Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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3

Während des Nachmittags war Mathieu, der die Fabrik des Abends früher verlassen wollte, um zu seinem Hauseigentümer zu gehen, wie er es Marianne versprochen hatte, derart mit Arbeit überhäuft und in Eile, daß er Beauchêne kaum zu sehen bekam. Und er war froh darüber, denn er hatte das peinliche Gefühl, daß ein Zufall ihm ein Geheimnis enthüllt hatte, noch nicht überwunden, und fürchtete, ihn in Verlegenheit zu bringen. Allein Beauchêne schien sich gar nicht zu erinnern, daß Anlaß für irgendeine Verlegenheit vorhanden sein könnte, und wechselte unbefangen die wenigen Worte mit ihm, die sie sich zu sagen hatten. Er widmete sich mit aller seiner geistigen und körperlichen Energie der Förderung seines Geschäftes, hatte sich nie so voll Tatkraft und Umsicht gezeigt. Die Ermüdung des Morgens war verschwunden, er sprach und lachte laut, wie ein Mann, der die Arbeit nicht fürchtet und der das Leben schön findet.

Um halb sechs Uhr ging Mathieu, der sonst nie vor sechs Uhr sein Bureau verließ, zu Morange, um sein Monatsgehalt zu erheben. Es betrug dreihundertundfünfzig Franken. Aber da er im Januar einen Vorschuß von fünfhundert Franken genommen hatte, welchen er in Abzügen von fünfzig Franken zurückerstattete, erhielt er nur dreihundert. Er zählte die Noten und steckte sie mit einer freudigen Miene in die Tasche, welche den Buchhalter zu einer Frage veranlaßte.

»Weiß Gott, sie kommen zur rechten Zeit! Ich habe meine Frau heute früh mit dreißig Sous zurückgelassen.«

Sechs Uhr war vorüber; als sich Mathieu vor dem prächtigen Palais befand, das die Séguin du Hordel in der Avenue d'Antin besaßen. Der Großvater Séguins war einfacher Landmann in Janville gewesen. Sein Vater hatte sich dann als Armeelieferant ein beträchtliches Vermögen erworben. Und er, Sohn eines Emporkömmlings, hatte die Niedrigkeit seiner Abstammung abgestreift, führte das Leben eines reichen und eleganten Privatmanns, war Mitglied der großen Klubs, hatte eine besondere Leidenschaft für Pferde, affektierte außerdem künstlerische und literarische Neigungen, als aufgeklärter und fortschrittlicher Amateur, der bis an die äußersten Grenzen des Modernen ging. Er hatte sich den stolzen Luxus gestattet, fast ohne Mitgift ein Mädchen sehr alten Adels zu heiraten, Valentine, die letzte der Vaugelade, von dünnem Blut und engem Hirn, welche der eifrige Katholizismus ihrer Mutter in strengem Glauben und in Entbehrung der Freuden dieser Welt erzogen hatte, so daß auch er seit seiner Heirat ein strenger Katholik geworden war, weil dies zur Vornehmheit gehörte. Der Großvater, der Bauer, hatte zehn Kinder gehabt; der Vater, der Armeelieferant, hatte sich auf sechs beschränkt, und er hatte, nachdem ihm zwei geboren worden waren, ein Knabe und ein Mädchen, erklärt, daß er es dabei bewenden lassen wolle, indem er hinzufügte, es sei Missetat genug, zwei Unglückliche in die Welt gesetzt zu haben, welche nicht danach begehrt hatten, geboren zu werden.

Zum Besitze Séguins, gehörte eine große Domäne, nahezu fünfhundert Hektar Wald und Heide, welche sein Vater bei Janville gekauft hatte, als er sich mit einem enormen Vermögen von den Geschäften zurückzog. Sein lange gehegter Wunsch war gewesen, triumphierend in das heimatliche Dorf zurückzukehren, welches er arm verlassen hatte; und er ging daran, sich ein fürstliches Schloß inmitten eines gewaltigen Parkes erbauen zu lassen, als der Tod ihn wegraffte. Séguin, in dessen Erbschaftsanteil fast die ganze Domäne gefallen war, begnügte sich damit, ihre Jagd auszubeuten, indem er Anteilscheine zu fünfhundert Franken ausgab, um die seine Freunde sich rissen, und welche Spekulation ihm eine hübsche Rente abwarf. Außer den Wäldern gab es nur unbebautes Land, Sandflächen, steinigen Boden und Sumpfland, und es war die feststehende Meinung des ganzen Bezirkes, daß der Boden keinem Bebauer je einen Ertrag liefern würde. Lediglich für den Armeelieferanten hatte der Besitz die Anziehung des romantischen Parkes besessen, den er sich als Umgebung eines königlichen Wohnsitzes erträumte; abgesehen davon, daß er sich das Recht hatte geben lassen, seinem Namen Séguin das Prädikat du Hordel hinzuzufügen, welches einer Art Turmruine, dem Hordel, entlehnt war, die sich in der Domäne befand.

