Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

Diesen Morgen, den zweiten März, bei Tagesanbruch, fühlte Marianne die ersten Wehen. Sie wollte vorerst Mathieu nicht wecken, der neben ihr in seinem Eisenbette schlief. Gegen sieben Uhr jedoch, als sie ihn sich rühren hörte, hielt sie es für geraten, ihn zu verständigen. Er hatte sich aufgerichtet, um ihr die Hand zu küssen, die sie außerhalb der Decke herabhängen ließ.

»Ja, ja, mein Schatz, liebe mich, hätschle mich – ich glaube, heute wird es sein.«

Seit drei Tagen warteten sie schon, wunderten sich bereits über die Verzögerung. Im Augenblicke war er auf den Beinen und fragte bestürzt:

»Du hast Schmerzen?«

Sie lachte, um ihn zu beruhigen.

»Nein, noch nicht zu sehr. Es fängt ein wenig an. Oeffne das Fenster und bringe alles in Ordnung. Wir werden ja sehen.«

Als er die Jalousien öffnete, strömte heller Sonnenschein ins Zimmer. Der weite Morgenhimmel war von entzückender zarter Bläue, ohne ein Wölkchen. Ein warmer Vorfrühlingshauch kam herein, und im Garten draußen sah man die spitzenartig feinen Blätter eines bereits begrünten Fliederbusches.

»Sieh doch nur, Liebling, wie schön es ist! Wir haben Glück, er wird im Sonnenschein zur Welt kommen, der liebe Kleine!«

Ehe er sich ankleidete, setzte er sich noch einmal an ihre Seite, betrachtete sie genau und küßte ihr die Augen.

»Sieh mich einmal an, damit ich mich überzeuge. Es ist noch nicht heftig, du hast keine argen Schmerzen, nein, mein Schatz?«

Sie fuhr fort zu lächeln, obgleich sie gerade in diesem Augenblicke gegen einen heftig schneidenden Schmerz zu kämpfen hatte. Als sie wieder sprechen konnte, sagte sie:

»Nein, ich versichere dich! Es geht so gut, wie es gehen kann. Wir müssen vernünftig sein, da es ja doch einmal überstanden werden muß. Umarme mich fest, recht fest, um mir Mut einzuflößen, und bemitleide mich nicht länger, sonst bringst du mich zum Weinen.«

Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte, stiegen ihr in die Augen, während sie lächelte. Er faßte sie in eine lange, leidenschaftliche, zarte Umarmung, fühlte ihren armen bebenden Leib gegen den seinen, wie er von dem heiligen Schmerzschauer des Gebärens geschüttelt wurde.

»Ja, teure, angebetete Frau, du hast recht, wir wollen fröhlich sein, wir wollen hoffen! Ich möchte mein Blut mit dem deinigen vermischen, um mit dir zu leiden. So laß wenigstens meine Liebe dir eine Stütze und ein Trost sein!«

Ihre Küsse vermengten sich, ihre gegenseitige Zärtlichkeit übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus, sie wurden wieder heiter, lachten und scherzten. Sie selbst litt nicht mehr, als ob diese wohltätige Bewegung ihre Schmerzen gestillt hätte; es war eine jener Ruhepausen, die den großen Krisen vorangehen. Sie fing sogar an zu glauben, daß sie sich vielleicht geirrt habe; sie riet ihm daher, sich, wenn er alles in Ordnung gebracht habe, wie gewöhnlich in sein Bureau zu begeben. Aber er weigerte sich und sagte, er werde sich entschuldigen lassen. Während er sich sodann ankleidete, nachdem er sein Bett zusammengelegt hatte, besprachen sie die zu treffenden Anordnungen. Das Mädchen sollte sogleich die Wärterin holen, eine Frau aus dem Viertel, die seit zwei Wochen in Bereitschaft gehalten wurde. Vorerst sollte sie die Kinder ankleiden, deren fröhliches Lärmen seit einigen Augenblicken aus dem Nebenzimmer herüberdrang. Es war bestimmt worden, daß am Tage der Niederkunft die vier Kobolde zu den Beauchêne gebracht werden sollten; Constance hatte sich hierzu liebenswürdig erboten und gesagt, daß ihr kleiner Maurice sie an diesem Tage zu Tische lade. Aber ein sehr widriger Umstand war, daß Doktor Boutan sich gestern abend noch bei Madame Séguin befunden hatte, die sich seit vierundzwanzig Stunden in schrecklichen Schmerzen wand, ohne noch erlöst worden zu sein. So traf denn ein, was die beiden Frauen gefürchtet hatten: sie sollten am selben Tage entbunden werden. Und es gab eine schreckliche Verlegenheit, wenn bei den Séguin noch nicht alles vorüber war, wenn der Arzt die arme Valentine nicht verlassen konnte, über die sie noch gestern nacht gegen elf Uhr, als sie sich eben zu Bette begaben, sehr ungünstige Nachrichten bekommen hatten.

»Ich will hingehen,« sagte Mathicu. »Ich werde hören, wie es dort steht und werde Boutan mitbringen.«

Als es acht Uhr schlug, war alles in Ordnung. Die Wärterin war bereits eingetroffen und bereitete alles Nötige vor. Die Kinder waren angekleidet und warteten, daß man sie zu ihrem Freunde Maurice auf der andern Seite des Gartens führe. Rose hatte, nachdem sie ihre Mutter geküßt, zu weinen angefangen, ohne sagen zu können warum, und wollte dableiben; aber Blaise, Denis und Ambroise, die drei Knaben, sagten, sie sei dumm, sie müsse Mama allein auf den Markt gehen lassen, da sie heute dort den kleinen Bruder kaufen wolle, dessen baldige Ankunft man ihnen angekündigt hatte. Sie fingen dann im Salon wieder an zu spielen, zu schreien und mit den Füßen zu stampfen, als die Klingel ertönte.

»Das ist vielleicht der Doktor!« rief Mathieu, der bei Marianne geblieben war, und eilte hinunter.

Aber im Vorhaus fand er Morange mit Reine. Er konnte zuerst sein Gesicht nicht sehen und war über diesen frühen Besuch so überrascht, daß er sein Erstaunen nicht verbergen konnte.

»Wie, Sie sind es, lieber Freund?«

Die Stimme, mit der der Buchhalter antwortete, machte ihn betroffen, so war sie verändert, gebrochen, von Angst erstickt.

»Ja, ich bin es. Ich bin gekommen, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten.«

Er hörte die Kinder im Salon und schob seine Tochter mit einem Lächeln dahin.

»Geh, mein Herzchen, beunruhige dich nicht, spiele mit deinen kleinen Freunden. Ich hole dich wieder ab. Gib mir einen Kuß.«

Als er zurückkehrte, nachdem er die Tür hinter dem Kinde geschlossen hatte, sah Mathieu sein Gesicht, ein totenbleiches, von fürchterlichster Angst verzerrtes Gesicht.

»Du lieber Gott, was haben Sie, mein armer Freund?«

Er stammelte, erstickte ein Schluchzen und zitterte so heftig, daß er kaum sprechen konnte.

»Ich habe ... daß meine Frau stirbt. Nicht bei uns, anderswo. Ich werde Ihnen alles erzählen. Reine glaubt, daß sie verreist ist, und ich habe ihr gesagt, daß ich ebenfalls dahin fahren muß. Ich bitte Sie inständig, Reine so lange unter Ihre Obhut zu nehmen. Aber das ist noch nicht alles, ich habe einen Wagen unten. Sie müssen unbedingt sogleich mit mir kommen.«

Trotz seines Mitleides mit dem Unglücklichen schüttelte Mathieu den Kopf.

»Unmöglich, mein Freund, ganz unmöglich! Meine Frau ist am Entbinden.«

Fassungslos starrte Morange ihn einen Augenblick an, als ob ein neues Unheil auf ihn herabgestürzt wäre. Dann wurde er von heftigem Zittern befallen, eine Flut von Bitterkeit stieg ihn ihm auf und verzog seinen Mund.

