Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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4

Als Mathieu um halb acht Uhr das Restaurant auf der Place de la Madeleine betrat, wo er mit Beauchêne zusammentreffen sollte, fand er diesen und den Kunden, Mr. Firon-Badinier, bereits bei Tische vor zwei Gläsern Madeira. Das Diner war ausgezeichnet: erlesene Gerichte, feinste Weine, und alles in reicher Fülle. Aber was den jungen Mann mehr noch als der Appetit der beiden andern, die sich als gewaltige Esser und Trinker erwiesen, in Erstaunen setzte, das war die wohlangebrachte Behaglichkeit seines Chefs, die zielbewußte und fröhliche Geschicklichkeit, die er zwischen wechselnden Schüsseln und über vollen Gläsern spielen ließ, so daß, als man beim Braten angelangt war, der Kunde nicht nur die neue Dreschmaschine bestellt, sondern auch den Preis für eine Mähmaschine bewilligt hatte. Dieser wollte mit dem Neunuhrzwanzigzug nach Evreux zurück; und als es neun Uhr geworden war, gelang es Beauchêne, der nun den lebhaften Wunsch empfand, sich seiner zu entledigen, ihn zu bestimmen, daß er sich für die kurze Strecke, die ihn vom Bahnhofe Saint-Lazare trennte, einen Wagen nehme.

Mit Mathieu allein auf dem Trottoir geblieben, nahm Beauchêne den Hut ab und badete seine heiße Stirn in der köstlichen Luft der Mainacht.

»Uf! Das wäre abgemacht!« sagte er lachend. »Und es ging nicht allzu leicht. Es war Château Lafitte nötig, um ihn herumzukriegen, den Kerl. – Und überdies hatte ich gehörige Angst, daß er mir vielleicht nicht vom Halse gehen und ich mein Rendezvous versäumen würde.«

Diese Worte, die ihm in seiner Halbtrunkenheit entschlüpften, schienen ihn zu einer plötzlichen Offenherzigkeit zu bestimmen. Er setzte den Hut wieder auf, zündete eine frische Zigarre an; und den jungen Mann unterm Arm nehmend und gemächlich mit ihm durch die lebhaft flutende Menge der im elektrischen Lichte strahlenden Boulevards schlendernd, fuhr er fort:

»Oh, wir haben Zeit, man erwartet mich nicht vor halb zehn Uhr, und es ist ganz in der Nähe. Wollen Sie eine Zigarre? Nein, Sie rauchen nicht?«

»Nein.«

»Also, lieber Freund, es wäre Unsinn, wenn ich Heimlichkeiten vor Ihnen hätte, da Sie mich doch heute vormittag gesehen haben. Und ich begehe eine Dummheit, das leugne ich nicht, denn ich weiß im Grunde ganz gut, daß es weder anständig noch klug ist, daß ein Chef sich mit einer seiner Arbeiterinnen einläßt. Das geht immer schlecht aus, so kann man ein Haus zugrunde richten, und bis heute bin ich auch, ich schwöre es Ihnen, gescheit genug gewesen, keine einzige zu berühren. Sie sehen, ich verschone mich nicht mit der Wahrheit. Aber was wollen Sie? Dieser Satan von einer Blondine hat mir Feuer in die Adern gegossen mit den Stückchen weißer Haut, die sie da und dort sehen läßt, und mit ihrem eignen Lächeln, als ob man sie immer kitzelte.«

Es war das erstemal, daß er Mathieu eine vertrauliche Mitteilung dieser Art machte; er war sonst immer nüchtern und zurückhaltend in seinen Reden, gleich den Trinkern, die vermeiden, vom Wein zu sprechen. Seitdem Mathieu durch seine Ehe mit Marianne sein angeheirateter Cousin geworden, wußte Beauchêne, daß jener so treu im Herzen, so geregelt in seinem Leben, ein so musterhafter Gatte war, daß er zweifellos wenig Geneigtheit bei ihm voraussetzte, derlei Geschichtchen mit verständnisvoller Heiterkeit aufzunehmen. Heute jedoch wagte er es daraufhin, machte ihn zum Vertrauten seiner galanten Erfolge, hielt ihn fest am Arm, drückte sich dicht an ihn und erzählte ihm ins Ohr hinein mit etwas belegter Stimme, als ob der ganze Boulevard ihn hätte hören können.

»Das hat sich, wie Sie sich wohl vorstellen können, so eingefädelt, ohne daß ich mir anfangs etwas dabei dachte. Sie kreiste um mich herum, warf mir verlangende Blicke zu. Ich sagte mir: ›Mein liebes Kind, du verlierst deine Zeit, es gibt deren genug auf der Straße, die ich mir auflese, wenn ich ihrer bedarf.‹ Und das hinderte nicht, daß ich mich heute auf sie gestürzt habe, wie Sie ja gesehen haben; so daß die Sache jetzt perfekt werden wird, da sie versprochen hat, heute abend in ein kleines Nest zu kommen, das ich hier in der Nähe gemietet habe. Es ist eine Dummheit, aber hol's der Teufel! Man ist nicht aus Holz! Wenn ich auf ein Weib Lust habe, so werde ich rasend. Die Blondinen sind sonst nicht sehr nach meinem Geschmack. Aber auf diese bin ich begierig. Wie? Was glauben Sie? Sie muß amüsant sein.«

Dann, als ob er einen wichtigen Punkt vergessen hätte:

»Ja, Sie müssen wissen, daß sie schon in den Apfel gebissen hat. Ich habe Erkundigungen eingezogen, sie hat sich mit sechzehn Jahren dem Kellner des Weinstubenbesitzers ergeben, von dem die Moineaud die drei kleinen Zimmer gemietet haben, in denen sie sich alle zusammendrängen. Jungfrauen sind nicht mein Geschmack, und überdies tut man so was nicht, es ist zu gefährlich.«

Mathieu, der mit geistigem und körperlichem Unbehagen zuhörte, fragte einfach:

»Nun, und Ihre Frau?«

Beauchêne blieb plötzlich stehen, einen Augenblick sehr betreten.