Durch Beauchêne, der einer der Jagdanteilbesitzer war, hatte Mathieu Séguin kennen gelernt und am Rande des Waldes den ehemaligen Jagdpavillon, das einsame und ruhige Häuschen entdeckt, in welches er sich dermaßen verliebt hatte, daß er es mietete und sich dahin mit den Seinigen zurückzog. Valentine, die Marianne liebenswürdig als arme Freundin behandelte, hatte die Liebenswürdigkeit so weit getrieben, sie zu besuchen, als sie eben eingezogen war; und sie war entzückt über die poetische Lage des Häuschens gewesen und hatte über ihre Unwissenheit als Besitzerin gelacht, welche nicht einmal ihren Besitz kannte. In Wirklichkeit hätte sie da nicht eine Stunde leben können. Ihr Gatte hatte sie mitten in den heißen Wirbel des Pariser literarischen, künstlerischen und eleganten Lebens gestürzt, durchlief in ihrer Gesellschaft die Literaturklubs, die Ateliers und Ausstellungen, die Theater und Vergnügungsorte, alle die glühenden Roste, auf welchen die Geister und die schwachen Herzen sich zersetzen. Er, den die Sucht verzehrte, ein Geist höherer Ordnung zu scheinen, und der dabei vor Langeweile fast verging, fühlte sich wirklich wohl und auf gleichem Fuße nur bei seinen Pferden, trotz seiner Prätensionen auf die Literatur und die Philosophie von morgen, trotz seiner Sammlungen von Kunstgegenständen, für welche dem Philister der Geschmack noch nicht aufgegangen war, seiner Möbel, seiner Fayencen, seiner Zinnplastiken und seiner Bucheinbände besonders, auf die er stolz war. Und er formte seine Frau nach seinem Ebenbilde, pervertierte sie durch die Ueberspitztheit seiner Ansichten, befleckte sie durch den Verkehr mit buntgewürfelter Gesellschaft, durch Kameraderien, welche ihm von eleganter Kühnheit schienen; so daß die fromme Kleine, die man ihm anvertraut hatte, bereits auf dem Wege zu allen Tollheiten war, wohl noch zur Kommunion ging, aber sich bereits laut zur Sünde bekannte, sich täglich mehr mit dem Gedanken des Fehltritts befreundete. Auch das Schlimmste schien schließlich kommen zu sollen, denn er beging außerdem die Unklugheit, sich ihr gegenüber häufig brutal und spöttisch zu zeigen, was sie verletzte, sie von ihm loslöste, in ihr die Sehnsucht und den Traum erweckte, einmal zärtlich geliebt und mit Sanftmut und ergebener Ritterlichkeit behandelt zu werden.

Als Mathieu das Palais betrat, dessen reichgezierte Renaissancefassade acht hohe Fenster in jedem der zwei Stockwerke enthielt, konnte er nicht umhin, mit leichter Heiterkeit zu denken: »Das ist ein Haushalt, der nicht mit dreißig Sous in der Tasche auf die dreihundert Franken monatlich wartet.«

Das Vestibül war ungemein prächtig, ganz Marmor und Bronze. Zur Rechten befanden sich zwei Empfangssäle und der Speisesaal; zur Linken Billardzimmer, Rauchzimmer und ein Wintergarten. Im ersten Stock, gegenüber der großen Treppe, nahm das Arbeitszimmer Séguins, ein mächtiger Raum von fünf Metern Höhe, zwölf Länge und acht Breite, die Mitte des Gebäudes ein; seine Gemächer befanden sich zur Rechten desselben, zur Linken die der Frau und der Kinder. Endlich waren im zweiten Stock zwei vollständige Wohnungen für die Zeit in Bereitschaft, da die Kinder erwachsen sein würden.

Ein Diener, der Mathieu kannte, führte ihn sogleich in das Arbeitszimmer, wo er ihn zu warten bat, da Monsieur im Begriffe sei, sich anzukleiden. Einen Augenblick konnte der Besucher sich allein glauben; und er blickte in dem weiten Räume um sich, angezogen von der wirklich prachtvollen Ausstattung, den hohen Fenstern, in welche alte Glasmalereien gefügt waren, den herrlichen Gobelins, den Möbelstoffen aus Genueser Samt und Gold- und Silberbrokaten, den eichenen Bibliothekschränken, in welchen die kostbaren Bucheinbände aufgereiht waren, den Tischen, welche bedeckt waren mit Bibelots aller Art, Schmuckgegenständen, Glasarbeiten, Bronzen, Marmorskulpturen und der prachtvollen Sammlung von modernen Zinnplastiken. Und überall breiteten sich orientalische Teppiche, gab es niedrige Sitze für jede Trägheit, abgeschlossene Winkel hinter hohen grünen Pflanzen, wohin man sich zu zweien zurückziehen, sich verstecken und verschwinden konnte.

»Ah, Sie sind es, Monsieur Froment,« sagte plötzlich eine Stimme von dem Tische mit den Zinnplastiken her.

Und ein hochgewachsener junger Mann von etwa dreißig Jahren, den eine spanische Wand bisher verborgen hatte, ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

»Ah,« sagte Mathieu, nach kurzem Zögern, »Monsieur Charles Santerre!«

Er sah ihn zum zweitenmal in diesem selben Gemache, wo er ihm zuerst begegnet war. Charles Santerre, ein bereits berühmter Romanschriftsteller, der beliebte junge Dichter der Salons, hatte eine schöne Stirn, braune, schmeichelnde Augen, einen etwas zu großen, zu roten Mund, den er unter seinem assyrisch geschnittenen, wohlgepflegten Bart verbarg. Er hatte seinen Weg mit Hilfe der Frauen gemacht, deren Umgang er mit zärtlicher Sorgfalt pflegte, in der Absicht, aus ihnen so viel Nutzen für seine Karriere und sein Vergnügen zu ziehen, wie er konnte. Man sagte übrigens, er sei sehr geschmeidig, sehr unterwürfig ihnen gegenüber, solange er sie nicht besessen hatte; dann entledigte er sich ihrer in brutaler Weise, sobald er ihrer nicht mehr bedurfte. Entschlossen, unvermählt zu bleiben, aus Prinzip und aus Berechnung, sich in fremden Nestern einrichtend, einfacher Ausbeuter des Lasters der eleganten Welt, hatte er sich in der Literatur den Ehebruch zu seiner Spezialität gemacht, beschrieb einzig die sündige, elegante und raffinierte Liebe, die Liebe, die stets unfruchtbar bleibt. Er hatte anfangs keinerlei Illusion in bezug auf seine Bücher gehabt, es war dies lediglich ein angenehmer und einträglicher Beruf, den er aus kühler Erwägung ergriffen hatte. Allmählich aber durch seinen Erfolg hypnotisiert, hatte er sich von seiner Eitelkeit einreden lassen, daß er ein Dichter sei. Und er gebärdete sich nunmehr wie einer, der in weißer Krawatte eine in Todeskrämpfen liegende Welt malt, bekannte sich zu einem aller Illusionen beraubten Pessimismus, zur Verneinung aller Lust durch gegenseitige Enthaltung, aus welcher er die Religion des letzten Glückes, des Glückes des Nichtseins machte. »Séguin wird gleich kommen,« sagte er mit vollendeter Liebenswürdigkeit. »Ich habe den Einfall gehabt, ihn und seine Frau mitzunehmen, um in einem Kabarett zu dinieren, und sie dann in eine kleine Premiere zu führen, wo es heute Skandal und Ohrfeigen geben wird.«

Mathieu bemerkte jetzt erst, daß Santerre sich bereits im Gesellschaftsanzuge befand. Sie unterhielten sich weiter; Santerre zeigte ihm eine neue Zinnplastik, eine kleine, nackte, magere, langlinige Frauengestalt, mit dem Gesichte nach abwärts liegend, den Kopf unter den Haaren vergraben und offenbar schluchzend – ein Meisterwerk, sagte er, der Inbegriff des ganzen menschlichen Elends, das gefallene einsame Weib, das endlich dem Manne zur Beute geworden. Es war Santerre, der, zum Freund und Intimus des Hauses geworden, diesem vollends jenen Wahnwitz der Kunst und Literatur einimpfte, dessen Einfluß schließlich das einfachste Leben des Alltags verdarb und verdrehte.