»Jawohl, freilich, Ihre Frau ist ja guter Hoffnung, und sie soll nun entbunden werden, das ist der natürliche Lauf der Dinge. Ich begreife, daß Sie bei dem frohen Ereignis zugegen sein wollen. Aber das tut nichts, mein Freund, Sie werden mit mir kommen, ich weiß gewiß, Sie werden mit mir kommen, denn ich bin zu unglücklich, zu unglücklich. Ich versichere Ihnen, daß ich nicht allein dahin zurückkehren werde, wohin ich Sie führen will; ich kann nicht mehr, meine Kraft ist zu Ende, ich brauche jemand, jemand, der mit mir geht, oh, ich bitte Sie, ich beschwöre Sie!«

Es lag eine solche Seelenangst, eine solche Verzweiflung in diesen gestammelten, hervorgestoßenen Worten, daß Mathieu davon tief erschüttert wurde. Er sah diesen armen schwachen, gefühlvollen Menschen, der fortan allein sein sollte, aller Kraft und alles Willens beraubt, wie ein ins Wasser gefallenes, ertrinkendes Kind.

»Warten Sie,« sagte er, »ich werde sehen, ob ich mitgehen kann.«

Er eilte hinauf zu Marianne, um ihr zu sagen, daß es ein schreckliches Unglück bei den Morange gegeben haben müsse, und daß der Buchhalter unten sei und ihn anflehe, ihm Hilfe und Beistand zu leisten. Sie entschied sofort, daß er ihm dies nicht verweigern könne, um so mehr, als sie gegenwärtig keine Schmerzen fühle. Sie hatte sich vielleicht geirrt. Dann fiel ihr etwas ein: da Morange einen Wagen hatte, konnte Mathieu vorerst bei den Séguin vorbeifahren, den Doktor benachrichtigen und ihn hersenden, wenn er frei war. Dann werde er beruhigter seinem Freunde den Dienst erweisen können, um den er ihn bat.

»Du hast recht, du bist eine tapfere Frau,« sagte Mathieu, sie auf den Mund küssend. »Ich sende dir Boutan und kehre sobald als möglich zurück.«

Er ging hinunter in den Salon, küßte die Kinder und auch Reine, die ganz ahnungslos war und sich auf das Mittagessen bei den Beauchêne freute, an dem nun auch sie teilnehmen sollte. Er rief das Stubenmädchen und trug ihr auf, die Kinder sogleich, unter seinen Augen, hinüberzuführen. Er begleitete sie selbst durch den Garten und folgte ihnen mit den Blicken, bis sie die Schwelle des Beauchêneschen Wohnhauses überschritten hatten.

Im Vorhaus lief unterdessen Morange, ohne weiter an seine Tochter zu denken, rastlos auf und ab und verzehrte sich vor Angst und Ungeduld.

»Sind Sie bereit? Sind Sie bereit?« fragte er verstört. »Beeilen wir uns, um Gottes willen!«

Im Wagen fiel er gebrochen, vernichtet in den Sitz zurück, schloß die Augen und bedeckte sein Gesicht mit der Hand. Mathieu hatte ihn vor dem Einsteigen gefragt, ob sie über die Avenue d'Antin fahren könnten; und da Morange ihm geantwortet hatte, daß diese auf dem Wege läge, hatte er dem Kutscher die Adresse Séguins gegeben. Dort angelangt, stieg er aus, indem er sich entschuldigte. Er erfuhr von einem Stubenmädchen, daß Madame Séguin endlich entbunden worden sei, aber daß es scheine, als ob nicht alles vorüber sei; er beruhigte sich aber, als Boutan ihm sagen ließ, daß er vor Ablauf einer Stunde bei Madame Froment sein werde.

Als er wieder im Wagen saß, beugte sich der Kutscher herab, um nach der Adresse zu fragen.

»Der Mann fragt nach der Adresse.«

»Die Adresse, die Adresse – ja richtig! Rue de Rocher, unten, da wo die Straße steigt. Ich weiß die Nummer nicht. Es ist ein Kohlenhändler im Hause.«

Mathieu begriff. Er hatte gesehen, er wußte alles. Schon als Morange halb wahnsinnig hereingekommen war und ihm gesagt hatte, daß seine Frau sterbe, hatte ihn ein ahnungsvoller Schauer erfaßt. Es war bei der Rouche, wo Valérie starb.

Morange fühlte offenbar die Notwendigkeit, ein Geständnis zu machen, wenigstens Aufklärungen zu geben. Er brach sein Schweigen, verfiel wieder in fieberische Erregung. Aber er konnte es nicht über sich gewinnen, sogleich die Wahrheit zu gestehen, und versuchte zuerst zu lügen.

»Ja, Valérie ist zu einer Hebamme gegangen, um sich untersuchen zu lassen. Und während der Untersuchung ist eine so heftige Blutung eingetreten, daß man nicht imstande war, sie zu stillen.«

»Haben Sie denn keinen Arzt rufen lassen?«

Diese Frage brachte ihn aus der Fassung. Er suchte nach Worten und stammelte:

»Einen Arzt, freilich – ein Arzt hätte sie vielleicht gerettet. Aber man hat mir gesagt, daß alles vergeblich sei.«

Dann überwältigte ihn die Verzweiflung, und seiner selbst nicht mehr mächtig, schluchzte er hervor:

»Man hat mich gehalten, hat mich eingeschlossen, hat mich mit Gewalt verhindert, einen Arzt zu holen. Ich wollte alles zerbrechen, wollte zum Fenster hinausspringen – aber als ich sah, wie schrecklich viel Blut meine Frau verlor, da wußte ich, daß sie nicht mehr zu retten sei. Und wenn Sie wüßten, was man mir alles gesagt hat, daß ich verrückt sei, daß ich uns alle ins Zuchthaus bringen würde! Valérie selbst wurde böse auf mich. Die andern legten mir die Hand auf den Mund, erstickten meine Schreie, versicherten mir jetzt, daß es nichts zu bedeuten habe, daß es bald vorüber sein werde. Oh, die Elenden, die Elenden!«

Er sagte alles, er erzählte von dem abscheulichen Instrumente, welches freilich von einer geübten Hand geführt wurde, welches aber doch unerwarteterweise ein Lebensorgan getroffen und durchbohrt haben mußte. Es sei eine heftige Blutung entstanden, gegen welche die Hebamme anfangs vergebens gekämpft habe. Gegen zehn Uhr habe sie dann wieder etwas Hoffnung gefaßt. Aber um Mitternacht sei die Kranke in eine plötzliche Ohnmacht verfallen.

»Denken Sie sich, daß wir seit sieben Uhr abends da waren, da dieses Weib gesagt hatte, daß sie es vorziehe, die Operation bei Nacht vorzunehmen, daß sie keines Tageslichtes dazu bedürfe, daß eine Kerze genüge und daß ihr diese Stunde aus verschiedenen Gründen am besten passe ... Um zwei Uhr morgens befand ich mich noch in dem Unglücksgemach, in welchem, wie wir verabredet hatten, Valérie fünf oder sechs Tage verbringen sollte, bis sie genesen sei. Und noch war sie nicht zur Besinnung gekommen, lag noch immer ohnmächtig, weiß, starr, ohne ein andres Lebenszeichen als ein schwaches Atmen. Was hätte ich nun tun sollen? Zu Hause mußte Reine wahnsinnig vor Unruhe sein, denn ich hatte ihr gesagt, daß ich ihre Mutter auf den Bahnhof begleite und sogleich wieder zurückkehren werde. Sie haben mich schließlich vor die Tür gesetzt und mir gesagt, daß ich vielleicht eine angenehme Ueberraschung erfahren werde, wenn ich heute früh wiederkomme. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin, und heute habe ich nun an Sie gedacht, daß Sie mir helfen, denn ich fühle mich unfähig, allein dorthin zurückzukehren. Mein Gott, mein Gott, in welchem Zustande werden wir sie finden?«

Während er sich bisher vor Ungeduld verzehrt und immer wieder gesagt hatte, daß der Wagen nicht vorwärts komme, erfaßte ihn nun ein Schauer bei dem Gedanken, daß sie sich dem Hause näherten und daß er bald alles wissen würde. Er warf Blicke voll steigender Angst auf die Straßen, er fühlte bereits die kalte Feuchtigkeit des entsetzlichen Hauses auf der Brust, je näher sie ihm kamen.

»Ach, lieber Freund, verdammen Sie mich nicht. Wenn Sie wüßten, was ich leide!«

Mathieu, der kein Wort hervorbringen konnte, begnügte sich, seine Hand zu fassen, sie zu drücken und in der seinigen zu behalten. Dieser Beweis warmherzigen Mitgefühls und der Verzeihung rührte den armen Mann zu Tränen.

