Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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3

Eines Donnerstags war Mathieu mittags zum Essen bei Doktor Boutan in der kleinen Wohnung im Halbstock, welche dieser schon seit mehr als zehn Jahren in der Rue de l'Université hinter dem Palais Bourbon innehatte. Dieser leidenschaftliche Apostel der Fruchtbarkeit war, und er lachte selbst über diesen merkwürdigen Widerspruch, unvermählt; er erklärte dies in seiner behaglich scherzenden Weise damit, daß er so freier sei, die Frauen andrer zu entbinden. Infolge seiner starken Inanspruchnahme durch seine große Praxis hatte er kaum eine andre Stunde frei als die um Mittag, so daß er, wenn ein Freund eine ernste Unterredung mit ihm wünschte, diesen am liebsten zu seiner bescheidenen Junggesellenmahlzeit lud: ein Ei, eine Kotelette, eine Tasse Kaffee, alles in Eile genommen.

Es war ein Rat über eine ernste Angelegenheit, den Mathieu von ihm erbitten wollte. Nach zwei weiteren Wochen des Nachdenkens erfüllte ihn sein Traum, die Kultivierung, die Erweckung dieses von allen verkannten Besitzes Chantebled zu versuchen, in einem solchen Maße, daß seine Unentschlossenheit ihm Qualen bereitete. Jeden Tag wuchs in ihm der unwiderstehliche Drang, zu zeugen, das Leben fortzupflanzen, wuchs das gebieterische Verlangen des Menschen, der sich berufen sieht, sein Werk zu leisten, Reichtum, Kraft und Gesundheit zu schaffen, und der darüber nicht schlafen kann. Aber welch hohen Mutes, welch frohherziger Hoffnung bedurfte es, um ein Unternehmen von solcher anscheinenden Tollheit zu wagen, dessen tiefbegründete und vorausschauende Weisheit er allein fühlte! Und mit wem sollte er diese Frage frei erörtern, wem seine letzten Zweifel anvertrauen? Da kam ihm der Gedanke, Doktor Boutan zu befragen, und er bat ihn unverweilt um eine Zusammenkunft. Das war der Vertraute, dessen er bedurfte, ein freier und tapferer Geist, ein begeisterter Freund des Lebens, ein umfassender Verstand, der nicht in die Grenzen seines Berufes eingeengt war, der imstande sein würde, über die ersten Schwierigkeiten der Ausführung hinauszusehen.

Sobald sie einander gegenüber am Tische saßen, begann Mathieu seine Beichte, entwickelte mit ganzer Seele seinen Traum, deklamierte sein Gedicht, wie er selbst es lachend nannte. Der Arzt hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen, sichtbar von seiner wachsenden Erfinderbegeisterung mit fortgerissen. Endlich, als es an ihm war, seine Meinung zu äußern, sagte er: »Mein Gott, lieber Freund, ich kann Ihnen praktisch eigentlich gar nichts sagen, denn ich habe nie auch nur einen Krautkopf gepflanzt. Ich will sogar hinzufügen, daß mir Ihr Plan von solcher Waghalsigkeit scheint, daß ein jeder Fachmann, den Sie etwa befragen würden, Sie mit einer ganzen Reihe der überzeugendsten, unwiderleglichsten Gründe davon abbringen würde. Jedoch Sie sprechen von diesem Werke mit einer prächtigen Zuversicht, mit einer warmen Begeisterung, die mir Laien die absolute Gewißheit einflößen, daß Sie den Erfolg erzwingen werden. Zu allem Ueberfluß kommen Sie allen meinen Ideen entgegen, denn seit zehn Jahren höre ich nicht auf darzulegen, daß Frankreich, wenn es wieder die zahlreichen Familien blühen sehen will, sich der Liebe, dem Kultus der Erde wieder zuwenden, die Städte verlassen muß, um das kräftige und fruchtbare Leben des Bauern dagegen einzutauschen. Wie sollte ich Ihnen da nicht mit ganzem Herzen zustimmen? Ich habe Sie sogar im Verdacht, daß Sie, wie alle, die jemandes Rat verlangen, nur hierher gekommen sind, um in mir einen Bruder und Kampfgenossen zu finden.«

Sie lachten beide herzlich. Als Boutan ihn dann fragte, mit welchem Kapital er das Unternehmen beginnen wolle, entwickelte Mathieu ihm ruhig seinen Plan, sich nicht in Schulden zu stürzen, sondern vorerst nur mit einigen Hektaren anzufangen, auf die erobernde Kraft der Arbeit vertrauend. Seine einzige Sorge war, wie Séguin dazu zu bewegen, ihm den ehemaligen Jagdpavillon und einige Hektar ringsherum ohne Barzahlung auf Annuitäten zu überlassen.