Aber nun erschien Séguin, gleichen Alters wie Sanier, größer und schlanker, sehr blond, mit gebogener Nase, grauen Augen, dünnen Lippen und zierlichem Schnurrbart. Er war ebenfalls im Gesellschaftsanzug.

»Ja, mein Lieber,« sagte er ohne Hast, mit dem kleinen Lispeln, das er affektierte, »Valentine hat sich in den Kopf gesetzt, ein neues Kleid anzuziehen. Fassen wir uns in Geduld, wir werden eine Stunde zu warten haben.«

Sobald er Mathieu bemerkte, entschuldigte er sich mit außerordentlicher Höflichkeit, kehrte mit Uebertreibung seine kalte Korrektheit, sein vornehmes Fernhalten hervor. Und als jener, den er »seinen lieben Mieter« nannte, ihm den Anlaß seines Besuches auseinandersetzte, das Loslösen der Zinkdachung infolge der letzten Regen, gab er sofort die Zusage, daß der Klempner von Janville die nötigen Lötarbeiten vornehmen solle. Aber nach neuerlichen Erklärungen, nachdem er begriffen hatte, daß das ganze Dach erneuert werden müsse, so sehr sei es abgenutzt, vergaß er plötzlich seine vornehmen und leutseligen Manieren, protestierte mit einiger Erregung, erklärte, daß er unmöglich auf eine solche Reparatur eine Summe verwenden könne, welche das lumpige bißchen Mietzins eines Jahres von sechshundert Franken übersteigen würde.

»Verlöten, meinetwegen,« rief er, »aber nicht mehr. Ich werde dem Klempner schreiben.« Und um das Thema abzubrechen, fügte er hinzu:

»Warten Sie, Monsieur Froment, ich werde Ihnen, der Sie ein Mann von Geschmack sind, ein Prachtstück zeigen.«

Er empfand tatsächlich vor Mathieu eine gewisse Hochachtung, kannte ihn als einen Menschen von selbstsicherer, stets im Gestalten begriffener Intelligenz. Dieser seinerseits lächelte, ließ sich diese Abschweifung gefallen, bei sich jedoch fest entschlossen, den Platz nicht zu verlassen, ohne die Erneuerung des Daches durchgesetzt zu haben. Er nahm ein prächtig gebundenes Buch, welches der Hausherr einem Bibliothekschrank entnommen hatte und ihm nun weihevoll darreichte. Auf dem Deckel in weißem Leder war eine große Lilie aus Silber eingelegt, umgeben von einem Strauß violetter Distelblüten. Und der Titel des Buches, »Die unzerstörbare Schönheit«, war hoch hinaufgerückt, wie in ein Stück Himmel.

»Ah, das ist von herrlicher Erfindung und Ausführung!« rief Mathieu, wirklich entzückt. »Man macht jetzt Einbände, die wahre Juwele sind.«

Er bemerkte den Titel.

»Aber das ist ja der letzte Roman Monsieur Santerres!«

Séguin blickte mit einem Lächeln seitwärts auf den Schriftsteller, der sich genähert hatte. Und als dieser seinerseits geschmeichelt das Buch betrachtete, sagte er:

»Lieber Freund, der Buchbinder hat mir den Band heute morgen gebracht, und ich wartete eine Gelegenheit ab, um Ihnen die Ueberraschung zu bereiten, es Ihnen zu zeigen. Es ist die Perle meiner Sammlung. Was sagen Sie zu der Idee? Diese Lilie, welche die triumphierende Reinheit ist, und diese Disteln, die Pflanzen der Ruinen, welche die Unfruchtbarkeit der endlich erstorbenen Welt darstellen, die das vollkommene Glück wieder gefunden hat. Ihr ganzes dichterisches Schaffen liegt darin.«

»Jawohl, jawohl. Sie verwöhnen mich. Sie werden mich eingebildet machen.«

Mathieu hatte den Roman gelesen; er hatte ihn von Madame Beauchêne entlehnt, um seine Frau mit einem Buch bekannt zu machen, von dem alle Welt sprach; aber er hatte das Buch erbittert und empört aus der Hand gelegt. Dieses Mal hatte Santerre, die gewohnte Junggesellenwohnung verlassend, wo seine Weltdamen zwischen fünf und sieben Uhr außerhalb des Ehebettes heimliche Genüsse suchten, sich zur reinen Kunst erheben wollen, zur körperlosen, symbolistischen Lyrik. Er erzählte die subtile Geschichte einer Gräfin, Anne-Marie, die, um einem plumpen und sinnlichen Gatten zu entgehen, sich nach der Bretagne an die Seite eines jungen Künstlers von göttlicher Phantasie, Norbert, flüchtet, welcher sich die Aufgabe gestellt hat, die Kapelle eines Nonnenklosters mit seinen Visionen zu schmücken. Dreißig Jahre dauert sein Schaffen als transzendentaler Künstler, der seine Inspirationen im Zwiegespräch mit Engeln empfängt, und der Roman war nichts andres als die Geschichte dieser dreißig Jahre, seiner Liebe während dreißig Jahren in den Armen Anne-Maries, in einem Austausch unfruchtbarer Zärtlichkeiten, während welcher ihre Schönheit auch nicht von einer Runzel beeinträchtigt wird, sondern ebenso frisch, ebenso jung ist nach diesen dreißig Jahren der Unfruchtbarkeit, wie an dem ersten Tage ihrer Liebe. Und um die Lehrmeinung des Buches zu unterstreichen, waren einige Nebenpersonen aufgestellt, Bürgersfrauen, Gattinnen und Mütter aus dem benachbarten kleinen Städtchen, welche in physischer und geistiger Verkommenheit, in tierischer Abgelebtheit endigten.