»Dank, Dank!« Der Wagen hielt und Mathieu sagte dem Kutscher, er möge warten. Morange war bereits ins Haus geeilt, und er mußte rasch folgen, um ihn einzuholen. Aus der warmen, hellen Sonne des schönen Morgens traten sie in den halbdunkeln, übelriechenden Torweg mit den rissigen, schimmeligen Mauern. Dann kam der Hof mit dem grünlichen Pflaster, gleich dem Boden einer Zisterne, die klebrige Treppe, die von Miasmen erfüllt war, die gelbliche Tür, welche die Schmutzflecken der Hände zeigte, die sie angefaßt hatten. An schönen Tagen erschien das Haus noch abscheulicher als sonst.

Morange klingelte heftig, und das Mädchen mit der schmutzigen Schürze öffnete. Aber als sie den Eintretenden erkannte und ihn in Begleitung eines Freundes sah, wollte sie beide in dem kleinen Vorzimmer zurückbehalten.

»Monsieur, Monsieur, warten Sie –«

Und da Morange sie beiseite schob:

»Ich habe Auftrag, Sie nicht weiter zu lassen. Bitte, warten Sie, bis ich Madame benachrichtigt habe.«

Er ließ sich in keine Unterhandlungen ein, sprach kein Wort, sondern stieß sie aus dem Wege und eilte weiter. Mathieu folgte ihm, während das Dienstmädchen, nachdem sie das Gleichgewicht wiedererlangt hatte, forteilte, um die Hebamme zu holen.

Morange ging hastig den Korridor entlang bis zu der ihm wohlbekannten Tür; er öffnete sie mit tastender, zitternder Hand. Dieses Mädchen, das ihm den Weg hatte verlegen wollen, dieses so ängstlich behütete Zimmer hatten ihn toll gemacht. Und welches Gemach des Abscheus und des Entsetzens, das sie nun betraten! Es war durch ein staubiges Fenster erhellt, das auf den Hof ging und das nur ein schwaches Kellerlicht eindringen ließ. Unter dem rauchgeschwärzten Plafond, zwischen den vier Wänden, von denen die feuchten Tapeten in Fetzen herunterhingen, enthielt es an Einrichtung lediglich eine Kommode mit zerbrochener Marmorplatte, ein wackeliges Nachtkästchen, zwei zerrissene Stühle und ein Bett aus imitiertem Mahagoni, dessen Fugen die Spuren von Ungeziefer zeigten. Und hier, inmitten dieser anwidernden Verwahrlosung, auf diesem noch in der Mitte des Raumes stehenden elenden Bette lag Valérie, ganz kalt, seit sechs Stunden tot. Ihr reizender Kopf ruhte auf ihren gelösten schwarzen Haaren. Das Gesicht war wachsbleich, als ob alles Blut ihres Körpers durch die verbrecherische Wunde entströmt wäre. Dieses im Leben so runde und frische Gesicht, das so viel liebenswürdige Fröhlichkeit, so warmes Verlangen nach Luxus und Wohlleben ausgedrückt hatte, hatte im Tode einen schrecklichen Ernst angenommen, ein verzweifeltes Bedauern um das, was sie in so entsetzlicher Weise verließ. Die Decke war herabgeglitten, ein Stück ihrer Schultern war sichtbar, jener bereits etwas zu vollen Schultern, auf deren Schönheit ihr Mann aber stolz war, wenn sie sich dekolletierte. Eine Hand, die rechte, sehr blaß, sehr fein, wie verlängert durch die Vernichtung, in die sie gefallen war, lag auf der Decke am Rande des Bettes. Sie war tot, sie war allein, ohne eine Seele neben ihr, ohne eine Kerze.

Versteinert starrte Morange sie an. Sie schien zu schlafen, deren Augen für immer geschlossen waren. Aber er täuschte sich darüber nicht, er sah das leichte Atmen nicht mehr, die Lippen waren geschlossen und ganz weiß. Die Erbärmlichkeit dieses Zimmers, das kalte Entsetzen über diese verlassene Tote, die hier allein lag wie eine am Straßenrand Ermordete, trafen ihn so ins Herz, daß er betäubt dastand. Er faßte ihre Hand, er fühlte ihre eisige Kälte und ein unartikuliertes Stöhnen rang sich aus seinem Innern empor. Dann fiel er auf die Knie, legte seine Wange gegen diese Marmorhand, ohne ein Wort, ohne selbst zu schluchzen, als ob er selber an dieser Erstarrung erstarren, mit ihr in den kalten Tod hinübergehen wollte. So blieb er regungslos.

Auch Mathieu war unbeweglich stehengeblieben, entsetzt von diesem jähen Ende, von dieser Vernichtung, von diesem Abgrund der Erniedrigung, in welchen das unglückliche Ehepaar gestürzt war. Das schreckliche Schweigen dauerte eine Weile; dann wurde es von einem leichten Geräusch, gleich dem Herannahen einer vorsichtigen Katze unterbrochen. Durch die Tür, die offen geblieben war, trat Madame Rouche herein, näherte sich in ihrer stillen, gelassenen, diskreten Weise, in ihrem ewigen schwarzen Kleide. Ihre große Spürnase wendete sich sofort diesem fremden Herrn zu, der sie, wie sie sich erinnerte, schon einmal besucht hatte, um anscheinend eine Dame bei ihr unterzubringen. Er schien ihr keinerlei Unruhe einzuflößen, sie betrachtete ihn gelassen prüfend, behielt eine Seelenruhe, die ihn in Erstaunen setzte. Sie schien lediglich von Mitleid durchdrungen für den armen Mann, der neben der Toten zusammengebrochen war. Ihr liebenswürdiger Blick schien zu sagen: ›Welch ein Unglück, welch ein trauriger Fall, wie klein sind wir den unberechenbaren Ratschlüssen des Schicksals gegenüber!‹

Als sodann Mathieu den Unglücklichen aufrichten und trösten wollte, hinderte sie ihn daran, indem sie flüsterte: »Nein, nein, lassen Sie ihn, das wird ihm guttun. – Kommen Sie, Monsieur, ich möchte mit Ihnen sprechen.«

Sie führte ihn hinaus. Auf dem Korridor schlugen schreckliche Laute an ihre Ohren, man hörte dumpfe Schreie, entfernte Hilferufe. Immer noch ohne jede Erregung, öffnete sie eine Tür und schob ihn in ein Zimmer, indem sie sagte: »Bitte, mich hier zu erwarten.«

Es war ihr Arbeitszimmer, ein enges Gelaß mit abgenutzten roten Samtmöbeln und einem kleinen Mahagonischreibtisch; in einem großen Fauteuil saß ein junges Weib mit losem Haar, das mit lässiger Hand nähte, eine offenbar kürzlich Entbundene, denn sie war sehr blaß.

Als sie den Kopf erhob, erkannte Mathieu mit Erstaunen Céleste, die Zofe Madame Séguins. Sie selbst erbebte und war von diesem unerwarteten Zusammentreffen so bestürzt, daß ihr der Ausruf entfuhr: »Oh, Monsieur Froment! Sagen Sie Madame nichts davon, daß Sie mich hier gefunden haben!«

Er erinnert sich sodann, daß Céleste vor drei Wochen die Erlaubnis erhalten hatte, auf einige Zeit nach Rougemont, ihrer Heimat, zu reisen, da ihre Mutter im Sterben sei. Briefe von dort trafen regelmäßig von ihr ein. Ihre Herrin hatte ihr geschrieben, sie möge baldigst kommen, damit sie zur Zeit ihrer Entbindung zugegen sei. Aber die Zofe hatte geantwortet, daß ihre Mutter sich in hoffnungslosem Zustande befinde, und daß sie sie unmöglich verlassen könne, da stündlich ihr Tod erwartet werde, der übrigens bis jetzt noch nicht eingetreten sei. Und nun fand er das Mädchen bei der Rouche, vielleicht acht Tage nach einer Entbindung.

»Es ist wahr, Monsieur, ich war in andern Umständen. Ich habe wohl gesehen, daß Sie einmal etwas bemerkten. Die Männer sehen so etwas gleich. Madame hat nie den geringsten Verdacht gehabt, so geschickt habe ich es angestellt. Sie begreifen, nicht wahr, ich wollte meinen Platz nicht verlieren, und da sagte ich, daß meine Mutter krank sei. Eine Freundin, die Couteau, empfängt meine Briefe dort drunten und schickt meine Antworten ab. Freilich, es ist nicht schön, zu lügen, aber was sollen wir arme Mädchen tun, wenn Schufte und Meineidige die Gemeinheit begehen, uns zu Fall zu bringen?«

Was sie nicht erzählte, das war, daß dies schon ihr zweites Kind war, noch auch, daß die Sache diesmal nicht so zufriedenstellend abgelaufen war, wie beim ersten. Diesmal war das Kind, obgleich von kaum sieben Monaten, lebend und kräftig zur Welt gekommen. Das Leben hat eben manchmal seinen Eigensinn. Und da das Hausgesetz den Kindesmord verbot, hatte man seine Zuflucht zu der Couteau nehmen müssen, die in solchen widrigen Fällen der letzte Rettungsanker war. Sie war am Tage nach der Geburt gekommen und hatte das Kind mitgenommen, um es in Rougemont in Pflege zu geben. Es war nun wahrscheinlich tot.

