Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5

Die Neumondnacht war mit Sternen besät, so funkelnd und so klar, daß man die Linien der Landschaft erkennen konnte, die sich unter dem weichen bläulichen Lichte ins Endlose dehnte. Und seit zwanzig Minuten nach elf Uhr befand sich Marianne auf der kleinen Brücke der Yeuse auf dem halben Wege zwischen Chantebled, dem Pavillon, den die Familie bewohnte, und dem Bahnhof von Janville. Die Kinder schliefen, sie hatte Zoë, ein Bauernmädchen, die ihr half, bei ihnen zurückgelassen, strickend neben einer Lampe, deren Schein gleich einem hellen Stern von der dunkeln Linie des Waldes herüberschimmerte.

Allabendlich, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, kam Marianne so bis an die Brücke, Mathieu entgegen, wenn er mit dem Sieben-Uhr-Zuge heimkehrte. Manchmal nahm sie ihre beiden Aeltesten, die Zwillinge, mit, ob auch ihre kleinen Füße auf dem Rückwege schwer wurden, wenn es hieß, den Kilometer, den sie im Herkommen schon zurückgelegt hatten, nun heimwärts die ziemliche Steigung hinauf wieder zu durchmessen. Und diesen Abend hatte sie, trotz der späten Stunde, der süßen Gewohnheit nachgegeben, der Freude, so durch die köstliche Nacht dem Manne entgegenzugehen, den sie vergötterte. Nie überschritt sie die Brücke, die sich rundrückig über dem Flüßchen wölbte. Sie setzte sich auf die breite und niedrige Brüstung, die einer ländlichen Bank glich; von da aus übersah sie die ganze Ebene bis zu den Häusern von Janville, vor welchen der Schienenstrang sich hinzog, so daß sie schon von weitem den erwarteten Geliebten auf dem Pfade, der sich durch die Felder schlängelte, herankommen sah.

Auch heute setzte sie sich, unter dem weit ausgespannten, dunkelsamtenen, von Sternen funkelnden Himmel, auf den gewohnten Platz. Mit einer Bewegung der Sehnsucht hatte sie sich gegen das kleine helle Licht herumgewendet, das vom Rande des dunkeln Waldes dort herüberglänzte, von dem stillen Frieden des Zimmers sprach, in dem es brannte, der ruhigen Wacht der treuen Dienerin, dem sicheren Schlaf der Kinder in dem benachbarten Räume. Dann ließ sie die Augen herumschweifen, umfaßte mit einem Blick den weiten Horizont, diesen ganzen großen Besitz, der den Séguin gehörte. Das ehemalige Jagdrendezvous, der baufällige Pavillon, befand sich am äußersten Rande der großen Wälder, deren von Heiden durchschnittene Massen ein weites Plateau bedeckten, bis zu den entfernten Bauernhäusern von Mareuil und Lillebonne. Und das war noch nicht alles, mehr als hundert Hektar erstreckten sich noch im Westen des Plateaus, Sumpfflächen, stagnierende Wasser inmitten von Gestrüpp, weites unkultiviertes Land, wo man im Winter Wildenten jagte, während ein dritter Teil der Domäne, Hektare und Hektare ebenfalls unbebauten Landes, bestehend aus Sand- und Steinflächen, in sanfter Neigung sich bis an den Bahndamm senkte. Es war ein unproduktives Stück Erde, wo die wenigen Flecken fruchtbaren Bodens, von Wüsteneien umklammert, unbebaut blieben, eine weit ausgedehnte Jagdpachtung, um deren Anteilscheine man sich eifrig bewarb. Aber das gab der Gegend eine wunderbare Einsamkeit, eine köstliche Wildheit, dazu angetan, gesunde Seelen, die die freie Natur lieben, zu entzücken, und nichts konnte erhebender und besänftigender wirken als dieser weite, stille, duftende Frieden unter der milden, sternenklaren Nacht.

Marianne, die bereits die Waldpfade weit verfolgt, die Gebüschflächen rings um die Sümpfe durchstreift hatte, die kieselbestreuten Hänge hinabgeschritten war, verlor sich im Hinausschauen auf diese Umgebung, deren oft besuchte Lieblingspunkte sie im Geiste auffinden konnte, wenn auch der tiefe Schatten der Nacht sie verbarg. Eine Eule sandte aus der Tiefe des Waldes ihren leichten regelmäßigen Schrei, während von rechts aus einem fernen Sumpfe Froschquaken herüberkam, so verloren, daß es die Luft nur mit einem schwachen Vibrieren erfüllte. Und von der andern Seite, gegen Paris zu, war nichts hörbar als ein dumpfes Brummen, welches sich steigerte und allmählich alle Geräusche der Nacht verschlang. Sie hatte es schon vernommen, und sie hörte bald nichts mehr als dieses. Es war der Eisenbahnzug, dessen Geräusch, auf welches sie jeden Abend horchte, ihr wohlbekannt war. Sobald er die Station Monval in der Richtung gegen Janville verließ, begann man sein Rollen zu vernehmen, aber noch so schwach, daß man eines geübten Ohres bedurfte, um es aus den mannigfachen andern Geräuschen ringsum herauszufinden. Sie aber hörte es sogleich, hielt es von da ab fest, verfolgte die ganze Fahrt, jede Biegung der Linie. Und nie hatte sie ihm besser zu folgen vermocht als heute, in der großen Stille der herrlichen Nacht, in dem Frieden des Schlafes der Erde. Der Zug hatte Monval verlassen, er war nun bei den Ziegeleien, fuhr nun an Saint-Georges vorbei; noch zwei Minuten und er würde in Janville sein. Plötzlich erschien, nach den Pappeln von Mesnil-Rouge, das Weiße Licht des Zuges, über den Boden hingleitend, während der mächtige Atem der Lokomotive immer lauter hörbar wurde, wie der eines laufenden, sich nähernden Riesen. Nach dieser Richtung erstreckte sich die Ebene dunkel, endlos, ins Unbekannte hinaus unter dem sternflimmernden Himmel, welchen ganz unten am Horizont ein roter Glutschein anstrahlte, der Lichtreflex des nächtlichen Paris, welches in der Finsternis gleich dem Krater eines Vulkans brannte und dampfte.