Was Mathieu empörte, das war diese blödsinnige und verbrecherische Theorie der Liebe ohne Kind, des Zusprechens aller körperlichen Schönheit, aller seelischen Vorzüge an die Jungfrau. Und er konnte sich nicht enthalten, dem Autor zu sagen:

»Ein sehr interessantes und bemerkenswertes Buch. Aber was geschähe, wenn Norbert und Anne-Marie ein Kind bekämen, wenn sie schwanger würde?«

Santerre unterbrach ihn, erstaunt, verletzt.

»Schwanger? Wird eine Frau schwanger, wenn sie von einem Manne von Welt geliebt wird?«

»Wissen Sie, was mich empört?« sagte Séguin, sich in einen Fauteuil werfend, »das ist die widersinnige Anklage, die man gegen den Katholizismus erhebt, daß er diese Wucherung der Gattung begünstige, welche eine Unsauberkeit und eine Schande ist. Das ist nicht wahr, und das haben Sie in Ihrem Buche sehr richtig aufgezeigt. Sie haben da, als guter Katholik, einige entscheidende Seiten geschrieben, zu denen ich Sie beglückwünsche.«

»Gewiß habe ich als guter Katholik geschrieben,« sagte Santerre, sich auf eine Chaiselongue hinstreckend. »Zeigen 4? Sie mir doch im Neuen Testament das ›Wachset und vermehret Euch‹ der Genesis. Jesus hat kein Vaterland, kein Eigentum, keinen Beruf, keine Familie, keine Frau, kein Kind. Er ist die Unfruchtbarkeit selbst. Die ersten christlichen Sekten hatten daher auch einen Abscheu vor der Ehe. Für die Heiligen war das Weib etwas Unreines, bedeutete es Qual und Verderbnis. Die absolute Keuschheit war ihnen der erhabenste Zustand, ihr Ideal der betrachtende und unfruchtbare Mann, der einsame Egoist, der nur seinem individuellen Heile lebt. Und es ist eine Jungfrau, die das Ideal aller Frauen ist, das Ideal selbst der Mütterlichkeit. Erst später wurde die Ehe vom Katholizismus eingeführt, als morale Schutzinstitution, um den Begattungstrieb in geordnete Bahnen zu lenken, da weder die Männer noch die Frauen Engel sein können. Sie wird toleriert, da sie die unvermeidliche Notwendigkeit ist, der Zustand, der, unter gewissen Bedingungen, den Christen erlaubt ist, welche nicht Heroismus genug besitzen, vollständige Heilige zu sein. Aber auch heute, wie vor achtzehn Jahrhunderten, berührt der Mann des Glaubens und der Gnade das Weib nicht, verdammt sie und vermeidet sie. Es sind einzig die Lilien Mariens, die im Himmel duften.«

Machte er sich lustig? Es war in seiner Stimme etwas wie ein leichter Spott, den sein Hörer nicht zu vernehmen schien. Dieser stimmte vielmehr lebhaft ein, erwärmte sich.

»Jawohl, jawohl, so ist es! Die Schönheit ist immer sieghaft, und die unvergängliche Schönheit, das zeigt Ihr Buch, alles überstrahlend: sie ist die unberührte Jungfräulichkeit, in ihrer Blüte, welche kein Hauch befleckt hat, in welcher die abstoßenden Zeugungsfunktionen unterdrückt sind. Kann man ohne eine Regung des Ekels jene verwelkten, entsafteten, schiefgezogenen Weiber sehen, welche eine Schar Kinder mit sich schleppen, wie irgend ein Tierweibchen seine Jungen? Das naive Gefühl der großen Menge empfindet das auch, scherzt über sie, wenn sie vorübergehen, belegt sie mit Spott und Verachtung.«

Mathieu, der stehengeblieben war, gestattete sich nun, das Wort zu ergreifen.

»Aber der Begriff der Schönheit ist veränderlich. Sie sehen ihn in der Unfruchtbarkeit der Frau, in den langen und schmächtigen Formen, in den schmalen Hüften. Während der ganzen Zeit der Renaissance bestand jedoch die Schönheit in der gesunden und kräftigen Frau, mit breiten Hüften und üppigem Busen. Bei Rubens, bei Tizian, selbst bei Raffael ist die Frau robust, ist Maria wirklich Mutter. Es würde sich gerade darum handeln, diesen Begriff der Schönheit zu ändern, damit die beschränkte Familie, welche heute das Begehrte ist, Platz mache der zahlreichen Familie, welche die einzig schöne werden würde. Nach meiner Ansicht liegt hierin das einzige radikale Heilmittel gegen das wachsende Uebel der Entvölkerung, mit dem man sich heute so sehr beschäftigt.«

Die beiden betrachteten sich lächelnd mit dem Ausdrucke erhabenen Mitleids.

»Die Entvölkerung ein Uebel!« sagte Séguin. »Wie, mein werter Herr, Sie, der Sie so intelligent sind, stehen noch auf diesem Punkte? Denken Sie doch ein wenig nach!«

»Noch ein Opfer des beklagenswerten Optimismus!« bemerkte Santerre. »Sie müssen sich vor allem sagen, Monsieur, daß die Natur wahllos handelt, und daß, wer sie nicht eindämmt und verbessert, ihr Opfer wird.«

