlichen Kapitals, Beförderer einer freien und glücklichen Zukunft, ohne daß die Kinder der einen die Beute, das Fleisch für die Schlachtbank oder die Prostitution, im Dienste des Egoismus der andern sein dürfen. Und das Leben wird wieder siegreich sein, wird verehrt und geliebt werden, triumphierend auferstehen wird die Religion des Lebens, die so lange unter dem entsetzlichen Alpdruck des Katholizismus gelegen hat, welchen die Völker schon zweimal, im fünfzehnten und achtzehnten Jahrhundert, heftig versucht haben abzuschütteln, und von welchem sie sich endlich befreien werden an dem Tage, da die fruchtbare Erde, die fruchtbare Frau wieder der Kultus, die Allmacht und die höchste Schönheit werden geworden sein.

In dieser letzten Stunde, in dem strahlenden Abend, herrschten Mathieu und Marianne durch ihr zahlreiches Geschlecht. Ein bewunderungswürdiges, heldenhaftes Vordringen hatte sie zu dieser Herrscherwürde emporgeführt. Sie endeten als Helden des Lebens, als erhabene Greise, weil sie viel Kinder gezeugt, viel Wesen und Dinge geschaffen hatten. Und das unter Kämpfen, unter Arbeit, unter Schmerzen. Oft hatten sie geweint. Dann war mit dem hohen Alter der Frieden gekommen, der große, lächelnde Frieden, entstanden aus dem Bewußtsein vollbrachter Pflicht, aus der Gewißheit baldigen tiefen Schlafes, während ihre Kinder, die Kinder ihrer Kinder, rings um sie ihrerseits kämpften, arbeiteten, litten, lebten. Und zu ihrer Heldengroße gehörte auch die Begierde, von der sie durchglüht worden waren, die göttliche Begierde, die die Welt aufbaut und bewegt, die in Flammenstürmen über sie hingefahren war, so oft sie ein neues Kind gezeugt hatten. Sie waren gleich dem heiligen Tempel, in welchem der Gott stets gegenwärtig gewesen, sie hatten sich mit der unauslöschlichen Flamme geliebt, von der das Weltall brennt, um der ewigen Zeugung willen. Ihre strahlende Schönheit unter ihren weißen Haaren kam von diesem Lichte, das noch immer ihre Augen erfüllte, von dieser Kraft zu lieben, die das Alter nicht hatte verlöschen können. Sicherlich hatten sie, wie sie einst scherzhaft sagten, alles Maß überschritten in ihrem Leichtsinn, nur immer Kinder hervorzubringen, der ihre Nachbarn geärgert, die allgemein gültige Sitte mißachtet hatte. Aber hatten sie zum Schlusse nicht recht behalten? Ihre Kinder hatten niemandes Teil geschmälert, jedes hatte seine Lebensmittel mitgebracht. Und dann ist es gut, zu viel zu ernten, wenn die Scheuern des Landes leer sind. Es bedürfte vieler solcher Leichtsinniger, um die egoistische Klugheit der andern wettzumachen, in den Zeiten großer Not. Hier war das gute bürgerliche Beispiel, inmitten schrecklicher Vernichtungen wurde die Rasse wieder gestärkt, das Vaterland wieder aufgerichtet durch die schöne Sucht nach Vermehrung, durch die fröhliche und gesunde Verschwendung, die mit beiden Händen ausstreut.

Und nun verlangte das Leben noch einen letzten Heroismus von Mathieu und Marianne. Einen Monat später, als Dominique sich vorbereitete, wieder nach dem Sudan zurückzukehren, sprach ihnen Benjamin eines Abends von seiner leidenschaftlichen Sehnsucht, von dem unwiderstehlichen Rufe, der aus der fernen, unbekannten Ebene zu ihm drang, und dem er folgen mußte.

»Geliebter Vater, teuerste Mutter, laßt mich mit Dominique fortgehen! Ich habe gekämpft, ich verabscheue mich selbst, daß ich euch in euerm Alter verlasse. Aber ich leide zu sehr, mein Herz ist so erfüllt von der Unendlichkeit, daß es droht zu zerspringen; und ich werde vor Scham über meine Nutzlosigkeit sterben, wenn ich nicht gehe.«

Sie hörten ihm mit gebrochenem Herzen zu. Seine Worte überraschten sie nicht, sie hatten sie kommen fühlen seit ihrem Jubeltage. Und sie erbebten, sie wußten, daß sie es ihm nicht verweigern konnten, denn sie fühlten sich schuldig, dieses letzte Kind bei sich zurückbehalten zu haben, nachdem sie alle andern hergeben hatten. Ach, dieses unersättliche Leben, das ihnen diesen späten Geiz nicht gestattete, das selbst diesen verborgenen teuern Schatz von ihnen forderte, von dem ihr liebender Egoismus sich erst an der Schwelle des Grabes zu trennen meinte!

Ein tiefes Schweigen folgte, und dann sagte Mathieu mit Anstrengung: »Mein Kind, ich kann dich nicht zurückhalten. Gehe denn, wohin das Leben dicht ruft. Wenn ich heute abend sterben sollte, würde ich dir sagen, du sollst bis morgen warten.«

Und Marianne sagte leise: »Warum sollten wir nicht lieber gleich sterben? Wir würden dann dieses letzte Leid nicht erleben, und du würdest nur unser Andenken mitnehmen.«

Wieder einmal sahen sie im Geiste den Friedhof von Janville, die Stätte der Ruhe, wo ihre Teuren bereits schlummerten, wo sie selber sich bald an ihre Seite betten würden. Der Gedanke hatte nichts Trauriges, sie hofften sich gleichzeitig dort zur Ruhe zu legen, an demselben Tage, denn sie konnten sich das Leben ohne einander nicht vorstellen. Und würden sie nicht fortfahren zu leben, weiterdauernd in ihren Kindern, für immer vereint, unsterblich in ihrem Geschlechte?