Sie war aufgestanden. Der Zug hielt, er war in Janville; dann begann das Rollen wieder, nahm ab, verlor sich gegen Vieux-Bourg hin. Sie hörte aber jetzt nicht mehr darauf, sie hatte nur noch Augen und Ohren für den Weg, dessen helles Band sie inmitten der Felder, deren grüne Flächen jetzt schwarz lagen, unterscheiden konnte. Ihr Mann brauchte kaum zehn Minuten, um den Kilometer zurückzulegen, der zwischen dem Bahnhof und der kleinen Brücke lag. Und jetzt sah sie ihn auch schon aus der Ferne herankommen; aber diesmal vernahm sie in der tiefen Stille der Nacht seinen Schritt auf dem festen, tönenden Boden, noch ehe sie die dünne schwarze Linie sah, die seine Gestalt auf den schwacherhellten Weg zeichnete. Und so fand er sie, ihn unter den Sternen erwartend, lächelnd, gesund, kraftvoll, mit ihrer biegsamen Taille auf den starken Hüften, ihrer kleinen, festen mütterlichen Brust. Die milchige Weiße ihrer Haut wurde noch gehoben durch ihre herrlichen braunen Haare, die sie in einem einfachen mächtigen Knoten, der ihren runden Nacken freiließ, aufgestellt trug, durch ihre großen schwarzen Augen, erfüllt von der Zärtlichkeit der Geliebten und Mutter, von dem heiligen Frieden einer segenspendenden fruchtbaren Göttin. Ihre breite Stirn, ihre Nase, ihr Mund, ihr schönmodelliertes Kinn, ihre reifen Früchten gleichenden Wangen, ihre reizenden kleinen Ohren, dieses ganze Antlitz der Liebe und Güte atmete gesunde Schönheit, die Heiterkeit erfüllter Pflichten, die frohe Sicherheit, recht zu leben in der Liebe zum Leben.

»Wie? Du bist hierhergekommen?« rief Mathieu. »Ich habe dich doch gebeten, nicht mehr so spät fortzugehen. Fürchtest du dich denn nicht, allein auf dem einsamen Wege?«

Sie lachte.

»Fürchten, wenn die Nacht so mild, so köstlich ist? Und willst du denn nicht, daß ich dir entgegengehe, um dich zehn Minuten früher zu umarmen?«

Er wurde von diesen einfachen Worten zu Tränen gerührt. All das Verwirrende, Schändliche, das er in Paris durchgemacht, erschien ihm nun grauenhaft. Er nahm sie zärtlich in seine Arme, und sie tauschten den innigsten, den menschlichsten der Küsse inmitten des tiefen Friedens der schlummernden Landschaft. Nach dem glühenden Pflaster von Paris, erhitzt von dem erbitterten Kampf des Tages, von der unfruchtbaren und unsauberen Brunst der grell erleuchteten Nacht, welche köstliche Ruhe in diesem weiten Schweigen, diesem weichen bläulichen Dunkel, diesen endlos hingegossenen Ebenen, die sich an der Nacht erfrischten und von der Fruchtbarkeit des sonnenbeschienenen Tages träumten! Und welche Gesundheit, welche reinigende Kraft, welche Beglückung strömte diese stets gebärende Natur aus, die unter dem nächtlichen Tau nur entschlummert, um triumphierend wieder zu erwachen, unaufhörlich verjüngt durch den Strom des Lebens, der bis durch den Staub der Wege dringt.

Mathieu hatte Marianne wieder sich auf die breite, niedere Brüstung der kleinen Brücke niedersetzen lassen. Er hielt sie an seine Brust gedrückt, es war ein zärtliches Verweilen, dem sich beide nicht entziehen konnten, angesichts der stillen Aufforderung, die aus den Sternen, den Wassern, den Wäldern und den endlosen Ebenen zu ihnen sprach.

»Mein Gott!« murmelte er, »welch herrliche Nacht! Wie wohl tut es, in ihr zu atmen!«

Nach einem kurzen, beseligten Schweigen, in welchem beide ihre Herzen schlagen hörten, erzählte er die Ereignisse des Tages. Sie befragte ihn mit liebevollem Interesse, und er antwortete, glücklich, daß er nicht zu lügen hatte.

»Nein, die Beauchêne können nicht auf einen Sonntag herkommen. Du weißt, daß Constance uns nie sehr gernhatte. Ihr kleiner Maurice leidet an den Beinen; Doktor Boutan war da, und man hat wieder über die Kinderfrage gesprochen. Ich werde dir davon erzählen. Dafür werden die Morange kommen. Du hast keine Vorstellung, welches Vergnügen es ihnen machte, mir ihre neue Wohnung zu zeigen. Ich fürchte nur sehr, daß diese braven Leute in ihrer Sucht, reich zu werden, irgendeine große Dummheit begehen. – Ah, ich vergaß! Ich war beim Hauseigentümer und habe ihn, nicht ohne Mühe, dazu gebracht, daß er das Dach erneuern läßt. Was für ein Haus auch, das der Séguin! Ich habe es mit Bestürzung verlassen. Ich werde dir das mit dem andern später erzählen.«

Sie war übrigens frei von schwatzhafter Neugierde, erwartete ruhig, daß er sich freiwillig mitteile, bekümmerte sich nur um ihn, sich selbst und die Kinder.

»Du hast dein Gehalt bekommen, ja?«

»Ja, sei ruhig.«

»Oh, ich bin ruhig; es ist nur wegen der kleinen Schulden, die mir unangenehm sind.«

Dann fragte sie weiter:

»Und das geschäftliche Diner ist angenehm verlaufen? Ich fürchtete, Beauchêne würde dich zurückhalten und du würdest den Zug versäumen.«

Er fühlte, daß er errötete, sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, während er erwiderte, daß alles gut verlaufen sei. Um abzubrechen, sagte er mit plötzlicher Lustigkeit:

»Nun, und du, Liebste, was hast du mit deinen dreißig Sous Großes angestellt?«

»Meine dreißig Sous!« antwortete sie fröhlich. »Ich war ja viel zu reich, wir haben alle wie die Prinzen gelebt, und ich habe noch sechs Sous.«

Dann beschrieb sie ihm ihre Erlebnisse, ihr alltägliches kristallhelles Leben, was sie getan hatte, was sie gesagt hatte, wie die Kinder sich aufgeführt hatten, die kleinsten Einzelheiten in bezug auf sie und das Haus. Alle Tage glichen sich übrigens, sie schickte sich jeden Morgen mit derselben Fröhlichkeit an, sie wieder durchzuleben.