»Wie das, meine Frau? Was wollen Sie damit sagen, meine Frau? Meine Frau ist natürlich zu Hause, sie wird sich zu Bette legen und mich erwarten, nachdem sie sich überzeugt hat, daß unser kleiner Maurice gut schläft. Meine Frau ist eine anständige Frau, mein Lieber, was wollen Sie, daß ich Ihnen mehr sage?«

Und seinen Weg fortsetzend, immer zutraulicher und aufgeknöpfter werdend in seiner Stimmung eines Menschen, der gut gegessen und viel getrunken hat, welche Stimmung die Abendatmosphäre des Boulevardpflasters noch zu erhöhen schien, fuhr er fort:

»Hören Sie einmal, lieber Freund! Wir sind ja keine Kinder, wir sind Männer, zum Henker! Und das Leben ist das Leben, dabei bleibe ich nun einmal ... Meine Frau! Aber es gibt ja niemand auf der Welt, den ich höher achtete! Als ich sie heiratete, in den traurigen Geldkalamitäten, von denen Sie ja wissen, da, ich will Ihnen das, ganz unter uns, gestehen, liebte ich sie gar nicht, das heißt, physisch, verstehen Sie wohl. Wenn ich sage, daß sie wirklich viel zu mager für meinen Geschmack war, so verletze ich damit wohl in keiner Weise die Achtung gegen sie, um so weniger, als sie das selbst eingesehen und alles mögliche versucht hat, um etwas voller zu werden – was ihr übrigens absolut nicht gelungen ist. Nun, man heiratet doch nicht eine Frau, um aus ihr seine Mätresse zu machen, nicht wahr? Also sehen Sie. Ich hege für sie die tiefe Achtung, welche jeder Familienvater für die Mutter seines Kindes empfindet. Der häusliche Herd ist heilig, man beschmutzt nicht den häuslichen Herd, und wenn ich mich nicht als treuen Gatten ausgeben kann, so kann ich doch zu meiner Entschuldigung anführen, daß ich nicht zu denen gehöre, die ihre Frauen entwürdigen. Von dem Moment, wo ich die meinige nicht allabendlich in die Gefahr bringen kann, ein Kind zu bekommen, und erröten würde, von ihr gewisse Willfährigkeiten zu verlangen, finde ich, daß es sie noch achten heißt, indem man anderswohin geht, die Bestie zu sättigen, wenn man, wie ich, das Unglück hat, von dem unbefriedigten Appetit bis zum Kranksein gepeinigt zu werden.«

Er lachte, er glaubte diese heiklen Dinge sehr angemessen, sehr rücksichtsvoll gegenüber seiner Hausehre ausgedrückt zu haben.

»Und,« sagte Mathieu, »Cousine Constance kennt diese hübsche Theorie? Sie billigt sie, sie läßt Sie anderswohin gehen, wie Sie sagen?«

Das vermehrte die warmblütige Fröhlichkeit Beauchênes.

»Nein, nein! Verleiten Sie mich nicht dazu, Dummheiten zu sagen. Im Gegenteil, Constance zeigte sich in der ersten Zeit unsrer Ehe sehr eifersüchtig. Was habe ich ihr nicht für Geschichten erzählen müssen, um fortgehen und einige Abende für mich haben zu können! Und dabei war ich in jener Zeit rasend, sie brachte mich zur Verzweiflung, so wenig amüsant war sie, die liebe und brave Frau. Ein Brett im Bett, mein lieber Freund, und ich sage das ohne jeden Groll, ohne sie herabsetzen zu wollen, denn das beweist ja eben, daß es keine anständigere Frau auf der Welt gibt ... Später ist ihr dann die Vernunft gekommen, ich glaubte zu bemerken, daß sie sich ein wenig in das Unvermeidliche fügte, daß sie sich manchmal bewogen fühlte, die Augen zuzudrücken. So hat sie mich eines Abends beinahe mit einer ihrer Freundinnen überrascht, und sie hat den guten Geschmack gehabt, nicht ein Wort zu sagen. Das verletzt sie jedoch, die Freundinnen, während die Straße, die vorübergehenden Unbekannten, ihr natürlich viel weniger nahegehen. Zum Beispiel dieses Mädchen heute abend, was soll ihr die ausmachen? Ich liebe sie doch nicht, dieses Frauenzimmer, ich nehme sie und lasse sie wieder fallen, und das spielt sich so weit von meiner Frau ab, so tief unter ihr, daß sie davon gar nicht berührt werden kann ... Und dann, um alles zu sagen: Constance hat auch ihre Eigenheiten, o, sehr unangenehme Eigenheiten! Sicherlich bin ich gleich ihr fest entschlossen, es bei unserm kleinen Maurice bewenden zu lassen. Aber, Sie haben sie ja heute gehört, sie ist geradezu schrecklich. Sie können sich gar nicht vorstellen, welche übertriebene Vorsicht sie gebraucht, es ist um einen zu degoutieren!«

Er kaute an seiner Zigarre, er atmete geräuschvoller, in dem Maße als seine Mitteilungen intimer wurden über einen Gegenstand, dessen Schlüpfrigkeit sein Blut vollends entflammte. Aber er machte vor keinem Geheimnisse seines Alkovens halt, er ging bis zu eingehenden Details. Er war im Grunde weder ein Wüstling noch pervers: er war sehr zufrieden mit der einfachen Natur, er litt nur an sehr starkem Appetit, dessen häufiges Auftreten ihn stets hungrig hielt. Und die kleinen Genüsse, die unvollständigen Kompensationen gewährten ihm keine Sättigung. Constance, die ihrerseits sich ihrer ehelichen Pflichten bewußt war, bemühte sich, ihnen zu entsprechen, um ihren Mann zu halten. Sie widersetzte sich dem Genusse nicht, sie ergab sich darein unter Schmerzen, welche sie sich bemühte vor ihrem Manne zu verbergen. Immer hatte sie von ihm gelitten, von seiner Heftigkeit und seiner unersättlichen Gier; und wenn auch das Kind vermieden wurde, die Unterschlagungen hatten deshalb nicht minder peinliche Folgen.