»Oh,« sagte der Doktor, »ich glaube, daß Sie ihn sehr bereit finden werden, denn ich weiß, daß er geradezu glücklich wäre, einen Weg zu sehen, wie er sich dieses großen, ertraglosen Besitzes entäußern könnte, der ihm in seiner steigenden Geldnot eine Last ist. – Sie wissen wohl, daß es in dem Hause schlechter und schlechter geht.«

Dann unterbrach er sich, um zu fragen: »Und unser Freund Beauchêne, haben Sie ihn schon unterrichtet, daß Sie die Fabrik zu verlassen gedenken?«

»Nein, noch nicht. Ich bitte Sie sogar, die Sache als Geheimnis zu behandeln, denn ich will erst alles fest abgemacht haben, ehe ich ihm irgendeine Mitteilung mache.«

Sie waren beim Kaffee angelangt, und der Doktor bot ihm an, ihn in seinem Wagen nach der Fabrik zurückzuführen, wohin er selbst sich begab, da Madame Beauchêne ihn gebeten hatte, an einem bestimmten Tage jeder Woche vorzusprechen, um sich von dem Gesundheitszustand Maurices zu überzeugen. Der Knabe, der immer noch an den Beinen litt, hatte obendrein einen so schwachen und zarten Magen, daß er eine strenge Diät einhalten mußte.

»Der übliche Magen der Kinder, die nicht von der Mutter genährt worden sind,« sagte Boutan. »Ihre brave Frau kennt das nicht, sie kann ihre Kinder alles essen lassen, was ihnen schmeckt. Bei diesem armen kleinen Maurice bringen vier Kirschen anstatt drei eine Verdauungsstörung hervor. – Also, abgemacht, ich bringe Sie nach Ihrem Bureau zurück. Nur muß ich noch vorher in die Rue Roquépine, um eine Amme auszuwählen. Es wird nicht lange dauern, hoffe ich. Gehen wir!«

Im Wagen erzählte er ihm, daß er sich für Madame Séguin ins Ammenbureau begebe. Dort spiele sich ein ganzes Drama ab. Am Tage nach der Niederkunft hatte Séguin, von einem kurzen Anfall von Gattenzärtlichkeit ergriffen, darauf bestanden, selbst die Amme für die kleine, gestern geborene Andrée zu wählen. Er behauptete, sich darauf zu verstehen, er wollte ein robustes Weib, von monumentaler Erscheinung, mit enormer Brust. Aber seit zwei Monaten nahm das Kind ab, und der herbeigerufene Arzt hatte konstatiert, daß es einfach Hungers sterbe. Das robuste Mädchen hatte keine Milch, oder eigentlich ihre Milch hatte sich in der Analyse als zu dünn, zu unausgiebig erwiesen. Eine schwierige Sache, das Wechseln einer Amme! Der Sturm wütete im Hause, Séguin schlug die Türen hinter sich zu und schrie, daß er sich um gar nichts mehr kümmere.

»So bin ich nun damit betraut,« schloß Doktor Boutan, »eine neue Amme zu wählen und hinzusenden. Und die Sache hat Eile, denn mir bangt um diese arme kleine Andrée. Es ist zum Erbarmen mit solchen Kindern.«

»Und warum hat die Mutter das Kind nicht selbst gestillt?« fragte Mathieu.