»Heute haben wir übrigens einen Besuch gehabt. Madame Lepailleur, die Frau aus der Mühle drüben, ist gekommen, um mir zu sagen, daß sie schöne Hühner zu verkaufen habe. Da wir ihr zwölf Franken für Eier und Milch schulden, so glaube ich wohl, daß sie nur kam, um zu sehen, ob ich nicht bezahlen will. Ich gab ihr zu verstehen, daß ich morgen zu ihr kommen werde.«

Sie hatte auf ein großes schwarzes Gebäude gewiesen, das flußabwärts an der Yeuse lag. Dies war die Mühle, wie man sie einfach in Janville nannte, eine alte Wassermühle, die noch in Betrieb war. Seit drei Generationen war sie im Besitz der Lepailleur. Der letzte, François, ein Junge, der sich etwas Besseres zu sein dünkte, hatte vom Militärdienst den Widerwillen gegen die Arbeit mitgebracht, die Überzeugung, daß er durch diese Mühle niemals reich werden würde, so wenig wie sein Vater und Großvater daran reich geworden waren. Er hatte daher den Plan gefaßt, die älteste Tochter eines Bauern, Victoire Cornu, zu heiraten, die ihm einige in der Nähe an der Yeuse gelegene Felder als Mitgift brachte, so daß das Ehepaar nun verhältnismäßig in guten Umständen lebte von dem Ertrag dieser Felder und von dem wenigen Korn, das die Bauern noch nach der alten Mühle brachten. Sie hätten ohne Zweifel zum Wohlstand gelangen können, wenn der veraltete, schlecht in Stand gehaltene Mechanismus durch ein neues System ersetzt worden wäre und wenn die Felder, anstatt in hergebrachter Weise rücksichtslos ausgesogen zu werden, in die Hände eines intelligenten und modern gebildeten Mannes geraten wären. Aber Lepailleur fügte zur Verachtung der Arbeit die Abneigung gegen den Boden. Er war der Bauer, welcher der ewigen Gebieterin müde geworden, die seine Väter zu sehr geliebt haben, um sie schließlich zu verwünschen, weil sie sich weigert, alle die entsetzlichen Anstrengungen, die sie sie gekostet hat, mit Reichtum und Glück zu vergelten. Er glaubte nicht mehr an sie, er klagte sie wütend an, daß sie nicht mehr ertragfähig sei, verbraucht, störrig, gleich den alten Kühen, die man zur Schlachtbank sendet. Und es war seiner Ansicht nach der allgemeine Bankrott, der Bankrott des Bodens, der das Saatkorn verschlang, des Himmels, der in Anarchie verfallen war, der Jahreszeiten, die aus ihrer natürlichen Ordnung geraten waren, mit einem Worte, das allgemeine Unheil, von irgendeiner bösen Macht ausgedacht und ins Werk gesetzt gegen die Bauern, die dumm genug waren, der Rabenmutter noch immer nutzlos ihren Schweiß und ihr Blut hinzugeben.

»Denke dir nur,« fuhr Marianne fort, »diese Lepailleur war mit ihrem kleinen Antonin da, einem Menschlein von drei Jahren, und als ich sie fragte, wann denn die andern kämen, hat sie heftig protestiert und gesagt, daß die andern dort bleiben werden, wo sie sind. Eine junge Frau, die kaum mehr als vierundzwanzig Jahre zählt, und deren Mann noch nicht siebenundzwanzig ist! Sind also auch schon die Bauern da angelangt? Ich glaubte, sie hielten es noch mit der alten Mode, so viel Kinder zu erzeugen als man kann.«

Diese Worte erweckten alle die Gedanken und Grübeleien wieder, die Mathieu beschäftigten. Er schwieg einen Augenblick.

»Sie hat dir ohne Zweifel ihre Gründe gesagt.«

»Oh, die mit ihrem großen Kopfe, ihrem langen, sommersprossigen Gesichte, ihren wässerigen Augen und dünnen, geizigen Lippen, die halte ich nur für ein einfältiges Weib, die vor ihrem Manne ungeheuern Respekt hat, weil er in Afrika Soldat gewesen ist und Zeitungen liest. Ich habe aus ihr nichts herausbringen können als den eigensinnigen Ausspruch: ›Die Kinder, das kostet mehr als es trägt.‹ Aber der Mann hat zweifellos seine eignen Ideen. Du kennst ihn ja? Den großen Menschen, rot und mager wie seine Frau, mit eckigem Gesicht, grünen Augen und vorstehenden Backenknochen. Er sieht aus wie einer, der nie aus der Wut herauskommt. Und ich glaube, daß er deswegen keine Kinder mehr haben will, weil er hauptsächlich seinem Schwiegervater den Vorwurf macht, drei Töchter und einen Sohn zu haben, was das Erbteil seiner Frau stark beschnitten hat. Und da die Müllerei seinen Vater nicht reich gemacht hat, schimpft er auf seine Mühle vom Morgen bis zum Abend, wiederholt immer, daß er nicht derjenige sein werde, der seinen Antonin verhindert, nach Paris zu gehen und Weißbrot zu essen, wenn er dort einen guten Platz finden kann.«

So fand Mathieu hier, unter dem Landvolke, dieselben Gründe wieder, die die Familie begrenzten, wie bei den Beauchêne und den Morange: die Furcht vor der Teilung des Erbes, das Verlangen, um eine Klasse zu steigen, Erbitterung gegen die Handarbeit, die Sucht nach dem Luxus der Stadt. Da die Erde Bankrott machte, warum sich plagen, um sie mit magerem Ertrage zu bebauen, mit der Sicherheit, daß man nie reich werden würde? Er war im Begriffe, diese Dinge seiner Frau zu erklären, begnügte sich aber schließlich, zu sagen:

»Er hat unrecht, sich zu beklagen; er hat zwei Kühe, ein Pferd, und wenn die Arbeit drängt, kann er sich einen Gehilfen nehmen. Wir hatten heute morgen dreißig Sous und keine Mühle und nicht das kleinste Stückchen Feld. Ich finde seine Mühle prächtig, und ich beneide ihn darum, so oft ich über diese Brücke gehe. Stelle dir uns als Müller und Müllerin vor, wie wären wir reich und glücklich!«

Sie lachten beide. Einen Augenblick blieben sie noch sitzen und betrachteten die dunkle Masse der Mühle am Ufer der Yeuse. Der kleine Fluß atmete unendlichen Frieden, wie er zwischen den Weiden und Pappeln der Ufer hinfloß, sanft murmelnd unter den Wasserpflanzen, die Streifen in seine glänzende Oberfläche zogen. Inmitten einer Gruppe von Eichen sah man den großen Schuppen, der das Rad überdachte, das angrenzende Wohnhaus, um das sich Efeu, Geißblatt und wilder Wein rankten, ein Bild voll romantischer Poesie. Und besonders des Nachts, wenn die Mühle schlief, ohne Licht, gab es nichts, was stimmungsvoller und träumerischer gewesen wäre.