»Kurz, mein Lieber, das alles ist ja recht hübsch; aber Sie wissen ebensogut als ich, daß ein Mann von zweiunddreißig Jahren, zur ehelichen Hausmannskost verurteilt, davon sehr bald genug hat, wenn ihm heißes Blut in den Adern rollt; ja, ich würde mich selbst mit der Hausmannskost begnügen, wenn sie nur kräftig und üppig wäre und man sich damit bis daher vollpfropfen könnte ... Stellen Sie sich vor, neulich ...«

Und er fuhr fort, seinem Cousin ins Ohr hinein zu erzählen, kurzatmig, blasend und puffend, mit freundschaftlichem Mitleid von seiner armen Frau sprechend, welche glaubte, daß das »so« gut sei. »Unter solchen Umständen kann ich nicht anders, nicht wahr, mein Lieber, das sehen Sie ein? Ich bin kein schlechter Mensch, und ich möchte ihr um keinen Preis weh tun. Und ich freue mich, daß sie so klug ist, daß sie anfängt, die Augen ein wenig zuzudrücken, die unvermeidliche Notwendigkeit einzusehen. Wenn sich das auswärts abspielt, unter Wahrung des Anstandes und ohne zu viel zu kosten, wo liegt da der Schaden für sie, frage ich Sie einmal? Einer meiner Freunde hat eine Frau von den prächtigsten Eigenschaften, oh, die ausgezeichnetste Frau, die ich kenne, und sie sagt ihm selbst: ›Geh, geh, mein Freund, du wirst ruhiger und liebenswürdiger zu mir zurückkehren.‹ Was? Ist das fein beobachtet? Es ist die unwidersprechliche Wahrheit! Ich, wenn ich befriedigt bin, komme ich in ausgezeichneter Laune nach Hause, ich bringe meiner Frau ein kleines Geschenk, das ganze Haus ist drei Tage lang glücklich. Alle Welt findet also bei dieser Lage der Dinge seinen Vorteil, und, nicht zu vergessen, das ist noch das beste Mittel, kein Kind zu bekommen, wenn die Frau keines mehr haben will.«

Diese letzte Bemerkung, die ihm sehr geistreich schien, machte ihn bis zu Tränen lachen, in der behaglichen Zufriedenheit, die er mit sich und seinen Grundsätzen empfand.

»Aber,« sagte Mathieu, »dieses Kind, laufen Sie nicht Gefahr, daß jene hübschen Mädchen es bekommen, welche Sie sich auswärts verschaffen? Es ist ja dann nicht lustiger als zu Hause, wenn Sie auch bei ihnen unterschlagen müssen.«

Beauchêne wurde plötzlich ruhig, nahm mit verdutzter Miene diesen Einwurf auf, den er nicht erwartet hatte.

»Unterschlagen, unterschlagen! Ein anständiger Mann gebraucht eben eine gewisse Vorsicht, das ist alles. Und dann, diese Mädchen, die sich amüsieren, bekommen keine Kinder, das ist eine bekannte Sache. Im übrigen bezahlt man sie, und es ist ihre Sache, den Gefahren ihres Geschäftes vorzubeugen... . Schließlich, mein lieber Freund, wieso wollen Sie, daß man wisse, ob sie ein Kind bekommen, da man sie doch nicht wiedersieht? Und gesetzt selbst, man fände sie eines Tages schwanger, so wüßten sie selbst nicht zu sagen, von welchem Herrn sie es sind. Das Kind ist eben von niemand, das gibt es einfach bei diesen Mädchen nicht!«

Wieder heiter geworden, in voller Selbstsicherheit, ohne Gewissensbisse und ohne jeden Skrupel in bezug auf das Vergnügen, dem er entgegenging, blieb er an der Ecke der Rue Caumartin stehen. In einem Hause dieser Straße, im Hofe, hatte er für diese Gattung von Abenteuern ein Zimmer gemietet, welches die Frau des Portiers aufräumte. Und da er mit seiner Arbeiterin nicht viel Umstände machte, hatte er der hübschen Blondine einfach auf der Straße vor dem Haustore Rendezvous gegeben.

Mathieu sah aus der Entfernung Norine neben einer Gaslaterne stehen. Sie war im einfachen hellen Kleide, und ihr schönes Haar, welches unter ihrem runden Hute hervorquoll, hatte einen rötlichgelben Schein unter dem flackernden Licht.

Beauchêne strahlte in freudiger Erregung und verabschiedete sich von dem jungen Manne mit einem kräftigen, beziehungsreichen Händedrucke.

»Also, auf morgen, mein Lieber. Gute Nacht!«

Und sich noch einmal zu seinem Ohr neigend:

»Sie ist durchtrieben, die Kleine. Sie hat ihrem Vater gesagt, daß sie mit einer Freundin ins Theater geht. So ist sie bis ein Uhr nach Mitternacht frei.«

Mathieu blieb allein auf dem Trottoir. Die letzten Worte seines Chefs, den er mit Norine in einem Haustor verschwinden sah, hatten ihm das Bild Moineauds, des Arbeiters, vor die Seele gerufen; und er sah ihn wieder, Hände und Gesicht von der Arbeit gegerbt und gerunzelt, stumm und unbewegt in der Frauenwerkstätte die Strafpredigt mitanhörend, die seiner Tochter Euphrasie zuteil wurde, während die andre, das große blonde Mädchen, verstohlen lächelte. Wenn die Kinder der Armut erwachsen sind, Fleisch für Kanonen oder für die Prostitution geworden, so kümmert sich der Vater, von der schweren Last seines Lebens stumpf gemacht, nicht sehr viel darum, welchem Unheil der Wind die aus dem Nest gefallenen Jungen zuträgt.

Es hatte eben halb zehn Uhr geschlagen, Mathieu hatte also noch mehr als eine Stunde bis zum Abgang seines Zuges vom Nordbahnhofe. Er beeilte sich daher auch nicht und schlenderte als Spaziergänger die Flucht der Boulevards entlang. Er selbst hatte ebenfalls viel zu viel gegessen und getrunken, die vertraulichen Mitteilungen, die er eben empfangen, summten noch in seinen Ohren und versenkten ihn vollends in eine Art trunkene Betäubung. Seine Hände brannten. Flammen schlugen über sein Gesicht. Und dieser lauwarme Abend, auf diesen von den elektrischen Flammen bestrahlten Boulevards, erfüllt von dem fiebernden Leben einer dichten, flutenden Menschenmenge, inmitten des unaufhörlichen Rasselns der Fiaker und Omnibusse! Es war wie ein Strom heißen Lebens, der sich durch die Nacht ergoß, und er ließ sich mitführen, mittragen, fühlte die glühende Begierde, die aus dem vereinigten Atem aller dieser Menschen wehte.