»Sie begreifen, Monsieur, daß ich mich nicht hätscheln kann wie eine Dame. Die Aerzte sagen, daß man wenigstens zwanzig Tage im Bett bleiben muß, um sich zu erholen. Ich bin nun sechs Tage im Bett geblieben und bin heute aufgestanden, um zu Kräften zu kommen, so daß ich Montag wieder meinen Dienst antreten kann. Unterdessen beschäftige ich mich, wie Sie sehen, und bessere für Madame Rouche, die so gut gegen mich ist, Wäsche aus. – Nicht wahr, ich kann darauf rechnen, daß Sie mein Geheimnis bewahren werden?«

Mathieu sagte ihr dies mit einem Kopfnicken zu. Er betrachtete dieses Mädchen von kaum fünfundzwanzig Jahren, mit ihrem unschönen, massigen Kopfe, aber derbem, gesundem Körper und schönen Zähnen, und sah sie so von einer Schwangerschaft zur andern gelangen, die Totgeborenen in die Erde senken, unerschlossene Samenkörner, die in der Feuchtigkeit verfaulten. Sie flößte ihm Abscheu und Mitleid ein.

»Verzeihen Sie eine Frage. Können Sie mir wohl sagen, ob auch Madame niedergekommen ist?«

Er erwiderte, Madame Séguin sei nun wohl entbunden, habe aber nahezu achtundvierzig Stunden lang sehr gelitten.

»Ach ja, das wundert mich nicht, Madame ist so zart ... Ich bin aber doch froh, daß es vorüber ist. Ich danke Ihnen schön.«

Jetzt trat Madame Rouche ein und schloß in ihrer heimlichen Weise die Tür geräuschlos hinter sich. Nach den dumpfen Schreien, die durch die Wohnung geschallt hatten, war diese wieder in Todesschweigen zurückverfallen. Sie setzte sich, immer mit ihrer wohlwollenden und gelassenen Miene, an ihren Schreibtisch und stützte den Ellbogen darauf, nachdem sie Mathieu sehr höflich gebeten hatte, Platz zu nehmen. Mit einer Bewegung hatte sie Céleste bedeutet zu bleiben: sie war eine Freundin, eine Vertraute, eine zuverlässige Person, vor der man ungescheut sprechen konnte.

»Mein Herr, ich habe nicht einmal die Ehre, Ihren Namen zu kennen, aber ich habe auf den ersten Blick gesehen, daß ich mit einem vernünftigen und gebildeten Manne zu tun habe, der das Leben kennt. Und deshalb wünschte ich Ihnen im Vertrauen zu sagen, daß die Verzweiflung Ihres Freundes mich ein wenig beunruhigt – oh, nur um seinetwillen. Sie können sich nicht vorstellen, welchen Wahninnsanfall wir letzte Nacht bei ihm haben besänftigen müssen. Und ich fürchte, wenn die Raserei ihn wieder erfaßt, daß er sich vielleicht zu Handlungen hinreißen lasse, deren gefährliche Folgen Sie sich nicht verhehlen werden. Gewiß, der Schlag, der ihn betroffen hat, ist ein entsetzlicher, Sie sehen mich selbst ganz fassungslos darüber, ich habe kein Auge schließen können, seitdem das Unglück geschehen ist. Aber, Sie begreifen, daß es weit entfernt wäre, an der Sache etwas zu verbessern, wenn er selbst sich ins Unglück stürzen, sich die schrecklichste Verantwortung aufladen wollte, indem er seinen Kummer unnötigerweise hinausschreit ... Noch einmal, ich schwöre Ihnen, daß ich viel mehr an ihn als an mich denke, denn ich, mein Gott, ich helfe mir immer heraus.« Mathieu begriff sehr wohl. Man konnte den Leuten ihre Mitschuld nicht besser zum Bewußtsein bringen, als indem man ihnen zu verstehen gab, daß, wenn sie unklug genug wären, das Verbrechen durch irgendwelche unvorsichtige Reden zu verraten, sie die ersten wären, die man anklagen und bestrafen würde.

»Man muß Rücksicht auf den furchtbaren Schmerz meines Freundes nehmen,« antwortete er kalt. »Ich werde nicht nötig haben, ihm zu empfehlen, daß er das Vernunftgemäße tue, denn er wird wohl, trotz des niederschmetternden Schlages, der ihn betroffen hat, alle Seiten der Sache in Betracht ziehen.« Ein Stillschweigen folgte. Madame Rouche betrachtete ihn mit ihrer ruhigen Miene, und ein merkliches Lächeln trat auf ihre dünnen Lippen.

»Ich sehe wohl, mein Herr, daß Sie mich für eine Verbrecherin, eine Mörderin halten. Ach, wenn Sie hier gewesen wären, als dieser Herr und die arme Dame zu mir kamen! Sie haben geschluchzt wie die Kinder, sie haben sich mir zu Füßen geworfen, weil ich zuerst nicht wollte. Und welche Dankbarkeit, und welche Versprechungen ewiger Erkenntlichkeit, als ich endlich einwilligte! Die Sache hat sich zum Schlimmen gewendet, irgendeine unregelmäßige Bildung muß mich getäuscht haben, und so hat es ein großes Unglück gegeben. Bin ich nicht die erste, die verzweifelt und bedroht ist? Glauben Sie, daß ich nicht meinen Kummer und meine Befürchtungen habe? Sie sollten doch zu Hause bleiben, die Gatten und Gattinnen, die die Gefahr nicht auf sich nehmen wollen, nachdem sie sich der Annehmlichkeit erfreut haben!«

Sie ereiferte sich, ihre ganze kleine Person zitterte vor Ueberzeugung.

»Was ich getan habe, das tun ja alle Hebammen! Das tun ja auch alle Ärzte! Ich möchte die unter uns sehen, die vermöchte, es nicht zu tun, angesichts der jammervollen Dinge, die uns alle Tage anvertraut werden! Ach, mein Herr, wenn ich Sie in diesem Zimmer verbergen könnte, wenn Sie alle die Unglücklichen hören könnten, die hier hereinkommen, so würden sich alle Ihre Begriffe ändern. Eine arme kleine Kaufmannsfrau kommt eines Tages zu mir, halb tot, am Unterleib durch einen Fußtritt ihres Mannes verletzt, und vergießt heiße Tränen, indem sie sagt, daß sie kein Kind will; hatte ich wohl recht, dieser zu helfen? Vorige Woche kommt eine Bauernmagd, die aus der Beauce zu Fuß hierhergegangen ist, überall hinausgejagt, von den Kindern mit Steinwürfen verfolgt, gezwungen, in Heuschobern zu schlafen und den Hunden das Futter wegzustehlen: glauben Sie nicht auch, daß es eine barmherzige Tat war, sie sofort zu entbinden, damit sie nicht länger sich mit ihrer unglückseligen Frucht schleppe? Und alle die, welche die Provinz mir sendet, welche vom Bahnhofe Saint-Lazare nur einen Sprung hierher haben, Bürgersfrauen, Arbeiterinnen, die mir schwören, daß sie ihr Kind töten werden, wenn ich ihnen nicht helfe! Und alle, die aus Paris kommen, und die auch immerfort diese Drohung im Munde führen, viele arme Mädchen, aber auch reiche, glückliche, geachtete Damen – alle, alle, verstehen Sie wohl, sind zum Alleräußersten entschlossen, sich der Gefahr auszusetzen, sich mit innerlichen Mitteln zu vergiften, sich die Treppen herabfallen zu lassen, um sich eine befreiende Erschütterung zuzuziehen, sich selbst zu entbinden, um das Kind zu ersticken oder es auf die Straße zu legen. Nun denn, was wollen Sie, daß ich tue? Glauben Sie nicht, daß man schon genug kleine Leichen in den Kloaken und Senkgruben findet? Würde sich nicht, wenn wir uns weigerten zu tun, was man von uns verlangt, die Zahl der Kindesmorde verdoppeln? Ist dies nicht, ganz abgesehen von der barmherzigen Tat, die wir an diesen bedauernswerten Frauen üben, ist dies nicht eine notwendige Abteilung, eine vorbeugende Maßregel sozialer Klugheit, die viele Dramen und Verbrechen verhindert? Verstehen Sie wohl, mein Herr, ich schwöre, daß noch nie ein lebendgeborenes Kind bei mir getötet worden ist. Die Mutter oder die Amme machen nachher damit, was sie wollen, damit habe ich mich nicht zu befassen.«