Sie sprachen einer um den andern, manchmal sogar beide zugleich. Sie ereiferten sich, berauschten sich an ihren düsteren Vorstellungen. Vorerst einmal existiere der Fortschritt nicht. Man brauche nur des Endes des vorigen Jahrhunderts zu gedenken, da Condorcet die Rückkehr des Goldenen Zeitalters ankündigte, den nahen Zustand allgemeiner Gleichheit, allgemeinen Friedens unter den Menschen und Völkern: eine edle Illusion machte alle Herzen schwellen, die Utopie öffnete allen schönsten Hoffnungen den Himmel – und hundert Jahre später, welcher Sturz, dieses Ende unsers Jahrhunderts, welches mit dem Bankrott der Wissenschaft, der Freiheit und der Gerechtigkeit schließt, welches an der Schwelle des drohenden Unbekannten des kommenden Jahrhunderts in eine Pfütze von Blut und Kot hinfällt! Und sei die Erfahrung nicht schon gemacht worden? Dieses so ersehnte Goldene Alter, die Heiden hatten es vor die Zeit verlegt, dann kamen die Christen, welche es nach der Zeit verlegen, während die Sozialisten von heute es in die Zeit verlegen. Dies seien nur drei Formen einer beklagenswerten Illusion; es gäbe nur ein denkbares vollkommenes Glück, das des Nichtseins. Zweifellos verbiete ihnen ihr guter Katholizismus, die Welt mit einem Schlage zu unterdrücken; aber sie hielten sich berechtigt, sie einzuschränken. Schopenhauer und selbst Hartmann schienen ihnen übrigens veraltet. Sie näherten sich Nietzsche, der Theorie einer verminderten Menschheit, dem aristokratischen Traume einer Elite, mit verfeinerter Nahrung, vergeistigteren Gedanken, schöneren Frauen, endigend in dem vollkommenen Menschen, dem Menschen höherer Ordnung, dessen Genüsse verzehnfacht sein würden. Es ging dabei freilich nicht ohne Widersprüche ab, die sie sich aber nicht viel anfechten ließen, da sie, wie sie sagten, nur das eine Ziel hatten, in Schönheit zu leben. Malthus war ihr Mann, ebenso wie der Beauchênes, einzig, weil seine Hypothese, indem sie die Armen für ihre Armut verantwortlich machte, die Reichen aller Gewissensbisse enthob. Aber indem er die Enthaltsamkeit als Gesetz aufstellte, hatte er nicht die Unterschlagung gewollt, und sie mißdeuteten ihn, indem sie von unerhörten Eindämmungen träumten, welche mit unfruchtbaren Liebesgenüssen, mit monströsen Ausschweifungen einhergehen sollten. Wenn sie sich, in der Ueberspitztheit ihrer düsteren Poesie, in dem Gedanken an das Ende der Welt gefielen, so sahen sie sie nur in dem Paroxysmus bisher ungeahnter, verhundertfachter, vernichtender Wollust enden.

»Es ist Ihnen wohl nicht unbekannt.« sagte Santerre kalt, »daß man in Deutschland den Vorschlag gemacht hat, jährlich eine durch das Gesetz nach Maßgabe der Geburtstabellen zu bestimmende Anzahl armer Kinder zu kastrieren. Das wäre ein Mittel, um die sinnlose Fruchtbarkeit der unteren Klassen zu beschränken.«

Es war nicht dieser literarische Pessimismus, der Mathieu tiefer berühren konnte, denn er scherzte oft selber gern darüber, obgleich er den unheilvollen Einfluß auf die Sitten einer Literatur erkannte, welche den Haß des Lebens und das Ideal der Negation predigte. In diesem Hause selbst spürte er den Atem der unsinnigen Mode, den Druck einer feigen und kranken Zeit, die sich damit vergnügte, mit dem Tode zu spielen. Welcher von den zweien da, die sich gegenseitig vergifteten, log mehr, teilte dem andern mehr Wahnwitz mit? Er, mit seiner Religion der Fruchtbarkeit, war überzeugt, daß ein Volk, welches nicht mehr den Glauben an das Leben hat, ein krankes Volk ist. Und dennoch hatte er seine Stunden des Zweifels an der Rätlichkeit der zahlreichen Familien vom ökonomischen und politischen Gesichtspunkte aus, er fragte sich, ob zehntausend Glückliche nicht mehr wert wären für das Gedeihen und den Ruhm eines Landes als hunderttausend Unglückliche.

»Sie können nicht leugnen, mein werter Herr,« rief Séguin, wieder zum Angriff übergehend, »daß die Stärksten, die Intelligentesten die Unfruchtbarsten sind. In dem Maße, als das Gehirn eines Menschen sich erweitert, verringert sich seine Fortpflanzungsfähigkeit. Die Vermehrung, die Sie begeistert, welche Sie zum Begriff der Schönheit machen möchten, findet sich heute nur mehr auf dem Kehrichthaufen des Elends und der Unwissenheit. Und mit Ihren Ideen müssen Sie ja wohl Republikaner sein, nicht wahr? Nun denn, es ist ebenfalls bewiesen, daß die Tyrannei die Menschen an Zahl vermehrt, während die Freiheit sie nur an Wert vermehrt.«

Das waren wohl die Ideen, welche Mathieu manchmal tiefe Unruhe bereiteten. Hatte er nicht doch vielleicht unrecht, an die endlose Ausdehnung der Menschheit zu glauben? Befand er sich nicht vielleicht auf falschem Wege, indem er die Idee der Schönheit und des Glückes mit dem größten Reichtum am Leben identifizierte? Dennoch erwiderte er:

»Dies sind Tatsachen, deren Wahrheit nur eine relative ist. Die Malthusische Theorie hat sich in der Praxis als falsch erwiesen. Wenn die Welt sich vollständig bevölkerte, und wenn selbst die Nahrungsmittel fehlen sollten, so wäre die Chemie da, um Nahrung aus unorganischen Stoffen zu bereiten. Diese Dinge liegen übrigens in so unendlich weiter Ferne, daß auch selbst Wahrscheinlichkeitsberechnungen sich auf gar keiner wissenschaftlichen Grundlage aufbauen können. Und in Frankreich übrigens, weit entfernt, dieser Gefahr entgegenzugehen, befinden wir uns im Rückschritte, sind wir auf dem Wege zum Nichts. Frankreich, welches einst ein Viertel von Europa ausmachte, bildet davon jetzt nur mehr ein Achtel. In ein oder zwei Jahrhunderten wird Paris eine tote Stadt sein, wie das alte Athen oder das alte Rom, und wir werden auf den Rang des heutigen Griechenland gesunken sein ... Paris will sterben.«

Santerre protestierte.