Dann lebte er, in seiner unklaren Träumerei, diesen Tag noch einmal durch. Er sah sich vorerst des Morgens bei den Beauchêne; Vater und Mutter waren als ehrbare Komplizen darüber einig, nur ein Kind haben zu wollen, während ihr kleiner Maurice bleich auf dem Sofa schlummerte, einem wächsernen Jesukindlein vergleichbar. Und jetzt sah er Constance ehrsam zu Bette gehen, nachdem sie noch vorher nach dem schlafenden Kinde gesehen hatte, um dann allein in dem kalten Ehebette zu wachen, bis zu der vorgerückten Stunde, da ihr Gatte nach Hause kommen würde. Er, der Mann, den ihr Uebereinkommen verkürzte, entschädigte sich zügellos anderwärts, setzte sich der Gefahr aus, einer andern das Kind zu erzeugen, das seine Frau nicht wollte. Wenn sie die Willfährigkeit bewiesen hatte, die sie ihm schuldig zu sein glaubte, blieb ihr nichts, als sich so zu Bett zu begeben und ihn zu erwarten, an den Abenden, da er, dem unzähmbaren Triebe gehorchend, fortging und seine Manneskraft dem Zufall nach in den Wind streute. Die Fabrik durfte nicht der Gefahr ausgesetzt werden, eines Tages geteilt zu werden, Maurice mußte allein die vervielfältigten Millionen erben, mußte einer der Fürsten der Industrie werden. Man unterschlug ehrbar, ohne jede Perversität, um des Geschäftes willen. Wenn der Mann sich auswärts vergnügte, schloß die Frau die Augen. Auf diese Weise setzte die kapitalistische Bourgeoisie, welche an Stelle des alten Adels getreten war, das von ihr aufgehobene Erstgeburtsrecht wieder ein, indem sie sich, gegen die Gebote der Moral und der Gesundheit, starr auf den einzigen Sohn beschränkte.

Mathieus Gedanken wurden hier durch einige Camelots unterbrochen, welche die letzte Ausgabe einer Abendzeitung mit den Ziehungslisten einer Losemission ausschrien, die von der Nationalkreditbank ausgegeben worden war. Und plötzlich sah er die Morange in ihrem kleinen Speisezimmer vor sich und hörte sie wieder laut träumen von dem großen Reichtum, der ihnen zuteil würde, wenn der Buchhalter erst in eines der großen Bankhäuser eingetreten wäre, welche ihre tüchtigen Leute zu den höchsten Posten aufsteigen lassen. Dieses Ehepaar, von Ehrgeiz verzehrt, vor dem Gedanken zitternd, daß ihre Tochter wiederum einen Angestellten mit beschränkten Mitteln heiraten könnte, war eine Beute des unwiderstehlichen Fiebers, welches in einem demokratischen Gemeinwesen, das durch das Mißverhältnis zwischen politischer Gleichheit und ökonomischer Ungleichheit zerrüttet wird, in allen die unbezähmbare Gier erweckt, eine Stufe höher zu steigen, um eine Klasse vorzurücken. Der Luxus andrer erweckte in ihnen fressenden Neid, sie stürzten sich in Schulden, um die Lebensgewohnheiten der höheren Klasse von ferne nachzuahmen, ihre natürliche Ehrenhaftigkeit und Güte wurde verdorben und verfälscht durch diesen Wahnwitz des eiteln Aufwärtsstrebens. Und er sah das Ehepaar, wie es um diese frühe Stunde zu Bette ging, denn er kannte die kleinbürgerlichen Gewohnheiten der Morange ebenso wie die Sparsamkeitskünste Valéries, welche die Woche hindurch auf die äußerste, sich bis auf den Verbrauch von Petroleum erstreckende Einschränkung hielt, um fürstliche Ausgänge an den Sonntagen ermöglichen zu können; er sah sie im Bett, nachdem sie die Kerze ausgelöscht, sich zärtlich umfangend, aber vorsichtig in ihrer Umarmung, ein Ehepaar, das sich anbetet, aber angstvoll vor den Folgen eines möglichen Selbstvergessens zurückschrickt: das Kind ist hier ebenso gefürchtet wie im Schlafzimmer des Chefs, welcher sich der Teilung widersetzt, das Kind, dessen Kommen eine unerträgliche Last bedeuten, welches den Aufstieg nach dem heißersehnten Reichtum aufhalten, wohl gar verhindern würde. In ihrem Zimmer am andern Ende der Wohnung schlief auch Reine nicht, noch bebend in Erinnerung an die Mittagsvorstellung, zu welcher sie die Frau Baronin de Lowicz geführt hatte, aufgeregt von den Küssen dieser schönen und eleganten Dame und bereits von dem reichen Gatten träumend, den ihre Eltern ihr versprachen, wenn sie ihr kein Brüderchen oder Schwesterchen gäben.