»Horch!« sagte Mathieu leise, »dort ist jemand, unter den Weiden am Ufer. Ich habe ein Geräusch gehört.«

»Oh, ich weiß,« sagte Marianne mit leichter Heiterkeit. »Das muß das junge Paar sein, das sich da vor etwa vierzehn Tagen in dem kleinen Häuschen eingenistet hat. Du weißt ja, Madame Angelin, die Pensionatsfreundin Constances.«

Diese Angelin, die ihre Nachbarn geworden waren, interessierten sie: sie, gleichen Alters mit Marianne, eine große Brünette mit schönen Haaren und schönen Augen, mit dem Ausdruck fortwährender Freude im Gesicht, den Müßiggang und den Genuß liebend; er, ein schöner, leidenschaftlich verliebter Mann, gleichen Alters mit Mathieu, von der freien Lustigkeit eines Musketiers, mit aufgewirbeltem Schnurrbart. Sie hatten sich in einem Aufbrausen der Leidenschaft geheiratet, besaßen zusammen zehntausend Franken Rente, welche er, der sehr hübsch Fächer zu malen verstand, hätte verdoppeln können, hätte ihn nicht die Liebe zu seiner Frau in verliebte Schlaffheit versinken lassen. Sie waren diesen Frühling hierhergekommen, hatten sich in die Einsamkeit von Janville geflüchtet, um sich hier ungestört, leidenschaftlich inmitten der freien Natur zu lieben. Man begegnete ihnen immerfort auf den Waldwegen, wie sie einander umschlungen hielten, versteckte Winkel, lauschige Ruheplätzchen suchten. Besonders des Nachts gingen sie so miteinander durch die Felder, hinter den Hecken, die dunkeln Ufer der Yeuse entlang, und verweilten gerne bis zu sehr später Stunde an dem murmelnden Wasser, in dem schwarzen Schatten der Weiden.

»Auch eine, die kein Kind will,« fuhr Marianne fort. »Sie hat mir neulich gesagt, daß sie entschlossen ist, vor dreißig Jahren keines zu haben, um sich noch eine Weile mit ihrem Manne des Lebens freuen zu können, ohne sich gleich mit einer Mutterschaft zu belasten, die ihr zu viel Zeit wegnehmen würde. Und er ist, wie es scheint, noch leidenschaftlicher in dem Wunsche, sie bis zu diesem Alter für sich allein zu haben, denn er fürchtet den Gedanken, daß ihr Körper formlos würde, daß sie während der Schwangerschaft und des Säugens nicht seine Geliebte sein könnte. Mit dreißig Jahren werden sie einen Buben in die Welt setzen, schön wie der Tag.«

Und da Mathieu, wieder ernst geworden, noch immer schwieg, fügte sie einfach hinzu:

»Wenn sie können.«

Er verfiel wieder in Sinnen. Konnte man je sagen, wo die Klugheit lag? War sie nicht köstlich, diese Liebe nur um der Liebe willen, inmitten der schönen Natur? Er erinnerte sich an den Vorsatz, den er in Paris gefaßt hatte, kein Kind mehr zu haben.

»Bah!« sagte er endlich, »ein jeder lebt nach seinem Gefallen. Wir stören sie, gehen wir schlafen.«

Sie wandten sich langsam heimwärts, stiegen den schmalen Pfad hinan, der nach Chantebled führte. Vor sich sahen sie, wie das entfernte Blinken eines Leuchtturms, die Lampe, die in einem Fenster des Pavillons brannte, ein kleines ruhiges Licht inmitten der schwarzen Massen des Waldes. Und sie sprachen nicht mehr, umhüllt von dem großen Schweigen der Nacht, während sie dem friedlichen Dache zuschritten, unter welchem ihre Kinder schliefen.

Nachdem sie eingetreten waren, verriegelte Mathieu die Tür; dann gingen sie auf den Zehenspitzen hinauf, so viel als möglich jedes Geräusch vermeidend. Im Erdgeschoß befanden sich, rechts vom Flur, ein Salon und ein Speisezimmer, links die Küche und eine Remise. Im ersten Stock befanden sich vier Zimmer. Ihr sehr bescheidenes Mobiliar, das sie aus Paris mitgebracht hatten, verlor sich in den zu großen Räumen. Aber sie besaßen keinerlei Eitelkeit, sie lachten darüber; ihr einziger Luxus bestand darin, daß sie an den Fenstern kleine rote Vorhänge anbrachten, deren leuchtender Reflex ihnen die Zimmer ungemein zu verschönen schien.

»Zoë ist sicher eingeschlafen,« sagte Marianne, da sie nicht das geringste Geräusch vernahmen.

Und in der Tat, das Bauernmädchen, das sich im Schlafzimmer der Gatten zum Stricken an die Lampe gesetzt hatte, damit das Licht die Kinder nicht störe, deren Betten im Nebenzimmer standen, schlief fest, ihr Kopf war auf ihre Arbeit gesunken. Und der Friede tiefen Schlafes kam auch aus dem andern Zimmer, dessen Tür weit offen stand.

Sie mußten Zoë aufwecken, ihre Entschuldigungen unterdrücken, sie, die schlaftrunken und betäubt war, zu Bette senden, indem sie ihr empfahlen, nicht zu viel Lärm zu machen. Schon hatte Mathieu die Lampe genommen und war ins Zimmer der Kinder gegangen, um sie zu sehen und zu küssen. Sie erwachten selten dabei. Er stellte die Lampe auf den Kaminsims und betrachtete die drei kleinen Betten, als Marianne sich ihm zugesellte. In dem Bette an der rückwärtigen Wand befanden sich Blaise und Denis, die Zwillinge, kräftige Jungen von sechs Jahren, die meist einer in des andern Armen schliefen. In dem Bett an der andern Wand schlief Ambroise allein, der nun bald vier Jahre alt war, ein Cherub von seltener Schönheit. Und die kleinen weißen Glieder Mademoiselle Roses, fünfzehn Monate alt, seit drei Wochen entwöhnt, blühten in dem dritten Bette, einer Wiege, in welcher sie halb nackt lag. Die Mutter mußte sie wieder zudecken, so hatte sie die Decke mit ihren kleinen Füßen hinabgestampft. Zu gleicher Zeit beschäftigte sich der Vater mit dem Polster Ambroises, das herabgeglitten war. Beide gingen mit leisen, zärtlichen Bewegungen zwischen den kleinen Betten hin und her, beugten sich wieder und wieder über die schlafenden rosigen Gesichtchen, um sich zu überzeugen, daß sie ruhig waren, daß sie süß träumten. Sie küßten sie, verweilten noch, in der Meinung, daß Blaise und Denis sich gerührt hätten. Endlich nahm die Mutter die Lampe wieder auf, und sie verließen das Zimmer auf den Fußspitzen, die Tür offen lassend.