Sie triumphierte, sie schwor bei ihrer Ehre, sie warf sich in die Brust, sie sah in dem schaudernden und entsetzten Schweigen Mathieus die Zustimmung eines Besiegten, der nichts zu erwidern vermochte. Und als er eine Bewegung machte, um dieser Hölle zu entfliehen, fuhr sie lebhaft fort:

»Noch ein Wort, mein Herr. Ich will Ihnen einen Fall erzählen. Im Hause gegenüber befand sich zu Anfang des Winters bei einem reichen Bankier ein blondes Stubenmädchen, ein reizendes Kind. Natürlich kommt sie in andre Umstände und sucht mich auf, aber zu spät, als daß ich nach meinen Prinzipien hätte eingreifen können. Dann fand ich auch, daß diese Kleine wirklich zu nahe wohne, was gefährlich ist, wegen des Tratsches ... Zwei Monate vergingen. Eines Morgens um sechs Uhr kommt die Köchin desselben Hauses, um mich zu holen, führt mich heimlich über die Diensttreppe in den sechsten Stock, in das Zimmer, das sie mit der kleinen Blondine bewohnt. Und was finde ich in einem der beiden Betten? Die arme Kleine tot, die Hände um den Hals des Kindes geklammert, daß sie bei der Geburt erwürgt hatte. Aber das Merkwürdigste war, daß die andre, die Köchin, die in kaum zwei Metern Entfernung von ihr schlief, absolut nichts gehört hatte, keinen Schrei, keinen Ton. Sie hatte erst gesehen, was geschehen war, als sie erwachte ... Können Sie sich sie vorstellen, das arme Kind, ihre Schmerzen unterdrückend, ihre Schreie erstickend, das Kind erwartend, um es mit ihren fieberhaften Händen zu erwürgen? Und dann, kraftlos nach dieser letzten Anstrengung, alles Blut aus ihren Adern hinfließen lassend, und endlich selbst in den Tod entschlafend, dem kleinen Wesen nach, das ihre erstarrten Hände nicht fahren gelassen hatten? Natürlich habe ich der Köchin gesagt, daß mich dies nichts angehe, und daß sie nach einem Arzte senden solle, damit er den Tod konstatiere. Aber Sie mögen es mir glauben, mein Herr, daß ich mich von diesem Vorfall nicht erholen kann. Ja, ich mache mir schwere Vorwürfe, daß ich das arme Geschöpf zurückgestoßen habe. Und ich frage Sie noch einmal, wenn ich mich also ihrer angenommen hätte, würden Sie einen Stein auf mich werfen, müßten Sie nicht sagen, daß ich damit eine gute Tat vollbracht hätte?«

»Selbstverständlich! Ohne Zweifel!« rief Céleste, die mit gespanntem Interesse der Erzählung gefolgt war.

Mathieu hatte sein Herz brechen gefühlt. Der letzte Grad des Entsetzens war überschritten, er hatte den Boden des Abgrundes erreicht. Das war die tiefste Hölle der Mutterschaft. Er erinnerte sich, was er bei Madame Bourdieu gesehen hatte, die heimliche und schuldbeladene Schwangerschaft, verführte Dienstboten, ehebrecherische Gattinen, blutschänderische Mädchen, die namenlos hierherkamen, um elenden Wesen das Leben zu geben, die dann ins Unbekannte verschwanden. Sodann hier, bei der Rouche, fand er das heuchlerische Verbrechen, die Erstickung der angeborenen Frucht, die tot zur Welt kam, oder mit dem ersten Atemzug ihr Leben aushauchte. Und auch anderwärts, überall, sah er den Kindesmord, das unverhüllte Verbrechen, das lebensfähige Kind, das erwürgt, bei Seite geschafft wurde. Die Ziffer der Ehen hatte sich nicht vermindert, aber die Zahl der Geburten war um ein Viertel gesunken, und alle Kloaken der großen Stadt führten kleine Leichen mit sich. Er war auf den Boden des menschlichen Sumpfes geraten, und er fühlte den Schreckenshauch zahlloser verborgener Dramen, zahlloser geheimer Morde erstickend über sich hinwehen. Und das Unerhörte war, daß dieses Weib, diese gemeine und heimtückische Mörderin, mit lauter Stimme sprach, von ihrer Mission überzeugt zu sein schien, ihm Wahrheiten sagte, die ihn zu Boden drückten. Die Mutterschaft verfiel diesem mörderischen Wahnwitz nur infolge der sozialen Greuel, der Entsittlichung der Liebe, der Ungerechtigkeit der Gesetze. Der göttliche Trieb war besudelt, die unsterbliche Lebensflamme entwürdigt, und nichts war geblieben, als die wahllose Brunst. Die erste Lebensregung des Kindes flößte der Mutter schauderndes Entsetzen ein, die Angst vor dem Zurweltkommen der Frucht eines Mißverständnisses, das mörderische Verlangen, sie im Keime zu zerstören wie ein schädliches Unkraut. Alles vereinigte sich in dem Schrei des Egoismus: kein Kind mehr, nichts, was die Vorausberechnungen des Geld- oder Ehrgeizes stören könnte! Tod dem Leben von morgen, wenn nur der Genuß von heute erreicht wird! Die ganze im Sterben liegende Gesellschaft stieß ihn aus, diesen gottlästerlichen Schrei, der das nahe Ende der Nation ankündigt. Und Mathieu, der das schlecht besäte Paris vor Augen gehabt hatte, an dem Abende, vor nun bald neun Monaten, da er selbst nahe daran gewesen, der lüsternen Tollheit der Unterschlagung zu verfallen – sah nun, von welch bösartigen oder verbrecherischen Händen die Ernte besorgt wurde. Sicherlich gingen viele Saatkörner verloren, die auf das Straßenpflaster geworfen wurden, verdorrten, verbrannten; und welch ein Ausfall während des Anbaues, welch eine Vergeudung durch Gewissenlosigkeit und durch Elend! Aber das war noch nichts, niederträchtige Hände setzten das Werk der Vernichtung fort, wenn es zur Ernte kam. Verschleuderte Aussaat, zerstörte Ernte – das war das teuflische Werk der willkürlichen Unfruchtbarkeit, alle Mächte des Todes kämpften gegen das Leben, angesichts der unbewegten Natur, die die unerschöpfliche Ueberfülle der Keime schafft zum Zwecke der ewigen Ernte von Wahrheit und Gerechtigkeit.

Mathieu erhob sich jetzt und sagte: »Ich wiederhole Ihnen, Madame, daß es mir nicht zukommt, etwas von dem zu wissen, was hier vorgegangen sein mag. Aber bildet die Anwesenheit dieser Toten nicht an und für sich die ernsteste Gefahr?«

Madame Rouche antwortete mit ihrem dünnen Lächeln: »Freilich, die Aufsicht ist sehr streng. Glücklicherweise hat man ziemlich überall seine Freunde. Ich habe den Tod angezeigt, der Arzt wird kommen und wird lediglich eine unglücklich verlaufene Fehlgeburt konstatieren.«

Auch sie hatte sich erhoben und zeigte wieder ihre sanfte und diskrete Miene, den Ausdruck ihres Mitleides über alle die traurigen Dinge, die auf dieser Welt geschehen. Und sie tat, als wollte sie bescheiden protestieren, als wollte sie Céleste den Mund zuhalten, als diese ausrief:

»Ja, es ist wahr, man würde sich alles das antun, was sie sagt. Es giebt keine bessere Frau auf der Welt, man würde sich für sie in Stücke schneiden lassen ... Guten Abend, Monsieur, erinnern Sie sich, was Sie mir versprochen haben.«

Ehe er ging, wollte Mathieu Morange noch einmal sehen und versuchen, ihn von hier fortzubringen, wenn er konnte. Er fand ihn ohne Tränen neben seiner toten Frau sitzend, seine Verzweiflung hatte sich in dumpfe Vernichtung verwandelt. Bei den ersten Worten, die Mathieu an ihn richtete, unterbrach ihn der Unglückliche mit sehr leiser, tonloser Stimme, als fürchtete er die zu stören, die hier für immer schlief.