Eine Menschenansammlung versperrte Mathieu den Weg, und er bemerkte, daß er sich vor dem Theater befand, in welchem diesen Abend eine Premiere stattfand. Es war ein Zotentheater, das seine Plakate mit dem Bildnis seines »Sternes« zierte, ein überschlankes, rothaariges Weib, welches in doppelter Lebensgröße an allen Straßenecken klebte; und diesmal war sie von einer höchst bezeichnenden Symbolik, die nackte und flachbrüstige Jungfrau des sterilen Erotismus, eine lange perverse, freche Lilie, vor der die Vorübergehenden in großen Gruppen stehenblieben. Er hörte schlüpfrige Bemerkungen aller Art, er erinnerte sich, daß die Séguin in Begleitung Santerres sich in diesem Theater befanden, um dieses Stück anzuhören, welches von so blödsinniger Schamlosigkeit war, daß das Publikum der Generalprobe, welches wirklich nicht zu dem zartfühlenden gehörte, gestern nahezu die Sitzbänke demoliert hatte. Dort drüben in dem Palais in der Avenue d'Antin hatte Céleste Gaston und Lucie zu Bett gebracht und sich beeilt, wieder in die Küche hinabzugehen, wo ihre Freundin Madame Menoux, eine kleine Krämerin aus der Nachbarschaft, sie erwartete. Gaston schlief, er hatte ungewässerten Wein getrunken. Lucie, die wieder starke Leibschmerzen gehabt hatte, lag zähneklappernd im Bett und wagte es nicht, Céleste zu rufen, da diese sie puffte, wenn sie sich einfallen ließ, sie zu stören. Und gegen zwei Uhr morgens, wenn die Séguin heimkehren, nachdem sie Santerre mit einem Dutzend Austern bewirtet, werden sie die sexuelle Überreizung mit sich bringen aus dem heißen und gemeinen Theater, aus dem Nachtrestaurant, wo sie Tisch an Tisch mit Dirnen gesessen hatten, sie werden sich zu Bett begeben, all ihre Triebe entartet, von der Mode verderbt, das Gehirn verwüstet von den Spiegelfechtereien einer unsinnigen und verdrehten Literatur. Es wurde zum Verbrechen, ein Kind zu bekommen, die unfruchtbare Lust war das von aller Welt erstrebte Ziel. Während Santerre ruhig allein zu Bett geht, geduldig seine Stunde abwartend, und mittlerweile als kluger Lebemann, der sich schont, die andern zum Tanz führend.

Und als Schlußergebnis seines Tages sah Mathieu nun mit einemmal die Unterschlagung, die Unterschlagung überall, bei allen den Leuten, in deren Haus er seit dem Morgen den Fuß gesetzt. Alle, die ihn umgaben, alle, die er kannte, weigerten sich, Leben hervorzubringen, unterschlugen, um keine Kinder zu erzeugen, unterschlugen geflissentlich und beharrlich infolge wohlbedachter Berechnungen ihres Egoismus, ihres Ehrgeizes und ihrer Vergnügungssucht. Er übersah in diesem Momente gleichzeitig drei Fälle gewollter Eindämmung, drei verschiedene Milieus, und in diesen eine und dieselbe Enthaltung aus verschiedenen Ursachen. Und obgleich keiner dieser Fälle ihm neu war, so kam ihm doch diese Gruppierung überraschend, diese Wiederholung, diese Aufeinanderschichtung gleichartiger Formen; und eine große Verwirrung entstand in ihm, eine Erschütterung alles dessen, was er bis nun für recht gehalten, ein Zweifel an den Begriffen von Leben, Pflicht und Glück, wie er sie noch diesen Morgen verstanden hatte.

Er blieb stehen, holte tief Atem, wollte sich wiederfinden, die Trunkenheit besiegen, die er in sich wachsen fühlte. Er hatte die Oper passiert und befand sich am Carrefour Drouot. Waren es nicht diese von heißem nächtlichem Leben erfüllten Boulevards, welche das Fieber in seinen Adern steigerten? Die Zimmer der Restaurants waren hell erleuchtet, die Cafés warfen den Schein ihrer elektrischen Lampen auf die Straße, ihre Terrassen verengten das Trottoir mit den Tischen, an welchen die dichten Scharen der Gäste saßen. Ganz Paris schien hierhergeströmt zu sein, um die köstliche Mainacht zu genießen, und die Spaziergänger schoben sich in so dichten Massen vorwärts, daß ihre Körper unausgesetzt aneinander streiften, der warme Atem aller sie miteinander vermengte. Paare standen vor den blitzenden Läden der Juweliere; ganze Bürgerfamilien zogen unter dem blendenden Lichtkreis der Bogenlampen in die Cafékonzerts ein, deren große lockende Plakate blendende Schaustücke und Lüsternheiten aller Art verhießen. Hunderte von einzelnen Mädchen schoben sich durch, die Röcke herausfordernd gerafft, warteten darauf, daß man sie anspreche, ergriffen schließlich selbst die Initiative mit einladendem Lächeln und im Vorbeigehen zugeworfenen Flüsterworten. Suchende Männer gingen geringschätzig an ihnen vorüber, spähten nach einem Abenteuer, nach der verirrten anständigen Frau, nach der kleinen Bürgerlichen oder Arbeiterin, die sich gibt, verfolgten irgendeine Blondine oder Brünette, flüsterten ihr heiße Worte in den Nacken. Ehepaare, legitime und illegitime, junge und alte, Liebespaare für den Tag oder die Stunde, rollten in offenen Wagen vorbei, den Schlafzimmern zu, der Mann schweigend, das Weib halb zurückgelehnt, in Gedanken verloren. Und diesen ganzen menschlichen Strom, der da zwischen den hohen leuchtenden Häusern unter dem Gesumme der Stimmen und dem Rollen der Räder hinfloß, erwartete, wie ein großes Meer, in welchem er sich bald verlieren sollte, die weite dunkle Nacht, das Bett, welches alle aufnehmen wird, die letzte Umarmung, in welcher sie endlich einschlafen werden.