»O nein! Paris will einfach stationär bleiben, und zwar weil es die intelligenteste, die zivilisierteste Stadt der Welt ist. Begreifen Sie doch, daß die Zivilisation, indem sie neue Genüsse schafft, indem sie die Geister verfeinert, ihnen neue Gebiete der Tätigkeit aufschließt, das Individuum auf Kosten der Gattung bevorzugt. Je mehr die Völker sich zivilisieren, desto weniger Nachwuchs bringen sie hervor. Und eben, weil wir an der Spitze der Zivilisation marschieren, sind wir als erste bei der Weisheit angelangt, welche ein Land vor dem schädlichen und unnötigen Übermaß der Fruchtbarkeit bewahrt. Es ist ein Beispiel hoher Kultur, überlegener und zweckbewußter Intelligenz, welches wir der zivilisierten Welt geben und welchem die ganze Welt folgen wird, in dem Maße, als die einzelnen Völker unsern Zustand der Vollkommenheit erreicht haben werden. Die Anzeichen treten übrigens schon allerorts zutage.«

»Ganz gewiß!« stimmte Séguin bei. »Wenn es bei uns sekundäre Ursachen der Entvölkerung gibt, so besitzen sie nicht die Wichtigkeit, die man ihnen beilegen möchte, und man könnte sie leicht bekämpfen. Die Erscheinung ist eine allgemeine, alle Nationen sind ihr unterworfen, vermindern sich oder werden sich vermindern, sobald sie eine höhere Stufe erreicht haben. Japan ist davon berührt, selbst China wird zum Stillstand kommen, sobald Europa durch seine Tore eingedrungen sein wird.«

Ernst geworden hörte Mathieu zu, seitdem die zwei Weltmänner in Frack und Krawatte da vor ihm von vernünftigen Dingen sprachen. Es handelte sich nicht mehr um die flachbrüstige und blutlose Jungfrau ohne Geschlecht, aus der sie das Ideal der menschlichen Schönheit machten. Es war die lebende und bebende Menschheit, deren Geschichte sich aufrollte. Er reflektierte laut.

»Sie haben also keine Furcht mehr vor der gelben Pest, jener furchtbaren Vermehrung der asiatischen Barbaren, welche eines schicksalsschweren Tages sich über unser Europa ergießen, es überschwemmen und neu befruchten könnten? So hat die Weltgeschichte immer angefangen, mit plötzlichen Verschiebungen von Meeresmassen, mit Invasionen von barbarischen Völkern, welche den entnervten Kulturnationen neues Blut zuführten. Und jedes Mal ist die Zivilisation wieder aufgeblüht, mächtiger und freier als je. Warum sind Babylon, Ninive, Memphis zu Staub zerfallen, ihre Völker verdorrt wie Bäume, deren Wurzeln keine Nahrung mehr finden? Warum liegen Rom und Athen noch heute in Erstarrung, unvermögend, wieder zum Leben zu erstehen, ihre alte Herrlichkeit wiederherzustellen? Warum ist Paris, trotz all seines blendenden Glanzes, bereits vom Tode gezeichnet, als Hauptstadt eines Landes, dessen Mannheit der Schwäche anheim fällt? Sie mögen wohl eine philosophisch-historische Formel dafür finden, mögen sagen, dass es, nach dem Vorbild der antiken Hauptstädte der Welt, am Übermaß der Kultur, der Intelligenz und der Zivilisation stirbt: es ist darum nicht minder der Tod, das Abströmen der Flut, welche den Glanz und die Macht einem neuen Volke zuträgt. Ihre Stabilität ist eine trügerische, nichts kann auf demselben Punkte bleiben; was nicht wächst, das schwindet und verschwindet. Und wenn Paris sterben will, so wird es sterben, und das Vaterland wird mit ihm sterben.«

»Du lieber Gott!« erklärte Santerre, wieder die Pose des eleganten Pessimisten annehmend, »wenn es sterben will, so sterbe es denn, ich werde mich nicht widersetzen. Ich bin im Gegenteil fest entschlossen, ihm dabei zu helfen.«

»Keine Kinder, das ist unwiderleglich der Standpunkt der Gewissenhaftigkeit und der Weisheit,« sagte Séguin, der sich die zwei, die er zur Welt gesetzt, verzeihen zu lassen hatte.

Aber, als ob er sie nicht gehört hätte, fuhr Mathieu fort:

»Ich kenne das Spencersche Gesetz, ich halte es sogar für theoretisch richtig. Es ist unleugbar, dass die Zivilisation die Fruchtbarkeit vermindert, so dass man sich eine Reihe sozialer Evolutionen vorstellen kann, welche die Verminderung oder die Überwucherung der Bevölkerung regeln und ausgleichen, um endlich bei einem Gleichgewichtszustand anzulangen, welcher dann wohl den Zustand der höchsten Kultur und des Wohlseins bedeuten mag, wenn erst einmal die ganze Erde bewohnt und zivilisiert ist. Wer aber kann den Weg voraussehen, der dahin führt, durch welche Katastrophen, durch welch unsagbare Leiden hindurch! Nationen werden verschwinden, andre werden sie ersetzen, und wie viel tausend Jahre werden hingehen müssen, ehe wir den definitiven Zustand des ruhenden Schwerpunktes erreichen, den Zustand des endlich eroberten Friedens und der Wahrheit? ... Die Vernunft erbebt und zögert, das Herz zieht sich vor Angst zusammen.«

Ein tiefes Schweigen folgte, während dessen er sich erschüttert, wankend gemacht fühlte in seinem Glauben an die segensreichen Kräfte des Lebens, nicht mehr wusste, wer recht habe, er, der einfache Mann, oder diese zwei lässig hingestreckten Weltleute mit ihrem komplizierten und vergifteten Nihilismus.

Valentine trat ein, lachend, in der burschikosen Manier, die sie sich mit Mühe angeeignet hatte.

»Na, wisst ihr, ihr dürft mir's nicht übelnehmen! Diese Céleste wird nicht fertig.«

Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, mager und sehr lebhaft, klein, von dem Aussehen eines emanzipierten Backfisches. Blond, mit feinen Zügen, lachenden blauen Augen, einer kleinen, unbekümmerten Nase, war sie nicht gerade hübsch, aber amüsant und reizend. Von ihrem Gemahl an alle schlecht beleumundeten Orte geführt, vertraut geworden mit den Schriftstellern und Künstlern, die im Hause verkehrten, wurde sie die letzte der Vaugelade nur allzu verletzender Frechheit gegenüber, gegen welche sie dann die eisige und verachtende Aristokratin hervorkehrte.