Als Marianne in ihrem Zimmer die Lampe wieder auf den Tisch gestellt hatte, sagte sie wieder mit ihrer gewöhnlichen Stimme:

»Ich wollte dich nicht beunruhigen, indem ich es dir sagte, ehe wir zu Hause waren: Rose hat mir heute einige Sorge gemacht, ich habe sie nicht wohl gefunden, und ich habe mich erst am Abend wieder beruhigt.«

Und da sie das Erbleichen Mathieus, sein erschrecktes Auffahren sah:

»Oh, es ist nichts, ich wäre nicht fortgegangen, wenn ich noch die geringste Befürchtung gehabt hätte. Aber mit diesen kleinen Wesen ist man nie ruhig ... Geh nun schlafen, es ist Mitternacht vorüber.«

Sie begann sich langsam auszukleiden, ohne sich um das offene Fenster zu bekümmern, durch welches keine andern Augen sie sehen konnten als die der Millionen Sterne, die über den unendlichen Dom des Himmels gestreut waren. Nachdem sie ihr Kleid, ihren Rock und ihr Mieder abgelegt hatte, stellte sie sich einen Augenblick vor den Spiegel, um ihr Haar für die Nacht zu ordnen. Sie löste ihre Frisur auf und ließ den schweren Strang ihrer Haare herabfallen, der ihr bis zu den Knien reichte.

Mathieu schien sie nicht gehört zu haben. Anstatt sich gleich ihr zu entkleiden, hatte er sich an den Tisch gesetzt. Er leerte seine Taschen und zog das Notizbuch heraus, in welches er die drei Noten zu hundert Franken gelegt hatte, die ihm heute als sein Gehalt ausbezahlt worden waren. Nachdem er sie gezählt, sagte er mit ein wenig bitterem Scherz:

»Es sind wirklich nur drei, sie haben auf dem Wege keine Jungen bekommen ... Hier, ich lege sie in dieses Kuvert, du wirst morgen wechseln lassen, wenn du unsre Schulden bezahlst.«

Dies brachte ihn auf einen Gedanken. Er nahm sein Taschenbuch und einen Bleistift. »Du sagst also, zwölf Franken für Milch und Eier an die Lepailleur. Wieviel bist du dem Fleischer schuldig?«

Vor ihm sitzend zog sie ihre Strümpfe aus.

»Dem Fleischer, sagen wir zwanzig Franken.«

»Und dem Gewürzkrämer, dem Bäcker?«

»Ich weiß es nicht genau, sagen wir dreißig Franken. Das ist aber auch alles.«

Er rechnete zusammen.

»Das macht zweiundsechzig Franken; von dreihundert abgezogen, bleiben zweihundertachtunddreißig Franken. Knapp acht Franken täglich. Da sind wir ja hübsch reich, wir werden einen netten Monat haben, mit vier Kindern zu ernähren, besonders wenn unsre Rose krank wird!«

Sie war nun im Hemd, und vor ihm stehend, ihre wohlgeformten kleinen nackten Füße auf dem Teppich, ihre Arme mit einer reizenden einladenden Bewegung gegen ihn ausgestreckt, sah sie ihn an in der sieghaften Schönheit einer fruchtbaren, gesunden, blühenden Frau. Erstaunt, ihn so reden zu hören, lachte sie in froher Zuversicht.

»Was hast du heute, mein Schatz? Du ergehst dich in verzweifelten Berechnungen, du, der du sonst immer den nächsten Tag wie ein Wunder erwartetest, in der Sicherheit, daß es genügt, das Leben zu lieben, um glücklich zu leben. Du weißt, daß ich für meinen Teil keine reichere und zufriedenere Frau kenne, als ich bin. Komm schlafen, das Glück wartet nur, daß du die Lampe auslöschst, um einzutreten.«

Mit einem leichten Satz sprang sie munter ins Bett; dann blieb sie, den Kopf hoch auf den Polstern, die Arme außerhalb der Decke, in derselben Haltung zärtlichen Appells. Aber er schüttelte traurig den Kopf, begann in einem Strom langsamer Worte den Tag wieder zu durchleben und zu durchdenken.

»Nein, siehst du, Liebste, das fängt an, mir Herzweh zu machen, wenn ich hierher in unsre Aermlichkeit zurückkehre, nachdem ich bei den andern so viel Reichtum und Ueberfluß gesehen habe. Du weißt, wie wenig neidisch ich bin, wie wenig ehrgeizig, ohne jede Begierde, mich zu erheben oder zu bereichern. Aber was willst du? Es kommen Stunden, wo ich um euretwillen leide, ja, deinetwegen und der Kinder wegen, wo ich für euch ein Vermögen erwerben, euch wenigstens vor der drohenden Not schützen möchte. Diese Beauchêne mit ihrer Fabrik, ihrem kleinen Maurice, den sie wie einen Prinzen aufziehen, lassen es mich nur zu schneidend empfinden, daß wir nahezu Hunger leiden, wir beide mit unsern vier Kindern. Und diese armen Morange, die davon sprechen, ihrer Tochter eine fürstliche Mitgift zu geben, auch sie triumphieren inmitten des falschen Luxus ihrer neuen Einrichtung, träumen von einer Stellung von zwölftausend Franken und sehen mit freundschaftlicher Geringschätzung auf uns herab. Und erst unsre Hauseigentümer, diese Séguin, wenn du gesehen hättest, wie sie ihre Millionen, ihr Palais, das mit Schätzen überfüllt ist, vor mir zur Schau stellten, mich mitleidig und geringschätzig anblickten, weil ich eine so zahlreiche Familie habe, sie, deren Klugheit sich auf einen Knaben und ein Mädchen zu beschränken weiß! Und selbst diese Lepailleur, die aus ihrer Mühle spöttisch und mißtrauisch auf uns sehen – denn sei überzeugt, wenn diese Frau mit ihrem Antonin gekommen ist, um dir zu sagen, daß sie nie wieder ein Kind haben wird, so bedeutet das, daß die Tatsache, daß wir vier haben, ihr die Furcht einflößt, ihr Geld nicht zu bekommen ... Ach, es ist offenbar, wir werden nie eine Fabrik, noch ein Palais, noch selbst eine Mühle haben, ebensowenig wie ich je zwölftausend Franken verdienen werde. Die andern haben alles, und wir haben nichts, das ist eine Wahrheit, die in die Augen springt. Und ich würde wie du, Liebste, aller Unbill des Schicksals ein frohes Herz entgegensetzen, würde alles mit Geduld und selbst mit Heiterkeit hinnehmen, wenn mich nicht der Vorwurf beunruhigte, daß wir selbst schuld sind an unsrer wachsenden Not! Ja, ja, gewiß, wir machen uns der Unklugheit, des Mangels an Voraussicht schuldig!«

Während er sprach, gab sie Zeichen wachsenden Erstaunens. Sie hatte sich aufgerichtet, ihre weiße, feste Nacktheit schimmerte aus ihrem Hemd hervor auf dem Hintergrunde ihrer reichen Haare, in ihrem Gesichte glänzten ihre großen, weitgeöffneten Augen.