Mathieu war wieder weitergeschritten, ließ sich von der Menge führen und tragen, von dem Fieber durchglüht, welches die Erregungen des Tages, die Einblicke in das Leben und die Sitten seiner Nebenmenschen in ihm hervorgerufen hatten. Und es waren nun nicht mehr die Morange, die Beauchêne, die Séguin allein, welche unterschlugen: ganz Paris unterschlug mit ihnen. Die wohlüberlegte, zum Gesetz erhobene Abstinenz verbreitete sich, gewann die ganze Menge, erfaßte die Boulevards, die benachbarten Straßen, die Bezirke, die ganze ungeheure Stadt. Sowie die Nacht hereinbrach, wurde das vom wütenden Daseinskampf, vom Jagen wilder Erfolggier glühende Pariser Pflaster zum steinigen Felde, zum verkalkten Boden, auf welchem der Samen verdorrte, von Säern achtlos ausgestreut, die die Ernte haßten. Diese gewollte Unfruchtbarkeit, alle lehrten sie, schrien sie hinaus, trugen sie mit triumphierender Schamlosigkeit zur Schau. Ein Alkoholhauch entströmte den Restaurants und Cafés, entmannte die Männer, zerrüttete die Frauen, vergiftete das Kind im Keime. Der ganze Troß der Straße, alles was von der Begierde des Augenblicks in den Vergnügungslokalen und bei den Theaterausgängen aufgegriffen wird, all diese Weiblichkeit, die sich anbietet und sich bezahlen läßt, die in den Atlasbetten des eleganten Lasters oder in dem Schmutz armseliger Zimmer eilige Sättigung der Wollust gewährt, alle mordeten sie das Leben, spien es besudelt in das Schmutzwasser der Gosse. Und dies war die Hochschule der Unterschlagung, die Prostitution war die Lehrmeisterin des Meuchelmordes, der Zerstörung der Keime, dieses Vernichtungskrieges wie gegen schädliche Tiere, deren Zumvorscheinkommen das Leben unerträglich machen würde. Und dieses Paris jeder Nacht, welches sich eben zur unfruchtbaren Paarung bereitete, nahm die Lehre bereitwilligst an; da war das Paar der verfeinertsten Kultur, von neurasthenischer Literatur vergiftet, Bekenner aufs äußerste getriebener Theorien, die den Preis ihres Raffinements bezahlten, sich gegenseitige Hingabe versagten; da war das Paar aus den obersten Schichten des Handels, der Industrie, die Buch über ihre Nächte führten, so wie sie Buch über ihre Geschäfte führten, sorgfältig darüber wachend, daß die Bilanz sich stets mit Null ergebe; da war das Paar der freien Berufe ebenso wie das der Mittelklassen, der kleine Kaufmann ebenso wie der kleine Angestellte, der Advokat ebenso wie der Arzt – deren Vorsichtsmaßregeln sich verdoppelten in dem Maße, wie der Kampf der Eitelkeit und des Geldhungers an Wildheit zunahm; da war selbst das Paar der Arbeiterklasse, durch das Beispiel von oben verderbt, von Tag zu Tag wissender in den Praktiken der Überlieferung des Lebens an die Kloake, um bloß dem Genusse frönen zu können. Noch einige Minuten, und wenn es Mitternacht schlägt, wird ganz Paris unter der Herrschaft des Schreckens vor dem Kinde stehen. Die Männer wollen keine mehr zeugen, die Frauen wollen keine mehr empfangen. Selbst die Liebenden wachen, mitten im Delirium der Leidenschaft, ängstlich über ein mögliches Vergessen. Wenn man mit einer Bewegung alle Alkoven öffnen könnte, würde man sie fast alle unfruchtbar finden, aus Lüsternheit, aus Ehrgeiz, aus Berechnung, die der braven Eheleute ebenso wie die andern, in einer Perversität, welche niedrige Kalkulation für löbliches Gefühl hält, den Egoismus für Weisheit, die feige Furcht vor dem Leben für soziale Gewissenhaftigkeit. Ja, dieses Paris wollte sterben, dieses Paris, das jede Nacht das Leben verschüttete, den Fluß der Befruchtung von seinem Ziele ablenkte, auf das Pflaster rieseln ließ, in dem kein Keim sich entwickeln kann, dieses schlecht besäte Paris, welches die reiche und gesegnete Ernte nicht hervorbrachte, die es hervorbringen sollte.

Eine Erinnerung erwachte in Mathieu, das Wort jenes Siegers, der am Abend einer Schlacht auf dem mit Leichen bedeckten Schlachtfelde gesagt hatte, eine Pariser Nacht genüge, um das alles zu ersetzen. Paris wollte also nicht mehr die Lücken ausfüllen, welche die Kugeln in die Reihen der Menschen rissen? Während der bewaffnete Friede Hunderte von Millionen verschlingt, verliert Frankreich jedes Jahr große Schlachten, indem es die hunderttausend Kinder nicht erzeugt, die es erzeugen sollte. Und er dachte an die Betten der Kasernen, wo einsam, unproduktiv und durch die Umgebung verdorben, vierhunderttausend junge Männer schlafen, die kräftigsten, die Blüte der Rasse, während auf ihren kalten Lagern eine noch größere Anzahl von Mädchen ohne Mitgift den Mann erwarten, der nicht kommen wird, oder zu spät kommen wird, bereits erschöpft, entnervt, unfähig, eine zahlreiche Familie hervorzubringen.