»Ah, Sie sind's, Monsieur Froment,« sagte sie sehr liebenswürdig, ihm ungezwungen die Hand entgegenstreckend. »Madame Froment befindet sich wohl, die Kinderchen sind gesund und munter, ja?«

Aber Séguin, der ihr Kleid betrachtete, ein weißes Seidenkleid, mit Spitzen geputzt, hatte einen Anfall jener Brutalität, deren Rücksichtslosigkeit manchmal wie eine Explosion die Decke der überaus großen Höflichkeit sprengte, welche er affektierte.

»Und um diesen Fetzen anzuziehen, hast du uns warten lassen? Noch nie warst du so geschmacklos gekleidet.«

Und sie war mit der Überzeugung eingetreten, dass sie entzückend sei! Sie biss die Zähne aufeinander, um nicht zu weinen, während ihr Mädchengesicht sich verdüsterte und einen Ausdruck hochmütiger Empörung und Rachsucht annahm. Langsam wendete sie die Augen gegen den anwesenden Freund, welcher sie mit entzückter Miene betrachtete, sie mit dem schmeichelnden Blicke eines willenlos ergebenen Sklaven umfasste.

»Sie sind bezaubernd,« sagte er leise. »Diese Toilette ist ein Wunderwerk.«

Séguin lachte und neckte Santerre mit seinem Mangel an Originalität den Frauen gegenüber. Valentine, durch das Kompliment besänftigt, fand ihre Fröhlichkeit eines freien Vogels wieder und rief aus, dass ein Mann sie mit guten Worten überallhin führen könnte. Und es folgte ein Stück Konversation von einer Freiheit, einer Ungeniertheit, welche Mathieu verblüffte, der sich unbehaglich fühlte und das lebhafte Verlangen empfand, sich zu entfernen, aber sich zwang, so lange zu bleiben, bis er die verlangte Reparatur bewilligt erhalten hätte.

»Oh, in Worten erlaube ich alle Spielereien,« sagte der Gatte endlich. »Aber lass dir nicht einfallen, einem andern anzugehören, oder ich töte dich wie ein Kaninchen.«

Er war tatsächlich sehr eifersüchtig. Getröstet, machte sie ihren Frieden mit ihm und fügte in der Art einer guten kleinen Frau hinzu:

»Gedulde dich noch ein wenig, ich habe Céleste aufgetragen, die Kinder hereinzubringen, damit wir ihnen einen Kuss geben, ehe wir gehen.«

Mathieu wollte diesen Aufschub benutzen und versuchte auf sein Anliegen zurückzukommen. Aber schon hatte Valentine wieder zu plaudern begonnen, sprach davon, das zweideutigste Restaurant zu wählen, um dort zu dinieren, fragte, ob es rechte Abscheulichkeiten seien, die man gestern bei der Generalprobe des Stückes ausgepfiffen hatte, welches sie sehen wollten. Und sie erschien zwischen den zwei Männern wie eine gelehrige Schülerin, welche ihre Ansichten noch übertrieb, einen extremen Pessimismus zur Schau trug, über den sie selber lachten, in Literatur und Kunst der intransigentesten Richtung huldigte. Wagner war sehr überschätzt und bereits unmodern, sie verlangte die Musik ohne Knochengerüst, die freie Harmonie des Windes. In bezug auf die Moral war sie großartig: sie hatte das Leben aller Heldinnen Ibsens nachgelebt, sie war bei der Frau von reiner, unnahbarer Schönheit angelangt, sie fand Anne-Marie, die letzte Schöpfung Santerres, viel zu materiell und entwürdigt, weil der Dichter an einer häßlichen Stelle sage, dass die Küsse Norberts auf ihren Lippen ihre Spur zurückließen. Er stellte diesen Satz in Abrede, und sie ergriff den Band, um ihn zu suchen.

»Aber ich habe das Kind von ihr ferngehalten,« sagte der Dichter verzweifelt.

»O Gott,« sagte sie, »das halten wir uns alle fern, darin liegt kein Heroismus mehr, das ist schon gut bürgerlich geworden. Anne-Marie muss, wenn sie unsre Seele erheben soll, fleckenloser Marmor sein, und die Küsse Norberts dürfen an ihr nicht haften können.« Aber sie wurde nun unterbrochen, denn Céleste, die Zofe, ein großes, brünettes Mädchen mit starken Zügen und freundlichem Gesichtsausdruck, brachte die Kinder. Gaston war fünf Jahre alt, und Lucie drei, beide von der Blässe im Schatten erblühter Rosen, zart und schwächlich. Sie waren blond wie die Mutter, der Knabe ein wenig rötlich, das Mädchen mattblond. von der Farbe des Hafers, und sie hatten auch ihre blauen Augen, mit dem schmäleren und längeren Gesichte des Vaters. Alle beide, sorgfältig frisiert, weiß gekleidet, mit außerordentlicher Koketterie zurechtgemacht, ähnelten großen lebenden Puppen von kostbarer Gebrechlichkeit. Der Stolz der Eltern war geschmeichelt, und sie verlangten, dass die Kleinen ihre Rolle spielen sollten.

»Nun? Sagt man niemand guten Abend?«

Die Kinder, an Fremde gewöhnt, sahen den Anwesenden ohne Schüchternheit ins Gesicht. Wenn sie sich nicht sehr beeilten, so war es aus natürlicher Trägheit, und weil sie nicht gern gehorchten. Indessen taten sie doch, was von ihnen begehrt wurde, und ließen sich umarmen.

»Guten Abend, Onkel Santerre.«

Dann zögerten sie vor Mathieu, und der Vater mußte ihnen den Namen des Herrn vorsagen, obgleich sie ihn schon zwei- oder dreimal gesehen hatten.

»Guten Abend. Monsieur Froment.«

Valentine nahm sie, hob sie auf, erstickte sie mit Liebkosungen. Sie vergötterte sie und vergaß sie, sobald sie sie wieder zu Boden gesetzt hatte.

»Du gehst also wieder fort, Mama?« fragte der Knabe.

»Ja, mein Herzchen. Du weißt, daß die Papas und Mamas fortgehen müssen, weil sie zu tun haben.«

»Wir werden also allein essen. Mama?«

Sie antwortete nicht und wandte sich an die Zofe, welche ihre Befehle erwartete.