»Nein, nein, mein Freund, sagen Sie mir nichts, alles, was Sie mir sagen können, ist nutzlos. Ich erkenne mein Verbrechen, und ich werde mir nie verzeihen. Wenn sie hier liegt, so ist es, weil ich zugestimmt habe. Ich habe sie freilich vergöttert, ich wollte nur ihr Glück, meine ganze Schwäche bestand darin, daß ich sie zu sehr liebte. Gleichviel, ich war der Mann, ich hätte vernünftig sein sollen, als sie von Wahnsinn erfaßt wurde, ich hätte ihr begreiflich machen sollen, daß dies ein Verbrechen sei, für das wir sicherlich bestraft werden würden ... Sie, mein Gott, wie sehr verstehe ich sie, wie sehr entschuldige ich sie, die teure, unglückliche Frau! Aber ich, mit mir ist es aus, ich flöße mir selber Abscheu ein!«

Seine ganze Mittelmäßigkeit, seine ganze Zärtlichkeit sprach aus diesem Eingeständnis seiner Schwäche. Er fuhr fort, ohne daß seine Stimme lauter oder lebhafter wurde, wie aus der Leere seines gebrochenen Selbst heraus:

»Sie wollte reich, fröhlich, glücklich sein. Nichts war berechtigter bei einer so schönen und klugen Frau. Und ich hatte nur eine Freude: ihren Geschmack zu befriedigen, die Wünsche ihres Ehrgeizes zu erfüllen ... Sie kennen unsre neue Wohnung, wir hatten zu viel Ausgaben darauf gehabt. Dann kam die Geschichte mit der Nationalkreditbank, die endliche Aussicht auf baldigen Reichtum. Und wie ich dann gesehen habe, daß der Gedanke, sich mit einem zweiten Kinde zu belasten, sie wahnsinnig machte, bin auch ich wahnsinnig geworden, und habe schließlich geglaubt, daß das einzige Heil darin liege, das arme Kleine zu vernichten ... Und jetzt liegt sie da, mein Gott! Und wissen Sie, es war ein Knabe, und wir hatten uns so sehr einen Knaben gewünscht, und hatten alles nur in der Gewißheit getan, daß es ein Mädchen sei, und daß wir ihr eine Mitgift zu geben haben würden! Und jetzt ist das Kleine nicht mehr, und sie ist nicht mehr, und ich bin es, der sie getötet hat. Ich wollte nicht haben, daß das Kind lebe, und nun hat das Kind die Mutter mitgenommen!«

Diese tränenlose, leidenschaftslose Stimme, einer fernen Totenglocke vergleichbar, schnitt Mathieu durchs Herz. Er suchte vergeblich nach Trostworten, er sprach von Reine.

»Ja freilich. Sie haben recht, Reine, ich liebe sie sehr. Sie ähnelt ihrer Mutter so sehr ... Sie werden sie mir bis morgen behalten, nicht wahr? Sagen Sie ihr nichts, lassen Sie sie spielen, ich werde ihr selbst das Unglück mitteilen. – Und ich bitte Sie, quälen Sie mich nicht, führen Sie mich nicht von hier fort. Ich verspreche Ihnen, vernünftig zu sein, ich werde ganz ruhig da bei ihr bleiben und wachen. Man wird mich nicht einmal hören, ich werde niemand belästigen.«

Seine Stimme erstickte, er stammelte nur mehr zusammenhanglose Worte in der Verwirrung seines Geistes, angesichts seines zertrümmerten Lebens.

»Sie, die das Leben so liebte, ausgelöscht, so mit einem Male, in einer so schrecklichen Weise! Gestern um diese Zeit ging sie noch, sprach sie noch, hielt ich sie noch in den Armen, sprach davon, ihr einen Hut zu kaufen, den sie gesehen hatte ... Mein Gott, da ich mitschuldig war, warum hat sie nicht auch mich mitgenommen, wie das Kind?«

Mathieu mußte sich entschließen, ihn zu verlassen, da er ihn so erstarrt, so vernichtet sah. Er ging hinab und warf sich in den Wagen, den er hatte warten lassen. Ah, welche Erleichterung, die sonnenbeschienenen, von Menschengewühl belebten Straßen wiederzusehen, die frische Luft einzuatmen, die durch die offenen Wagenfenster hereinströmte! Es war ihm, als sei er der Hölle entronnen, und er sog in vollen Zügen die gesunde Heiterkeit des schönen Tages ein. Und das Bild Mariannens, die wiederzusehen er nicht erwarten konnte, tauchte vor ihm auf wie die trostreiche Versicherung eines baldigen Sieges des Lebens, eines versöhnenden Ersatzes für alle Schändlichkeiten und alle Widernatürlichkeiten. Die teure Frau! Sie war die Gesunde, die Tapfere, die Stütze der ewigen Hoffnung! Sie würde nun, selbst unter Schmerzen, den Triumph der Liebe vollenden, das Werk der Fruchtbarkeit weiterführen, ihr Teil zur Ausdehnung des Lebens, zu der Aufgabe der Zukunft beitragen ... Die Langsamkeit des Wagens brachte ihn zur Verzweiflung, er brannte vor Verlangen, sich wieder in dem kleinen, hellen, von Wohlgerüchen erfüllten Hause zu befinden, um Anteil zu nehmen an dem hohen Feste der Ankunft eines neuen Wesens, das von so viel Schmerzen und so viel Freude begleitet war, an dem ewigen Hoheliede der Menschheit.

Als er anlangte, war er überrascht von dem fröhlichen Aussehen des kleinen Hauses. Die Sonne glänzte überall. Auf dem Treppenabsatz befand sich ein Rosenbukett, welches man aus dem Zimmer der Wöchnerin entfernt hatte, und welches die Treppe mit Duft erfüllte. Und als er das Zimmer betrat, fielen seine Augen auf weißes Linnen, einen Reichtum schneeiger Wäsche, die auf den besonnten Möbeln ausgebreitet war. Ein halboffenes Fenster ließ den vorzeitigen Frühling hereinströmen.

Aber er bemerkte sofort, daß die Wärterin allein war. »Wie, Doktor Boutan ist noch nicht da?«

»Nein, Monsieur, niemand ist gekommen. – Madame leidet sehr.«

Mathieu war zu Marianne geeilt, die, sehr bleich und mit geschlossenen Augen daliegend, tatsächlich von heftigen Schmerzen erfaßt zu sein schien. Er geriet in Erregung und erklärte ihr, daß der Doktor schon vor mehr als zwei Stunden ihm versprochen hatte, sogleich herzueilen.

»Und ich lasse dich so lange allein, mein teures Kind! Ich glaubte bestimmt, daß er bei dir sei. Madame Séguin ist entbunden, er sollte längst da sein.«

Marianne schlug langsam die Augen auf und bemühte sich zu lächeln. Sie konnte nicht gleich sprechen. Endlich sagte sie leise und abgebrochen: »Warum erzürnst du dich? Wenn er nicht kommt, so ist wohl irgendeine Komplikation eingetreten. Was könnte er mir auch helfen? Wir müssen warten.« Dann erfaßte sie ein solcher Anfall, daß ihr ganzer Körper davon geschüttelt und emporgehoben wurde, während der Schmerz ihr laute Klagen erpreßte. Tränen rannen über ihre Wangen herab.

»Ach, Liebste, Liebste,« sagte Mathieu, ebenfalls weinend, »ist es möglich, daß du so leidest! Und ich hatte gehofft, daß alles so gut ablaufen werde! – Letztes Mal hast du nicht solche Schmerzen ausgestanden.«

Sie hatte sich wieder beruhigt, sie lächelte sogar.