Mit heißen Schläfen blickte Mathieu neuerdings um sich. Er befand sich am Carrefour Montmartre, an dem Punkte der Boulevardlinie, wo der Menschenstrudel am mächtigsten, am gefährlichsten ist. Die Menge war hier so dicht, daß er einen Augenblick warten mußte, ehe er in die Rue du Faubourg Montmartre einbiegen konnte, um durch diese und die Nebengassen den Nordbahnhof zu erreichen. Er wurde gedrängt, geschoben, fortgerissen von einer kompakten lebenden Masse, mitten durch den Frauenmarkt, der hier aufgeschlagen war, und das Fieber um ihn herum steigerte sich noch, wurde heftiger und sinnverwirrender, jagte der Nacht der Unfruchtbarkeit entgegen. Er hatte an dies oft gedacht, aber nie noch hatte er eine solche Beklemmung gefühlt bei dem Gedanken an die ungeheure Menge von Samen, die in den Wind gestreut werden muß, damit ein einziges Korn sich entwickle. Milliarden und Milliarden von Saatkörnern und Keimen rollen durch die Adern der Welt, ein Reichtum ohne Grenzen, ein solch mächtiger Strom von Fruchtbarkeit, daß er die ganze organische Materie durchdringt und umflutet. Die Natur hatte in ihrer Weisheit erkannt, daß der Samen der Pflanzen und Lebewesen in ungeheuerm Überfluß vorhanden sein muß, damit er ausreiche. Die Sonne trocknet das Saatkorn aus, die zu große Feuchtigkeit bringt es zur Fäulnis. Ein Sturm fegt Millionen Fischeier von den Flußufern, zerstört die Vogelnester, vernichtet die ganze Brut eines Frühlings. Bei jedem Schritte, den der Mensch macht, zertritt er Welten, verhindert die Entwicklung einer unzählbaren Menge kleinster Lebewesen. Es ist eine furchtbare Verheerung von Existenzen, welcher nur gleich ist die furchtbare Unendlichkeit der Lebenskeime, die das Land und das Wasser und die Luft erfüllen, unter der befruchtenden Wärme der Sonne. Und aus jeder zerstörten Existenz entsteht wieder Leben, gärt frische Kraft hervor, entwickelt sich eine Reihe neuer Wesen bis ins Unendliche. Nur der Mensch allein geht auf Zerstörung aus, verwendet seinen Scharfsinn darauf, bewerkstelligt sie aus egoistischen Gründen, für seinen isolierten Genuß. Er allein bemüht sich, die Schöpfung um seines Vorteils willen zu verkleinern, sie einzuschränken, sie selbst zu vernichten, verringert das Wachstum seiner Gattung, nur um seine Lust zu erhöhen. Wenn der Sturm die im Sande des Flußufers liegenden Eier wegführt, wenn der Orkan die Nester verwüstet, indem er die Zweige der Bäume abbricht, so ist es der Mensch allein, der mit Absicht die menschlichen Keime besudelt und zerstört, aus widernatürlicher Vernichtungssucht, um der dämonischen Wollust des Organs Genüge zu tun, dessen Funktionen er unterbindet. Das Verbrecherische dieses Tuns ist ebenso groß wie sein Unverstand. Und welch eine Vision von Größe und Kraft, wenn alle von der Natur zur Entstehung bestimmte Menschheit zur Welt käme, freudig empfangen, nutzbringend verwertet, die weite Erde bevölkernd, auf welcher heute noch ganze Kontinente fast unbewohnt sind! Wird es jemals zu viel Leben geben? Ist die größtmögliche Menge Lebens nicht zugleich die größte Menge Kraft, die größte Menge Reichtums, die größte Menge Glücks? Die ganze Erde ist schwanger von Leben, quillt über von Saft, zeugt Generationen auf Generationen, schlingt die Kette weiter, der Zukunft, jenem allumfassenden brüderlichen Volke entgegen, welches heranzuzüchten sie Jahrtausende gebraucht haben wird. Das ist der Glaube an alles, was entsteht und wächst, das ist die Hoffnung auf alle die schöpferischen Kräfte, welche sich frei entfalten zur glücklichen und machtvollen Ausbreitung der Menschheit, das ist die leidenschaftliche Liebe zum Leben, welche das pantheistische Begehren aller fruchtbaren Keime ist, und welche den Tod nur entgegennimmt als eine Erneuerung, als eine Gärung, welche das Leben ist und wieder das Leben.

Aber der warme, von Begierden geschwängerte Luftzug, der über Mathieus Gesicht strich, erweckte plötzlich das Bild Sérafinens in ihm. Es war dasselbe Brennen der Augen und Lippen, welches er bei den Morange empfunden hatte, als dieses Weib mit ihrem Dufte sich gegen ihn neigte. Sicherlich hatte er es ohne sein Wissen in sich mit fortgenommen, denn seine wachsende Verwirrung, sein Gefühl der Trunkenheit von den schweren Weinen, die Erregung infolge der vertraulichen Mitteilungen Beauchênes und die unruhigen Zweifel, mit welchen ihn diese der Wollust einer unfruchtbaren Nacht zuströmende Menge erfüllte, hatten die Wirkung, daß ihm ihr Bild vor die Seele kam, in der Straße vor ihm her schwebte, lachend, herausfordernd, sich wieder anbietend. Nie noch war er die Beute eines solchen schweren Kampfes gewesen, nie hatten die Zweifel, wo das Rechte und Weise liege, seine Seele so geschüttelt, die seit dem Morgen Angriff auf Angriff auszuhalten gehabt hatte. Und er fühlte sich schwindlig, seines Halts beraubt, inmitten der heißen Lockungen seiner Umgebung, dieses nächtlichen Paris, das dem Kultus des egoistischen Genusses opferte. Waren es nicht die Beauchêne, die Morange, die Séguin, die recht hatten, wenn sie bloß nach dem Genuß strebten, aus Haß und Furcht vor dem Kinde? Und alle, alle machten es gleich ihnen, die ganze ungeheure Stadt wollte unfruchtbar sein. Das erschütterte ihn, brachte ihn aus dem Gleichgewichte, flößte ihm die Furcht ein, daß er bis nun einfach nur ein Narr gewesen. Das nicht tun, was alle Welt tat, war offenbar nichts andres als hochmütiger Starrsinn. Und vor sich sah er Sérafine mit dem üppigen, rotschimmernden Haar, den duftenden Armen, die ihm unerhörte Wollust verhieß, ohne Gefahr und ohne Reue.

Und in seiner Tasche fühlte er die dreihundert Franken, die er heute als sein Gehalt bekommen. Dreihundert Franken für einen ganzen Monat, da er bereits kleine Schulden hatte: das reichte knapp für die dringendsten Bedürfnisse, gestattete ihm kaum, ein Band für Marianne, einige Süßigkeiten für die Kinder zu kaufen. Und, wenn er von den Morange absah, die beiden andern Häuser waren reich, erfreuten sich eines Wohlstandes, den er mit bitterer Beflissenheit sich in Erinnerung rief. Er sah die dröhnende Fabrik, die mit ihren schwarzen Gebäuden eine große Fläche bedeckte, ein ganzes Heer von Arbeitern, welches den Reichtum des Eigentümers mehren half, der in einem schönen Hause wohnte und dessen einziger Sohn unter den wachsamen Augen der Mutter zu der erträumten Machtstellung heranwuchs. Er sah das luxuriöse Palais der Avenue d'Antin, sein Vestibül, seine prächtige Treppe, den weiten, mit Kunstwerken aller Art gefüllten Raum im ersten Stock, alle diese Verfeinerung, diesen Aufwand des großen Reichtums, welche das üppige Leben dieser eleganten Weltleute verrieten, die große Mitgift, die sie ihrer Tochter geben, die hohe Stellung, die sie ihrem Sohne kaufen würden. Und er, nackt, mit leeren Händen, der nichts befaß, nicht einmal einen Stein am Feldraine, würde wahrscheinlich niemals etwas besitzen, weder eine vom Sausen der Arbeit erfüllte Fabrik noch einen Palast mit stolzer Fassade. Und er, er war der Unkluge, und die beiden andern waren die Klugen: er, unordentlich, ohne Voraussicht in seiner Armut, die er leichtsinnig vermehrte durch seine Schar Kinder, als ob er geschworen hätte, mit seiner ganzen Herde von Armseligen auf dem Stroh zu enden; die beiden andern, die sich den Luxus hätten gestatten können, eine zahlreiche Familie hervorzubringen, enthielten sich dessen infolge einer höheren Vorsicht, mißtrauten dem Leben, wollten keine zahlreiche Nachkommenschaft, wollten nur Glückliche hinterlassen. Offenbar waren jene, die alles das besaßen, was er nie besitzen würde, im Rechte, auf seiten der gesunden Vernunft, während er selbst anfing, sich verächtlich vorzukommen, dem Elend überliefert, das Opfer einer ungeheuren Narretei.