Der Arzt machte eine Gebärde der Mutlosigkeit. »Ach, lieber Freund, da fragen Sie mich zuviel. Wie sollte eine Pariserin der reichen Bürgerkreise, bei dem Leben, das sie führt, bei dem Hause, welches sie glaubt unterhalten zu müssen, den Empfängen, den Diners, den Abendgesellschaften, den fortwährenden Anlässen, außer Haus zu gehen, den gesellschaftlichen Verpflichtungen aller Art, wie sollte sie da die Pflicht, das mutige und langwierige Werk auf sich nehmen, ein Kind selbst zu nähren? Das bedeutet fünfzehn Monate der Enthaltsamkeit und des Verzichts. Dabei spreche ich gar nicht von den Verliebten und den Eifersüchtigen, die zwischen Kind und Mann sich für den letzteren entscheiden, sich für ihn allein bewahren, aus Furcht, daß er sie sich selbst überlasse. – So macht diese kleine Frau Séguin den Leuten eine Komödie vor, wenn sie sich trostlos stellt und sagt, sie hätte so gerne selbst gestillt, aber sie habe keine Milch gehabt. Die Wahrheit ist, daß sie es nie versucht hat, und daß sie ihrem ersten Kinde sicherlich eine so gute Amme gewesen wäre, wie irgendeine Mutter. Aber heute ist es nicht mehr die Liebe zu ihrem Gatten, die sie hindert, o nein, heute ist sie einer solchen Aufgabe nicht mehr gewachsen, nach dem wüsten und sinnlosen Leben, das sie führt, und das Schlimmste ist, daß, nach drei oder vier Generationen von Müttern, die nicht selber stillen, sie schließlich die Wahrheit sagen, wenn sie sagen, daß sie nicht stillen können: sie können wirklich nicht mehr, die Brustdrüse verkümmert und verliert die Fähigkeit, Milch auszuscheiden. Dahin werden wir gelangen, lieber Freund, zu einer Rasse elender, zerrütteter, unvollständiger Frauen, vielleicht noch fähig, zufälligerweise ein Kind zu bekommen, total unfähig, es zu nähren.«

Mathieu erinnerte sich sodann an alles, was er bei der Bourdieu und im Findelhause gesehen hatte. Er sprach seine Gedanken Boutan gegenüber aus, der abermals seine trostlose Gebärde machte. Seiner Ansicht nach blieb noch ein ungeheures Werk menschlichen Gemeinsinns und sozialer Wohlfahrt zu schaffen. Unleugbar zeigte sich bereits eine Bewegung schöner Menschenfreundlichkeit, viele private Wohltaten wurden ausgeübt, viele barmherzige Institute begründet. Aber gegenüber der ungeheuren offenen, stets blutenden Wunde blieben diese lokalen Mittel unwirksam, zeigten kaum mehr als den zu verfolgenden Weg. Wessen es bedurfte, das waren allumfassende Maßregeln, Gesetze, welche die Nation retteten: von den ersten Leidenstagen der Schwangerschaft angefangen, müßte die Frau unter öffentlichem Schutze stehen, müßte heilig werden, aller schweren Arbeit enthoben; sodann müßte sie in Ruhe und Sicherheit, im geheimen, wenn sie es wünscht, gebären können, ohne daß man etwas andres von ihr verlangt, als Mutter zu sein; endlich müßten dann Mutter und Kind verpflegt und versorgt werden, sowohl während der Rekonvaleszenz als auch während der langen Monate des Stillens, bis zu dem Tage, wo das Kind endlich lebenskräftig geworden ist und die Frau wieder eine starke und gesunde Gattin sein kann. Es wären also eine Reihe von Vorbeugungsmaßregeln zu treffen und entsprechende Institute zu schaffen: Zufluchtsorte für Schwangere, verschwiegene Gebärhäuser, Asyle für Rekonvaleszenten, abgesehen von Unterstützungen während der Ammenschaft und von Schutzgesetzen für die Mütter. Um das Uebel zu bekämpfen, den entsetzlichen Ausfall der Geburten, den erbarmungslosen Tod, der über die Neugeborenen hinfegt, gab es nur ein radikales Mittel: ihm zuvorzukommen. Nur durch vorbeugende Maßregeln konnte man dahin gelangen, der furchtbaren Opferung der Neugeborenen Einhalt zu tun, die offene Wunde in der Weiche der Nation zu schließen, an der sie verblutet, an der sie täglich mehr stirbt.