»Das letztemal glaubte ich, daß nicht viel von mir Armen übrigbleiben würde. Du erinnerst dich nur nicht. Es ist immer dasselbe, man muß seine Freude teuer bezahlen. Aber beunruhige dich darüber nicht, du weißt, wie glücklich ich bin, alles auf mich zu nehmen. – Setze dich hier neben mich und sprich nicht. Die geringste Erschütterung verschlimmert die Schmerzanfälle.«

Darauf kniete er langsam und sanft neben ihr nieder, nahm ihre Hand, die auf dem Bettrande lag, und lehnte seine Wange daran, wie um durch diese Berührung sein ganzes Wesen mit dem ihrigen zu vereinen und teil an ihren Leiden zu nehmen. Eine plötzliche Erinnerung tauchte in ihm auf, an den armen Morange, der in derselben Haltung, mit derselben Zärtlichkeit seine brennende Wange gegen die kalte Hand seiner toten Frau gelehnt hatte. Im Leben wie im Tode schlang sich dasselbe Band zwischen Mann und Weib. Aber alle Fieberglut des Unglücklichen hatte die eiskalte Hand nicht erwärmen können, während er im Gegenteil fühlte, daß er durch diese Berührung seiner geliebten Dulderin einen kleinen Teil der Schmerzen abnahm, unter denen sie sich wand. Er litt mit ihr, er machte alle die Anfälle mit, von denen sie durchzuckt wurde, er stand ihr bei in dem Lebenswerke, in der Stunde der Pein, womit jede menschliche Freude bezahlt werden muß. Diese Gemeinsamkeit hatte er unablässig aufrechterhalten seit der Nacht, da sie beide, dem ewigen Verlangen nachgebend, sich in einer Flamme fruchtbarer Wollust vereinigt hatten. Von da ab war sie mehr als je die Seinige geworden, er hatte sich mehr als je in ihr gefühlt, in dem Maße, als ihre fortschreitende Schwangerschaft sie mehr und mehr mit ihm erfüllte. Die Sorgfalt, mit der er sie von da an umgab, die Zärtlichkeit, mit der er sich zu ihrem stets bereiten Diener machte, sein unablässiges Bestreben, ihr jede kleinste Mühe zu ersparen, ihr den Tag, der anbrach, zu einem freudigen, den, der folgte, zu einem hoffnungsvollen zu machen, waren in seinen Augen nur sein allzu kleiner Anteil an der gemeinschaftlichen Aufgabe, die glückliche Geburt ihres gemeinschaftlichen Kindes vorzubereiten. Ein jeder ehrliche Mann und Vater, welcher wünscht, daß sein Kind gesund und schön sei, muß die schwangere Mutter lieben, so wie er die liebende Gattin am Tage der Empfängnis liebte, mit heiliger Glut, mit unendlicher Leidenschaft, bis zum Aufgehen, bis zum Verschwinden in ihr. Und sein einziger Kummer, als er sie so leiden sah, war, daß er ihr nur Trost und Erleichterung bieten konnte, anstatt seine Hälfte von ihren Schmerzen zu haben, so wie er seine Hälfte der Seligkeit gehabt hatte.

Es war eine lange, qualvolle Zeit für Mathieu. Minuten vergingen, eine Stunde, zwei Stunden. Doktor Boutan war noch immer nicht da. Das Dienstmädchen, das er zu den Séguin geschickt hatte, war mit dem Bescheid zurückgekehrt, daß der Arzt ihr sogleich folgen werde. Dann begann wieder das Warten. Marianne hatte Mathieu gezwungen, sich auf einen Stuhl zu setzen, aber er hielt ihre Hand noch immer zwischen den seinigen. Beide, bleich von derselben Qual, schwiegen still, wechselten nur wenige Worte zärtlicher Unruhe. Sie machten zusammen das große und segensreiche Leiden durch, das Leiden, welches das Leben gibt, nach dem geheimnisvollen Ratschlusse, der will, daß eine jede Schöpfung von Schmerzen begleitet sei. Und diese Schmerzen verschmolzen sie vollends miteinander, erhoben sie zu solch vollkommener Liebe, daß keine Trauer an sie herankonnte, und daß das Leidenszimmer, im Gegenteil von dem Glücke ihrer Hingabe durchstrahlt, den baldigen Triumph verkündete.

Die Klingel ertönte, und Mathieu eilte erregt hinab. Und als er Doktor Boutan unten fand: »Ach, Doktor, Doktor ...!«

»Machen Sie mir keine Vorwürfe, lieber Freund. Sie haben keine Vorstellung von dem, was ich durchgemacht habe. Die arme, kleine Frau ist mir zwei- oder dreimal beinahe unter den Händen geblieben. Als sie endlich entbunden war, wäre beinahe Eklampsie eingetreten. Das hatte ich von allem Anfang gefürchtet. Gott sei Dank, ich glaube, sie hat das Schlimmste nun überstanden!«

Während er Hut und Ueberrock im Speisezimmer ablegte, fuhr er fort: »Wie wollen Sie auch, daß eine Frau eine glückliche Entbindung haben soll, wenn sie bis zum sechsten Monate sich bis zum Ersticken schnürt, in Gesellschaft, ins Theater, überall hingeht, alles Mögliche ißt und trinkt, ohne die geringste Vorsicht. Nehmen Sie dazu, daß diese Frau von beunruhigender Nervosität ist, und daß sie ein unglückliches häusliches Leben hat ... Aber alles das interessiert Sie nicht. Sehen wir, wie es bei uns steht.«

Oben, als er eintrat, mit seinen breiten Schultern, seinem gesunden, blühenden Gesichte, seinen glänzenden Augen, sein leichtes Lächeln auf den Lippen, empfing ihn Marianne mit demselben Vorwurfe.

»Oh, Doktor, Doktor...«

»Da bin ich, verehrte Frau. Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht habe früher kommen können. Uebrigens will ich Ihnen nur gestehen, daß ich mir Ihretwegen keine Sorge gemacht habe, so überzeugt bin ich von Ihrer Tapferkeit und Widerstandskraft.«

»Aber ich leide schrecklich, Doktor.«

»Um so besser, so soll es sein. Alles wird bald vorüber sein, wenn sie gute, ordentliche Kolik haben.«

Er lachte, sprach fröhlich, sagte scherzend, sie müßte ja nun nachgerade anfangen, sich an diese »Weh-Weh« zu gewöhnen. Vier oder fünf Stunden Schmerzen, was hätte das zu sagen, wenn alles gut ginge, natürlich, ohne jeden Grund zu ernstlicher Besorgnis? Nachdem er sich sodann eine große, weiße Schürze vorgebunden und die Patientin aufmerksam untersucht hatte, rief er bewundernd aus: »Ausgezeichnet, nie habe ich eine günstigere Situation vorgefunden. Ehe eine Stunde um ist, haben wir das Kleine da. Ah, derlei macht einem Vergnügen, das ist einmal ordentliche Arbeit, wie die braven Frauen sagen!«

Mit Hilfe der Wärterin traf er rasch die letzten Vorbereitungen. Er erwiderte jeden Klagelaut Mariannens mit einem heiteren Worte, sagte ihr, sie möge nur recht brav Schmerzen haben, um so schneller werde alles vorüber sein. Als sie während einer Ruhepause nach Madame Séguin fragte, begnügte er sich, ihr zu sagen, daß sie ein Mädchen bekommen habe, was die Verzweiflung des Gatten noch erhöht habe. Ebenso sagte Mathieu, den sie über seinen Besuch bei den Morange befragte, lediglich, daß Valérie sehr krank sei. Weshalb hätten sie sie in ihrem schwerem Kampfe durch traurige Nachrichten betrüben sollen? Dann traten die letzten Schmerzen auf, und in so heftiger Weise, daß sie ihr laute Schreie erpreßten, die einander in regelmäßigen Abständen folgten, ähnlich den Schreien, womit die Holzfäller sich das Signal zu gemeinschaftlichem Anfassen geben, wenn sie eine Eiche fällen. Ihr Kopf war, zurückgeworfen, ihre Auge geschlossen, ihr ganzer armer Körper bäumte sich unter dem heftigen Krampfe der Muskeln. Mathieu litt es nicht an einem Orte. Dieses fortgesetzte Jammern zerriß ihm das Herz, ihm war, als müsse er sich auflösen vor Mitgefühl mit diesem entsetzlichen Leiden. Er entfernte sich vom Bette, kam wieder zurück, beugte sich über dieses teure, gequälte Antlitz, aus dessen geschlossenen Lidern Tränen tropften; und er küßte innig diese armen, rieselnden Augen, er trank diese Tränen der Pein.

»Mein Lieber,« sagte der Doktor endlich, »Sie sollten das Zimmer verlassen. Sie sind mir sehr im Wege.«

Eben kam das Dienstmädchen herein, um zu melden, daß Herr von Beauchêne unten sei, um sich zu erkundigen, wie es gehe. Mathieu ging taumelnd, mit vor Tränen zusammengeschnürter Kehle hinab.