»Céleste, Sie verlassen sie nicht eine Minute, verstehen Sie, und dass sie besonders nicht in die Küche gehen. So oft ich nach Hause komme, finde ich sie in der Küche. Es ist unerhört! Geben Sie ihnen um halb acht Uhr zu essen und bringen Sie sie um neun Uhr zu Bett. Und sie sollen schlafen!«

Das große Mädchen mit dem massigen Kopfe hörte mit respektvoller Unterwürfigkeit zu, während ihr schwaches, kaum merkliches Lächeln verriet, dass die Normännin, welche vor fünf Jahren nach Paris gekommen war, schon wohlerfahren im Dienste war und recht gut wußte, was man mit den Kindern macht, wenn die Herrschaft nicht da ist.

»Madame,« sagte sie ruhig, »Mademoiselle Lucie ist krank. Sie hat wieder erbrochen.«

»Was? Wieder erbrochen?« rief der Vater wütend. »Ich höre nie etwas andres, sie erbrechen also immer? Und immer im Augenblicke, da wir fortgehen wollen. Meine Liebe, das ist sehr unangenehm, du solltest doch darauf sehen, daß unsre Kinder keine derartigen Papiermachémagen haben.«

Die Mutter machte eine zornige Gebärde, wie um zu sagen, dass sie nichts dagegen tun könne. Tatsächlich litten die Kleinen häufig am Magen. Sie hatten alle Kinderkrankheiten gehabt, und hatten fast unaufhörlich Fieber und Schnupfen. Und sie bewahrten die stumme, ein wenig unbehagliche Haltung der Kinder, welche den Dienstboten überlassen sind.

»Ist es wahr, du hast Weh-Weh gehabt, mein Engel?« fragte Valentine, sich zu dem Kinde hinabbeugend. »Du hast kein Weh-Weh mehr, nicht wahr? Nein, nein, es ist nichts, gar nichts. Gib mir einen Kuss, mein Herzchen, und sag Papa schön gute Nacht, damit er nicht betrübt ist, wenn er fortgeht.«

Sie erhob sich, schon wieder beruhigt und heiter. Und da sie Mathieus Blick auf sich gerichtet fand:

»Ach, diese kleinen Wesen, was man für Kummer mit ihnen hat! Aber Sie sehen, dass man sie doch anbetet, wenn man auch der Ansicht ist, dass sie zu ihrem Heile besser getan hätten, nicht zur Welt zu kommen ... Im Übrigen habe ich dem Vaterlande gegenüber meine Pflicht getan; es sollen nur alle Frauen einen Knaben und ein Mädchen haben, wie ich!«

Worauf Mathieu, da er sah, dass sie scherzte, sich gestattete, ebenfalls lachend zu sagen:

»Nein, Madame, Sie haben Ihre Pflicht noch nicht getan. Es sind vier nötig, damit das Vaterland gedeihe. Und Sie wissen, was Ihr Arzt, Doktor Boutan, sagt, solange die Frauen, denen er seinen Beistand leiht, nicht vier gehabt haben: ›Die Rechnung stimmt nicht.‹«

»Vier! Vier!« rief Séguin, wieder von Zorn erfasst. »Wenn ein drittes käme, würde ich mich für einen Verbrecher halten. Ah! Ich stehe Ihnen dafür gut, daß wir das Unsrige tun, um es dabei bewenden zu lassen.«

»Sie glauben doch wohl nicht,« sagte Valentine ihrerseits heiter, »daß ich alt genug bin, um mich der Gefahr auszusetzen, das bißchen Frische, das mir noch geblieben ist, zu verlieren? Ich möchte nicht gerade ein Gegenstand des Abscheus für meinen Mann werden.«

»Aber,« erwiderte Mathieu, »sprechen Sie doch auch hierüber mit Doktor Boutan. Ich verstehe nichts davon. Aber er behauptet, was die Frauen ruiniert und altern macht, das seien nicht die Schwangerschaften, sondern die Kunstmittel, die sie anwenden, um sie zu vermeiden.«

Saftige Scherze, eine ganze Flut leichtfertiger Anspielungen, wie man sie in diesem Hause liebte, folgten diesen Worten. Ein Hauch von Sadismus wehte lustig durch die Unterhaltung, die lachenden Blicke der jungen Frau gegen ihren Mann verrieten ein wenig von den geheimen Praktiken ihres Alkovens, womit er sie zur Dirne erniedrigte. An manchen Morgen war sie davon wie gebrochen, der Kopf schmerzte sie, und sie träumte von Anne-Marie, welche die Küsse Norberts nicht zugrunde richteten.

»Ach, die Unterschlagung!« rief Santerre, der Valentinen mit größter Dreistigkeit repliziert hatte, »die Leute sind sehr unterhaltend mit ihrem Feldzuge gegen die Unterschlagung! Ein Arzt in einer kleinen Stadt hat die Idee gehabt, in einem Buche alle erdenkbaren Unterschlagungen zu bekämpfen, wahre Ungeheuerlichkeiten. Und die Folge war, daß er sie einfach seinen Bauern gelehrt hat, die sich bis dahin in Unwissenheit darüber befunden hatten, wie man derlei anstellt, so daß sich die Anzahl der Geburten in dieser Gegend um die Hälfte vermindert hat.«

Céleste rührte sich nicht, die Kinder hörten zu, ohne zu verstehen. Und inmitten des allgemeinen Gelächters, das die Anekdote erregt hatte, brachen die Séguin und Santerre endlich auf. Erst unten im Vestibül erreichte Mathieu von seinem Hauseigentümer das Versprechen, daß er den Klempner von Janville beauftragen werde, das Dach ganz neu herzustellen, da es in die Zimmer hineinregne.

Der Landauer wartete am Tore. Und als das Ehepaar samt dem Freunde Santerre denselben bestiegen hatte, fiel es Mathieu, der zu Fuße fortging, ein, die Augen zu erheben. An einem Fenster sah er Céleste zwischen den beiden Kindern, zweifellos um sich zu vergewissern, daß Monsieur und Madame auch wirklich fortgefahren seien. Er erinnerte sich an die Ausfahrt Reines bei den Morange. Aber hier blieben Gaston und Lucie unbeweglich, freudlos ernst, und weder die Mutter noch der Vater dachte daran, den Kopf zu erheben.


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