»Aber was hast du, was hast du denn heute, Liebster?« wiederholte sie. »Du, sonst so gut, so einfach, so glücklich in unsrer Mittelmäßigkeit, der niemals von Geld redet, du sprichst heute wie mein Cousin Beauchêne. Komm, du hast wohl einen schlechten Tag in Paris verbracht, komm schlafen, vergiß deine Sorgen!« Er erhob sich endlich und begann sich zu entkleiden, immer noch seine Gedanken weiter verfolgend.

»Freilich werde ich schlafen gehen. Das hindert aber nicht, daß wir hier in einer baufälligen Hütte wohnen, und daß, wenn es heute regnen würde, die Kinder wieder naß würden. Wie sollte ich umhin können, Vergleiche anzustellen? Unsre armen Kinder! Ich bin ein Vater wie ein andrer, ich möchte sie gerne so glücklich sehen!«

Er war im Begriffe, sich zu Bette zu begeben, als ein klagender Ton, den er im Nebenzimmer zu hören glaubte, ihn auf halbem Wege innehalten ließ. Nachdem er einen Augenblick gehorcht hatte, nahm er, von Unruhe ergriffen, die Lampe, um nochmals nach den Kleinen zu sehen. Nach einigen Minuten erschien er wieder, schweigend, vorsichtig auftretend, und fand seine Frau im Bette sitzen, den Hals vorgestreckt, horchend, bereit, beim ersten Ruf ihm nachzukommen.

»Es ist nichts,« sagte er leise, als ob die Kinder ihn hören könnten. »Rose hatte sich wieder aufgedeckt. Sie schlafen alle vier wie die Engel.«

Er stellte die Lampe wieder auf den Tisch. »Ich lösche aus, ja?«

Aber da er sich dem Fenster zuwandte, um es zu schließen, sagte sie: »Nein, laß es lieber noch offen. Die Nacht ist so schön und mild! Ehe wir einschlafen, werden wir schließen.«

In der Tat, nichts konnte mit der Schönheit und Weichheit der herrlichen Frühlingsnacht verglichen werden, die mit all ihrem dunkeln Frieden, mit dem einfachen und kräftigen Duft der weiten Landschaft hereinströmte. Nichts war zu hören als der tiefe Atem der in ihrer ewigen Fruchtbarkeit entschlummerten Erde. Aber auch aus dieser Ruhe quoll das Leben, quoll die unaufhörliche, die endlose Liebe, deren zitterndes Verlangen die Gräser, die Bäume, die Wässer, die Felder auch in ihrem Schlaf erbeben macht. Nun, da die Lampe ausgelöscht war, sah man durchs Fenster die brennenden Sterne am Himmel flimmern, dessen Horizont, gerade gegenüber dem Bette der Ehegatten, noch immer von dem Feuer des Pariser Kraters angeglüht wurde.

Mathieu nahm seine Frau zärtlich in seine Arme, und indem er sie an sich drückte, sie an sein Herz legte, in der engen Umarmung, in der er sie so schmiegsam und kräftig fühlte, flüsterte er ihr mit bewegter Stimme ins Ohr: »Geliebte, verstehe wohl, daß ich nur an euch denke, an dich und die Kleinen. Die andern, die reich sind, die alles haben, sind klug genug, sich nicht mit Familie zu beladen, während wir, die Armen, uns Kinder auf den Hals legen, eins nach dem andern, ohne zu rechnen. Wenn man ein wenig darüber nachdenkt, erscheint es einem wahnsinnig, der sträflichste Leichtsinn. So hat die Geburt unsrer kleinen Rose uns ganz und gar den Rest gegeben, uns gezwungen, hierher zu flüchten, denn früher haben wir wenigstens noch unser Auskommen gefunden, haben keine Schulden gehabt ... Wie? Was denkst du darüber?«

Sie rührte sich nicht, löste die Arme nicht, mit denen sie ihn umschlungen hatte. Aber eine unruhige Erwartung hatte die Schläge ihres Herzens verlangsamt.

»Ich denke gar nichts darüber, Lieber. Ich habe an das nie gedacht.«

»Und stelle dir vor,« fuhr er fort, »du würdest wieder schwanger, wir bekämen ein fünftes Kind! Dann hätte man wohl recht, uns zu sagen, daß, wenn wir unglücklich sind, wir es aus eigner Wahl sind! Nun, siehst du, das geht mir im Kopf herum, und ich habe mir heute zugeschworen, daß wir es dabei bewenden lassen wollen, daß wir uns einrichten wollen, daß das fünfte nicht komme. Wie denkst du darüber, Liebling!«

Jetzt löste sie, ohne Zweifel unbewußt, ein wenig die Arme, und er hatte das Gefühl, als erschauere sie; eine Kälte hatte sie überlaufen, sie war nahe am Weinen.

»Ich denke, du wirst wohl recht haben. Was willst du, daß ich dir sage? Du bist Herr, wir werden tun, was du willst.«

Aber es war nicht mehr die Geliebte, die Gattin, die er in den Armen hielt; es war eine andre, die passive Frau, die sich darein ergab, nur mehr dem Genuß zu dienen. Und vor allem hatte er das Gefühl, daß sie nicht begriff, daß sie verwirrt, bestürzt war, sich fragte, warum, aus welchem Grunde er das alles sagte.

»Du kränkst dich doch hoffentlich nicht, Liebste,« sagte er in angenommen scherzhaftem Tone. »Das hindert nicht, sich zu unterhalten, weißt du. Und wir werden in guter Gesellschaft sein, alle Welt befindet sich da, alle die, die ich dir nannte, machen es nicht anders ... Du bleibst deswegen doch meine angebetete kleine Frau.« Er zog sie an sich, umarmte sie inniger, suchte ihre Lippen zu einem Kusse; während sie, bedrückt, in unbewußter Auflehnung des Körpers und des Herzens stammelte: »Ja, gewiß, ich weiß ... Wie es dir gefällt, du hast die Sorge für die Zukunft –«

Und sie brach in Schluchzen aus, sie begrub ihren Kopf an seiner Brust, um die Tränen zurückzudrängen, große Tränen, deren warmes Rieseln er fühlte. Er war bestürzt, seinerseits von dumpfer Seelenangst ergriffen angesichts dieses Kummers, dessen tiefliegende Ursachen sie selbst nicht hätte erklären können. Und er machte sich Vorwürfe, war trostlos.

»Weine nicht, mein liebes Herz. Ich bin ein schlechter Mensch, ein Wüterich, daß ich dir von diesen Dingen spreche, während du mich liebend in deine Arme schließest. Du wirst darüber nachdenken, und wir sprechen ein andres Mal darüber. Sei nicht betrübt, schlafe ruhig ein, da, an meiner Schulter, wie immer, wenn wir uns recht lieb haben.«

Das war tatsächlich ihre Gewohnheit. Er hielt sie so, den Kopf an seiner Schulter, bis die Gleichmäßigkeit ihres Atems ihm sagte, daß sie eingeschlafen sei; dann erst legte er sie sanft auf ihr Kissen.