»Nun, mein Lieber, wie weit ist es? Constance sendet mich, um nachzufragen. Alles vorüber?«

»Nein, noch nicht,« antwortete der arme Gatte, am ganzen Körper bebend.

Der andre lachte, im glücklichen Bewußtsein, daß er derlei heftige Gemütserregungen nicht mehr durchzumachen habe. Er hatte, wie stets, die Zigarre im Munde und war, wie stets, voll Kraftbewußtsein, zufrieden mit sich und dem Leben.

»Und dann wollte ich Ihnen auch sagen, daß Ihre Kleinen sich nicht langweilen. Sind das Rangen! Sie haben gegessen wie die Wölfe, und jetzt laufen und springen und schreien sie, daß es eine Art hat. Ich weiß nicht, wie Sie es das ganze Jahr hindurch inmitten dieses Höllenspektakels aushalten können. Zu allem Ueberfluß haben wir auch noch die beiden kleinen Séguin von der Tante holen lassen, zu der ihre Mama sie geschickt hatte. Sie sind auch mit dabei, aber sie sind ein wenig still, sie fürchten, sich zu beschmutzen. Mit dem unsrigen und dieser Reine, die beinahe schon wie ein erwachsenes Mädchen aussieht, haben wir also sieben. Das ist ein bißchen viel für Leute, die sich einbilden, nicht mehr als eins haben zu wollen.«

Er begleitete diesen Scherz mit verstärktem Gelächter. Auch er hatte dem Mittagessen reichlich zugesprochen und war in bester Laune. Aber der Name Reines war eisig auf Mathieus Herz gefallen. Er sah Valérie dort auf dem armseligen Lager tot liegen, während Morange zerschmettert neben ihr wachte.

»Sie spielt also auch, das große Mädchen?« fragte er.

»Mit Leib und Seele. Sie stellt die Mama der andern vor. Aber sie will nicht mehr als ein Kind haben; die fünf andern, das sind die kleinen Dienstboten. – In drei oder vier Jahren wird das eine entzückende Frau sein.«

Er hielt inne, atmete tief und wurde einen Augenblick ernst. »Leider hat unser Maurice es heute früh wieder in den Beinen gekriegt. Er wächst so, der Junge, und wird so stark! Seine Mutter hat ihn inmitten der andern auf ein Sofa legen müssen, und Sie können sich Wohl denken, daß es ihm ein wenig Herzweh macht, daß er nicht gleich den andern herumtollen kann. Armer kleiner Bursch!«

Seine Augenlider zitterten, eine Wolke zog über sein Gesicht. Vielleicht fühlte er in diesem Augenblicke jenen eisigen Hauch aus dem Unbekannten, der eines Abends Constance vor ihrem in Ohnmacht liegenden Sohne schaurig überweht hatte. Allein die Anwandlung verging alsbald. Und als ob während dieser weniger Sekunden der Versunkenheit eine unbewußte Gedankenverknüpfung in ihm vorgegangen wäre, sagte er, wieder zu sich gekommen, heiter: »Ja, apropos, mit der kleinen Blonden dort ist's noch nichts?«

Mathieu bedurfte einer Weile, um zu verstehen, daß er frage, ob Norine noch nicht entbunden sei.

»Nein, noch nicht, es ist noch mehr als ein Monat bis dahin, wie Sie wissen.«

»Ich, ich weiß gar nichts, und meine Frage ist eigentlich recht dumm, denn ich will nichts wissen ... Wenn Sie alles bezahlt haben, sagen Sie ihr von mir, daß weder sie, noch besonders das Kind für mich existiert.«

In diesem Augenblick ertönte die Stimme der Wärterin oben auf der Treppe.

»Monsieur, Monsieur, kommen Sie schnell!«

Beauchêne beeilte sich zu sagen: »Gehen Sie, gehen Sie, lieber Freund. Ich werde hier warten, um zu hören, ob ich eine kleine Cousine oder einen kleinen Cousin bekommen habe.«

Als er das Zimmer betrat, war Mathieu geblendet. Durch das Fenster, dessen Vorhänge hoch hinaufgezogen waren, ergoß sich ein breiter Strom von Sonnenlicht herein, gleich einem strahlenden Willkommgruße. Und er sah den Arzt in weißer Schürze, wie er mit seinen geheiligten Helferhänden das Kind an der Schwelle des Lebens in Empfang nahm. Und er hörte Marianne, seine angebetete Marianne einen lauten Schrei ausstoßen, den Schrei der Mütter, den Schrei jedes neuen Lebens, durchzittert von Schmerz, Freude und Hoffnung, dem fast im selben Augenblicke das dünne Wimmern des Neugeborenen antwortete, womit es das Tageslicht begrüßte. Es war geschehen, ein neues Wesen setzte die Kette der Wesen fort unter dem hellen Glanze der Sonnenstrahlen.

»Es ist ein Junge,« sagte der Arzt.

Mathieu hatte sich wieder über Marianne gebeugt und küßte mit überströmender Zärtlichkeit und Dankbarkeit wieder ihre Augen, die voll Tränen standen. Aber unter ihren Tränen lächelte sie bereits, ein fröhliches Glücksgefühl erfüllte sie, die noch von den ausgestandenen Schmerzen bebte.

»O teure, teure Frau, wie gut und tapfer du bist, und wie ich dich liebe!«

»Ja, ja, ich bin sehr glücklich, und ich werde dich jetzt noch mehr lieben, nach all der Zärtlichkeit, mit der du mich überhäuft hast!«

Der Doktor unterbrach sie und verbot ihr, noch ein Wort zu sprechen. Dann erging er sich in Bewunderung über die Schönheit des Kindes, wiederholte als leidenschaftlicher Apostel zahlreicher Familien, daß es kein besseres Mittel gäbe, schöne Kinder zu bekommen, als deren so viel als möglich zu bekommen. Wenn der Vater und die Mutter einander recht lieben, wenn sie die Natur nicht hintergehen, wenn sie eine gesunde, ehrbare Lebensweise führen, unbekümmert um die unsinnigen Sitten der Welt, wie sollen ihnen da nicht prächtige Kinder gelingen, da sie so viel Liebe auf deren Herstellung verwenden? Und der wackere Mann lachte behaglich.

Mathieu war aus dem Zimmer geeilt und rief über die Treppe hinab:

»Ein Junge!«

»Gut!« antwortete von unten Beauchêne in lustigem Tone, »das macht nun vier, ohne das Mädchen. Meine Gratulation! Ich eile nun, Constance zu benachrichtigen.«

Ah, dieses Zimmer des Kampfes und Sieges, in welches Mathieu nun triumphierend zurückkehrte! Die junge Mutter war noch erschöpft von den überstandenen Leiden, aber welche heilige Leiden, diese Leiden des ewig arbeitenden Lebens! Und wie belohnt von unendlicher Hoffnung, von Zuversicht auf die Zukunft war sie nun, erfüllt von der köstlichen Freude, dem siegreichen Stolze, geboren zu haben! Mochte der Tod immerhin sein notwendiges Werk tun, mochte das schlecht besäte, schlechte betreute Feld immerhin durch die Vernichtung der Keime gelichtet werden, die Halme werden doch immer dichter emporwachsen, dank der göttlichen Verschwendung der Liebenden, die von der Begierde, der Schöpferkraft der Welt entflammt werden. Und unaufhörlich vollzieht sich die Ausfüllung der Lücken, das Leben loht an allen Ecken wieder empor, wie eine nicht zu unterdrückende Feuersbrunst, wuchert auf der einen Seite, wenn die Sense über die andre hingemäht hat, blühte eben jetzt in diesem Zimmer der Gesundheit und der Liebe wieder auf, wie zum Ersatz für andre, heimliche und schuldbeladene Schwangerschaften, für andre, schreckliche und verbrecherische Entbindungen. Ein einziges Wesen, das zur Welt kam, dieses arme, nackte Wesen mit der schwachen Stimme, bildete einen unermeßlichen Schatz vermehrten Lebens, die Versicherung der Zukunft. Und ebenso wie am Abende der Empfängnis die lieberfüllte Frühlingsnacht mit ihrem Dufte hereingekommen war, damit die ganze Natur an der fruchtbaren Umarmung teilnehme, so stammte heute, am Tage der Geburt, die Sonne in ihrer ganzen Pracht herein, Leben zeugend, jubelnd den Sang des ewigen Entstehens durch die ewige Liebe.


 << zurück weiter >>