»Geliebter Vater, teuerste Mutter,« sagte Benjamin wieder, »ich selbst würde morgen tot sein, wenn ich nicht ginge. Auf euer Ende zu warten, hieße das nicht es wünschen, großer Gott? Ihr müßt noch lange leben, und ich will leben wie ihr.«

Wieder folgte ein Stillschweigen, dann sagten Mathieu und Marianne gleichzeitig: »Geh denn, mein Kind. Du hast recht, man muß leben.«

Aber am Tage des Abschieds, welch grausamer, durchbohrender Schmerz, als sie auch dieses letzte Stück ihrer selbst, das ihnen geblieben war, von ihrem blutenden Herzen reißen mußten, um es als schwerstes Opfer dem Leben darzubringen! Es war die Erneuerung des Fortgehens Nicalas', das Nimmermehr des auswandernden, ausfliegenden Kindes, das Ueberantworten des Samens an die Winde, um dort drüben, jenseits der Grenzen, entfernte und unbekannte Länder zu besäen.

»Nimmermehr!« rief Mathieu weinend.

Und Marianne wiederholte mit einem Aufschluchzen aus der Tiefe ihres Herzens:

»Nimmermehr, nimmermehr!«

Das war nun nicht mehr bloß die vermehrte Familie, das wieder aufgerichtete Vaterland, das für künftige Kämpfe wieder bevölkerte Frankreich, das war auch die Verbreiterung der Menschheit, die Bebauung der Wüsten, die Bevölkerung der ganzen Erde. Nach dem Vaterland die Erde. Nach der Familie die Nation, dann die Menschheit. Und welch weithintragender Flügelschlag der Phantasie, welcher Ausblick auf die Unermeßlichkeit der Welt! Der kraftvolle Atem der Ozeane, alle Düfte der jungfräulichen Kontinente wehen uns mächtig an, wie ein Hauch aus der Unendlichkeit. Kaum fünfzehnhundert Millionen heute auf den wenigen kultivierten Flächen der Erdkugel, ist das nicht jämmerlich, wenn der Leib der Erde, in seiner Gänze durch den Pflug geöffnet, die zehnfache Anzahl nähren könnte? Welch eine Beschränktheit des Blicks, die Ziffer der lebenden Menschheit auf dem gegenwärtigen Stande festhalten zu wollen, nur Veränderungen von Volk zu Volk zuzugeben, absterbende Hauptstädte wie Babylon, Memphis, Ninive, die von andern neuentstehenden, neuerblühenden beerbt werden, ohne daß die Seelenzahl sollte wachsen können! Das ist die Theorie des Todes, denn nichts bleibt auf demselben Punkte; was nicht wächst, das schwindet und verschwindet. Das Leben ist die steigende Flut, die jeden Tag die Schöpfung fortsetzt, das Werk des erhofften Glückes vollendet, wenn die Zeit sich erfüllt haben wird. Das Anschwellen und Abschwellen der Völker bezeichnet nur die Etappen der Vorwärtsbewegung; die großen, lichten Jahrhunderte, die von dunkeln verdrängt, abgelöst werden, sind nur deren einzelne Abschnitte. Immer wieder wird ein neuer Schritt gemacht, ein neues Stück Erde erobert, ein wenig mehr Leben in Tätigkeit gesetzt. Das Gesetz scheint ausgedrückt in der zweifachen Erscheinung der Fruchtbarkeit, die die Zivilisation befördert, und der Zivilisation, die die Fruchtbarkeit beschränkt. Und das Gleichgewicht wird sich daraus ergeben an dem Tage, da die Erde, vollständig bewohnt, bebaut, benutzt, ihre Bestimmung erfüllt haben wird. Und der schöne Traum, die beglückende Utopie öffnet uns den Himmel: die Familie begründet in der Nation, die Nation begründet in der Menschheit, ein einziges, brüderliches Volk macht aus der Welt eine einzige Stadt des Friedens, der Wahrheit und der Gerechtigkeit! Oh, möge die ewige Fruchtbarkeit nur immer steigen, möge die menschliche Saat über die Grenzen hinübergetragen werden, in der Ferne unbebaute Wüsten bevölkern, die Menschheit in den kommenden Jahrhunderten immer mehr erweitern, bis zum ewigen Reich des Lebens, das dann endlich Zeit und Raum besiegt hat!

Und nachdem Benjamin mit Dominique fortgezogen war, fanden Mathieu und Marianne wieder die große Freude ihrer Fruchtbarkeit, den süßen Frieden ihres vollendeten, wunderbaren, unerschöpflichen Werkes. Sie besaßen nichts mehr, nichts als das Glück, alles dem Leben gegeben zu haben. Das Nimmermehr der Trennung wurde zum Immermehr des bereicherten, ins Grenzenlose erweiterten Lebens. Heiter und lächelnd triumphierten die nun beinahe hundertjährigen Helden in der üppigen Blüte ihres Geschlechts. Ueber die Meere hinüber war die Milch geflossen, von dem alten Boden Frankreichs bis zu den ungeheuern Flächen des jungfräulichen Afrika, wo das junge und riesenhafte Frankreich der Zukunft erstand. Nach dem Chantebled. das einem verachteten Stück der heimatlichen Erde abgerungen worden, schuf ein neues Chantebled sich in der Ferne ein Reich, auf den weithingedehnten öden Flächen, die das Leben erst noch befruchten mußte. Es war der Auszug, die Ausbreitung der Menschheit über die Welt, ihre Erweiterung ins Unendliche.


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