»So, so ist's gut, schlaf ein. Ich werde dich nicht quälen.«

Sie weinte nicht mehr, sagte nichts, den Kopf an seine Schulter gelehnt, sich dicht an ihn schmiegend. Und er konnte hoffen, daß sie so einschlafen werde, während er mit offenen Augen fortfuhr, nachzudenken, den Blick auf den weiten Himmel gerichtet, an welchem die Sterne flimmerten.

Der Schein, mit dem Paris da unten den Horizont anglühte, erweckte in ihm von neuem die Erinnerung an diesen heißen Abend, der ihn so in Verwirrung gestürzt hatte. Jetzt verließ Beauchêne Norine, kehrte frohgemut zum Ehebette heim. Warum hatte er, in der Beschreibung des Tages, die er Marianne gegeben hatte, es nicht gewagt, ihr von diesem Abenteuer ihres Cousins und Norines zu erzählen? Er fühlte stärker als je dessen unschöne und unanständige Seite. Und gleich einem Ekel überkam ihn die Erinnerung an die Gemeinheit, deren er selbst sich beinahe schuldig gemacht, indem er die Nacht bei Sérafine zugebracht hätte. Dieser Gedanke wurde ihm unerträglich in diesem Bette, neben dieser geliebten Frau, die an seiner Schulter einschlief. War es nicht dieses tolle Gelüste einer Stunde, das ihn gleich einer hitzigen Krankheit überfallen hatte, welches ihn beschmutzt hatte, welches seinen Geist trübte, seinen Körper zerstörte? Er mußte wohl von einem Gifte durchdrungen sein, um sich Gefühlen hinzugeben, Gedanken zu fassen, die er bisher nicht gekannt hatte. Er begann es selbst unbegreiflich zu finden, wie er das hatte seiner Frau sagen können, was er eben gesagt hatte; denn noch gestern hätte ihn der bloße Gedanke, derartiges ihr gegenüber in Worte zu fassen, in Bestürzung versetzt und gelähmt.

Marianne schlief nicht mit ihrem gewöhnlichen zärtlichen Vertrauen ein. Mochte sie auch die Augen schließen und sich nicht rühren, Mathieu fühlte, daß sie verletzt und unglücklich war, noch immer nicht begriff, wie er sie so wenig lieben konnte. Und schon hatte die Sorge um Reichtum und Erfolg ihn verlassen, schon mußte er eine Anstrengung machen, um sich wieder in die Denkart der Beauchêne und Morange hineinzufinden, diesen verzehrenden Ehrgeiz, um eine Stufe höherzusteigen, Reichtümer auf einen Kopf zu sammeln, in Haß und Abscheu gegen die Teilung. Aber die Theorien, die er bei den Séguin vernommen, beherrschten ihn noch immer, denn er konnte die Tatsachen nicht leugnen: die geistig Höchststehenden waren zweifellos die wenigst Fruchtbaren, die Kinder wuchsen nirgends in größerer Zahl hervor als auf dem Kehrichthaufen des Elends. Nur aber war dies eine soziale Erscheinung, die hauptsächlich von dem Zustand der Gesellschaft abhing, in welcher sie zutage trat. Das Elend wird verursacht durch die Ungerechtigkeit der Menschen und nicht durch die Kargheit der Erde, welche die zehnfache Zahl von Bewohnern nähren könnte, an dem Tage, da die große Frage geregelt, die Arbeit, als unentbehrlich für die Gesundheit und die Lebensfreude, auf alle verteilt wäre. Wenn es auch wahr blieb, daß zehntausend Glückliche besser seien als hunderttausend Unglückliche, warum sollten aber jene hunderttausend Unglücklichen, welche, wie man sagte, zu viel waren, nicht daran arbeiten, ihre Lebensverhältnisse zu erweitern, um ebenso glücklich zu werden wie die zehntausend Bevorzugten, deren selbstsüchtiges Wohlbefinden man versichern wollte, indem man die Natur kastrierte? Und es war wie eine Erlösung, wie ein unendlich belebender Hauch, als die Gewißheit ihm wiederkehrte, daß es die Fruchtbarkeit war, die die Zivilisation geschaffen hatte, daß es das Zuviel an Menschen, diese Vermehrung der Armen, die ihrem Anteil am Glücke zustrebten, war, was die Völker Ruck um Ruck emporführte, bis zur Eroberung der Wahrheit und Gerechtigkeit. Es mußte zu viel Menschen geben, damit die Entwicklung sich vollziehe, die Menschheit sich über die Welt ergieße, sie bevölkere, ihr den Frieden gebe, aus ihr all das blühende und segensreiche Leben sprießen lasse, womit sie durchdrungen war. Da die Fruchtbarkeit die Zivilisation schafft, und da diese wieder jene regelt, so war die Voraussicht erlaubt, daß an dem Tage, da die Zeit erfüllt sein wird, da es nur ein Volk auf der vollkommen bewohnten Erde geben wird, sich auch ein endgültiges Gleichgewicht ergeben wird. Aber bis dahin, durch die tausend und tausend Jahre, die dazwischen liegen, war es recht getan, wohl getan, nicht ein Saatkorn zu verlieren, sie alle der Erde anzuvertrauen, wie der Säer, dem die Ernte nie zu viel sein kann, diese Ernte von Menschen, wo jeder Mensch mehr eine Kraft und eine Hoffnung ist.

Das unaufhörliche, undeutliche Murmeln, das Mathieu durch das offene Fenster aus der warmen Frühlingsnacht hereinkommen hörte, war ihm nun nichts andres als das Beben der ewigen Fruchtbarkeit. Er horchte hinaus, er fühlte sich berührt von diesem Beben, wie von dem schwachen Atem Mariannens, die noch immer nicht schlief, unbeweglich an seiner Seite lag, ohne ein andres Lebenszeichen, als diesen leichten Atem, der seinen Hals streifte. Alles keimte, alles sproßte, eröffnete sich dem Leben in dieser Jahreszeit der Liebe. Aus dem unermeßlichen Himmel, aus den flimmernden Sternen strömte das Gesetz der ewigen Begattung, der Trieb, der die Welten regiert. Der weiten Erde, die im Schatten der Nacht lag wie ein Weib im Arm des Gatten, entstiegen die Glückslaute der zeugenden Lust, das leise Murmeln der glücklichen Gewässer, die Milliarden fruchtbarer Eier in sich hielten, der tiefe Atem der Wälder, die von brünstigen Tieren belebt waren, der Bäume, in deren Adern der Saft emporstieg, das Vibrieren der Felder, in denen an Millionen Stellen die keimenden Samen zum Lichte drängten. Und, wie er das häufig gedacht hatte – wieviel verlorene Körner, wieviel verdorrter oder verfaulter Samen, welch unermeßlicher Verlust, den die unerschöpfliche Natur unaufhörlich ersetzt! Aber nie hatte er stärker gefühlt, daß, wenn im Tier, in der Pflanze das Leben gegen den Tod kämpft, mit heißer, unermüdlicher Energie der Mensch allein den Tod will und ihn herbeiführt. In dieser warmen Mailandschaft, die von der fruchtbaren Umarmung aller organischen Wesen vibrierte, gab es nur zwei absichtlich unfruchtbare Liebende, jenes fröhliche und liebenswürdige Mörderpaar, das sich dort unten am Ufer der Yeuse im Schatten der Weiden umarmte, mit den Künsten steriler Leidenschaft, die von Poeten besungen wurde.