Das Bild Sérafinens kam wieder, verschärfte sich, drängte sich ihm auf mit der Kraft unwiderstehlicher Begierde. Mit ihr würde er nicht davor zurückschrecken zu unterschlagen würde er vernünftig sein. Und ein leichter Schauer überlief ihn, als er in den Lichtkreis des Nordbahnhofes trat, in das Gedränge des Bahnhofeinganges, in welchem er die Brunft der fiebernden Menge wiederfand. Dort drüben war Marianne, war wieder ein Kind, in der ehrbaren, unvermeidlichen Umarmung nach der Rückkehr aus diesem Glutofen. Wieder ein Kind, das fünfte, der reine Wahnsinn, der gewollte, herbeigeführte, verdiente Ruin. Und da er schon vier hatte, so würde selbst Boutan ihm sagen: »Die Rechnung stimmt.« Warum also im Irrtum beharren? Warum es nicht heute machen wie Beauchêne, der ein Schlauer war? Während seine Frau ihn geduldig erwartete, war er bei Norine, als wohlerfahrener Lebemann, ohne irgendwelche Folgen befürchten zu müssen. Die Religion des Vergnügens war zweifellos die einzig richtige. Und Sérafine wurde zur Verkörperung dieser fieberheißen Stadt, die, unter dem sieghaften Ruf nach dem Genuß um des Genusses willen, sich in ihre unfruchtbare Nacht stürzte, in die mörderische Freude der abnormen und vervielfältigten Lust, die das Kind tötet.

Da widerstand er nicht länger, kehrte halb sinnlos um, wandte sich wieder den Boulevards zu. Ein plötzliches Fieber, ein tolles Verlangen nach diesem Weibe riß ihn mit sich. Eine Glühhitze überfiel ihn bei dem Gedanken, ihre diabolischen Künste kennen zu lernen, in der Unfruchtbarkeit ihrer Umarmung den letzten Genuß auszukosten. Sie schwebte vor ihm wie eine herrliche und wilde Zauberin, welche Geheimnisse unerhörter Wollust kannte, den Männern den tollmachenden Trank ihrer rotgoldenen Haarflut, ihres üppigen weißen Körpers kredenzte, dessen Duft allein sie ihr zu Füßen warf. Und sie erwartete ihn an dem Abende, den zu wählen ihm belieben würde, sie hatte sich ihm mit ihrer ruhigen Kühnheit angeboten, er brauchte nur hinzugehen, Rue de Marignan, an die Tür des stillen Hauses zu klopfen, das die Heimlichkeit eines großen Alkovens hatte. Er erinnerte sich auf einmal des kleinen Salons, ohne sichtbares Fenster, dicht und geschlossen wie eine Gruft, den er einmal gesehen hatte, die Luft erwärmt von den zehn Kerzen in den zwei Kandelabern, welche mitten am Tage brannten. Das erhöhte seinen Taumel, das Feuer in seinem Innern, und er beeilte seine Schritte. Dann tauchten andre, entferntere Erinnerungen auf, an die Stunden, da er sie einst besessen, deren er noch gestern kaum mehr gedacht hatte und die nun in dem Delirium, das ihn ergriffen hatte, ihm Paroxysmen vergegenwärtigten, welche noch in dieser Stunde wieder zu kosten ihn ein brennendes Verlangen erfaßte. Und indem er willenlos, widerstandslos dahineilte, dachte er sich aus, was er morgen seiner Frau erzählen werde: daß er, durch das Geschäftsdiner mit Beauchêne zurückgehalten, den Zug versäumt habe.

Eine Wagenstockung zwang ihn, stehen zu bleiben; er erhob die Augen und sah, daß er wieder die Boulevards erreicht hatte. Um ihn herum floß noch immer der nächtliche Menschenstrom, rann nach allen Seiten ab, in dem steigenden Fieber der Begierde, die den Schlafzimmern zustrebt. Seine Schläfen hämmerten, in seinen Ohren summte es: tun wie die andern, vernünftig sein, unterschlagen wie die andern, lieber als noch weiter zeugen. Aber ein Zögern, eine Herabstimmung überkam ihn, während er hier festgebannt auf dem Trottoir stand, ungeduldig über den ununterbrochenen Zug der Wagen. Das wollte kein Ende nehmen, es war wie eine Wand, welche seine Begierde durchschnitt, so wie sie seinen Weg durchschnitt. Und plötzlich entstand ein andres Bild vor ihm, das Mariannens, lachend und vertrauend, deren Zärtlichkeit ihn dort drüben erwartete in dem weiten Frieden des reinen Landes. Warum sollten sie nicht beide gemeinsam vernünftig sein, sich als gute Kameraden gute Nacht sagen, dieses fünfte Kind vermeiden, welches der Ruin wäre? Er schwor sich zu, keines mehr zu haben, er schlug wieder den Weg zum Bahnhof ein, hastig ausschreitend, um den Zug nicht zu versäumen. Er wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen von diesem glühenden Paris, das ihn umfloß; er erreichte den Bahnhof gerade rechtzeitig, um sich in ein Coupé zu werfen, er lehnte sich während der Fahrt aus dem Fenster, sein Gesicht dem kühlen Nachtwinde preisgebend, wie um sich von den Gelüsten zu reinigen, deren Glut er noch in den Adern fühlte.


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