Da waren alle Reflexionen, alle Vernunftbeweise bei Mathieu hinweggefegt, und es blieb nichts als die Begierde, die unersättliche und ewige Begierde, welche die Welten erschaffen hat, welche sie fortwährend noch immer schafft, ohne daß weder Empfängnis noch Geburt um eine Sekunde verzögert werden können. Diese Begierde, die ganze Seele des Universums liegt darin, die Kraft, die der Materie Leben einflößt, die aus Atomen einen Geist, eine Macht, eine Souveränität schafft. Und er dachte nicht einmal mehr über die Begierde nach, er war davon ergriffen, weggetragen, als von der unbezwinglichen Macht, welche das Leben befördert und es unsterblich macht. Es genügte, daß der leichte Atem Mariannens ihm den Hals streifte, damit eine Flamme sich allmählich in seinen Adern entfache. Sie lag jedoch noch immer erstarrt, mit geschlossenen Augen, ohne schlafen zu können. Aber trotzdem strömte die triumphierende Begierde aus ihr auf ihn über, aus dem weichen Atlas ihrer Arme und ihrer Brust, dem Dufte ihrer feinen Haut und ihrer schweren Haare. Die Mutterschaft hatte ihr, weit entfernt zerstörend zu wirken, eine blühende Fülle der Formen verliehen, eine gesunde Festigkeit der Glieder, jene reife Schönheit der Mutter, gegen welche die zögernde, unausgesprochene Schönheit der Jungfrau reizlos wird.

Mit einer leidenschaftlichen Umarmung zog Mathieu Marianne wieder an sich.

»Mein süßes Weib, ich war irre an uns geworden. Keiner von uns beiden wird schlafen können, ehe du mir nicht verziehen hast.«

Sie lachte leise, schon getröstet, überließ sich dieser Zärtlichkeit, deren siegreiche Glut sie aufsteigen gefühlt hatte.

»Oh, ich, ich war nicht irre geworden; ich war sicher, daß du mich wieder nehmen wirst.«

Und sie folgten mit einem langen Liebeskusse der Einladung der lieberfüllten, der fruchtbaren Frühlingsnacht, die durch das Fenster hereinströmte mit ihren flimmernden Sternen, mit ihren Wässern, ihren Wäldern, ihren keimenden Feldern. Aller Saft der Erde stieg empor, zeugte Leben im Dunkel der Nacht, strömte lebenstrunkenen Duft aus. Es war das Rieseln der Keime, die unaufhörlich durch die Adern der Welt rinnen. Es war der Begattungsschauer von Milliarden Lebewesen, der allumfassende Paroxysmus der Befruchtung, die notwendige, unausgesetzte Empfängnis des Lebens, das Leben gibt. Und so wollte die ganze Natur wieder einmal, daß noch ein Wesen empfangen werde.

Aber Marianne hatte Mathieu mit einer Bewegung zurückgehalten und sich erhoben, um wieder nach dem Zimmer der Kinder zu horchen.

»Hör einmal!«

Beide horchten vorgebeugt mit angehaltenem Atem.

»Glaubst du, daß sie erwacht sind?«

»Ja, ich glaube etwas gehört zu haben.«

Als jedoch nichts sich rührte, nichts aus dem Nebenzimmer herüberkam als der tiefe Frieden der Unschuld, lachte sie wieder leise und spottete leicht:

»Unsre vier armen unglücklichen Kleinen! Es macht also nichts, du willst das fünfte, noch ein armes unglückliches Kleines?«

Er schloß ihr den Mund mit einem heißen Kusse.

»Still, ich bin ein Tor gewesen. Mögen sie uns mit Geringschätzung und Mitleid ansehen. Du bist es, die recht hat, wir sind die Klugen und die Tapferen.«

Und sie begingen die schöne, die göttliche Unklugheit. In ihrer gegenseitigen Hingabe verblaßten alle niedrigen Berechnungen, es blieb nichts als die siegreiche Liebe, die auf das Leben vertraut, das sie gibt. Wenn sie, eins im Arm des andern, sich Zwang auferlegt hätten, so hätten sie geglaubt, sich nicht mit ganzer Seele zu lieben, etwas von sich zurückzubehalten, sich gegenseitig etwas wegzunehmen. Das lebende Band hätte sich gelockert, er hätte geglaubt, sie als Fremde zu behandeln, so wie sie geglaubt hätte, nicht mehr seine Frau zu sein. Sie aber gaben sich einander ganz, ohne Rückhalt der Seele oder des Körpers, und es war dem Leben überlassen, sein Werk zu tun, wenn es ihm gutdünkte.

Ah, welch köstlicher Genuß, welch himmlische Trunkenheit in dieser vollkommenen, dieser uneingeschränkten Liebe, die zugleich auch die Gesundheit und die Schönheit ist! Es war die Betätigung ihres Glaubens an das Leben, ein Hohelied der Fruchtbarkeit, der segensreichen, unerschöpflichen Welterschafferin. Das Samenkorn ist nun in die Erde gesenkt, in einem Aufschrei trunkenen Glückes: möge es denn keimen und wieder Leben schaffen, Menschheit, Geist und Macht! Die ganze lieberfüllte Mainacht erbebte vor Freude, die Sterne und die Erde teilten die Wonneschauer der Gattin. Ueber dem rasch vorüberstürmenden Genusse bleibt eine ewige, menschliche Freude, die große Tatsache der Empfängnis – ein Wesen mehr, nicht vermehrtes Elend, sondern vermehrte Kraft, vermehrte Wahrheit und Gerechtigkeit.

Und die Empfängnis dieses einen Wesens mehr, dieses ins Leben geworfenen Lebensatoms, ist erhaben und heilig, von unberechenbarer, vielleicht entscheidender Wichtigkeit.


 << zurück weiter >>