»Und,« fuhr der Arzt fort, »alles dies läßt sich in den einen Grundsatz zusammenfassen, daß die Mutter ihr Kind nähren muß. In unsrer Demokratie wird die Frau, sobald sie schwanger ist, ein höheres Wesen. Sie ist das Symbol aller Größe, aller Kraft, aller Schönheit. Die Jungfrau ist nur eine Negation, die Mutter ist die Ewigkeit des Lebens. Sie sollte von einem sozialen Kultus umgeben, sie sollte unsre Religion sein. Wenn wir dazu gelangt sein werden, die Mutter anzubeten, so wird das Vaterland zunächst und dann die ganze Menschheit gerettet sein. – Daher möchte ich haben, lieber Freund, daß das Bild einer Mutter, die ihr Kind trinken läßt, der höchste Ausdruck menschlicher Schönheit sei. Ach, wie doch nur unsern Pariserinnen, allen unsern Französinnen das Gefühl einflößen, daß die Schönheit der Frau darin besteht, Mutter zu sein mit einem Kinde auf den Knieen! An dem Tage, da diese Mode durchdränge, wie die Frisur à la Botticelli oder die engen Röcke, wären wir die gebietende Nation, die Herren der Welt!«

Auf seine Lippen trat ein trübes Lächeln der Mutlosigkeit über sein Unvermögen, die Sitten zu ändern, die zahlreichen Familien in die Mode zu bringen, denn er wußte nur zu gut, daß man ein Volk nur verwandeln kann, indem man seinen Schönheitsbegriff verwandelt.

Dann fuhr er fort:

»Mit einem Wort, ich kenne keine höhere Anforderung, als daß die Mutter ihr Kind selber stille. Eine jede Mutter, die imstande wäre, ihr Kind selbst zu stillen und es nicht tut, ist eine Verbrecherin. Und in gewissen Fällen, wenn die Mutter absolut nicht in der Lage ist, ihre Pflicht zu erfüllen, bleibt noch die Saugflasche, die, sorgfältig angewendet, mit sterilisierter Milch versorgt, genügende Resultate gibt. Was die auswärtige Pflegerin betrifft, so ist sie fast der sichere Tod des Kindes, und die Amme im Hause wiederum ist das Ergebnis einer unmoralischen Abmachung, eine unberechenbare Quelle von Krankheiten, oft selbst ein doppeltes Verbrechen, der Tod des zu nährenden Kindes, ebenso wie des eignen Kindes der Amme.«

Der Wagen hielt in der Rue Roquépine, vor dem Ammenvermittlungsbureau.

»Ich wette,« sagte der Doktor heiter, »daß Sie noch nie den Fuß in ein solches Bureau gesetzt haben, Vater von fünf Kindern, wie Sie sind.« »Wahrhaftig, nein,« erwiderte Mathieu.

»Nun, so kommen Sie mit und sehen Sie es sich an. Man muß alles kennen lernen.«

Das Bureau in der Rue Roquépine war das bedeutendste und vorteilhaftest bekannte des Viertels. Es wurde von Madame Broquette gehalten, einer blonden Dame von etwa vierzig Jahren, mit einem würdevollen, etwas geröteten Gesichte, die stets in ein enges Mieder eingeschnürt war und ein etwas verschossenes, braunes Kleid trug. Aber wenn diese Dame die Würde, die Repräsentantin des Hauses war, welcher der Verkehr mit den Kunden oblag, so war die wirkliche Seele, die stets in Bewegung befindliche Triebkraft des Hauses, Monsieur Broquette, der Gatte, ein kleiner Mann von fünfzig Jahren mit spitzer Nase, glänzenden Augen und der Beweglichkeit eines Wiesels. Mit der Exekutivgewalt des Bureaus, mit der Ueberwachung und Erziehung der Ammen betraut, empfing er sie, hielt sie zur Reinlichkeit an, lehrte sie lächeln und sich freundlich benehmen, verteilte sie in die Zimmer, verhinderte sie zu viel zu essen. Vom Morgen bis zum Abend sah man nur ihn, hin und her eilend, scheltend, diese schreckliche Gesellschaft unordentlicher, roher, häufig lügnerischer und diebischer Mädchen in Zucht haltend. Das ganze Haus, ein ehemaliges vernachlässigtes kleines Hotel, mit seinem feuchten Erdgeschoß, das allein den Kunden zugänglich war, und seinen beiden Stockwerken von je sechs Zimmern, die als gemeinschaftliche Schlafräume eingerichtet waren, war nichts als eine eigne Art von Hotel garni, worin die Ammen mit ihren Kindern übernachteten. Es gab da ein fortwährendes Kommen und Gehen, einen ununterbrochenen Durchzug neuankommender Bäuerinnen, welche Koffer schleppten. Wickelkinder trugen, die Zimmer, die Gänge, die gemeinschaftlichen Räume mit lautem Geschrei und übeln Gerüchen erfüllten, während überall das widerwärtigste Durcheinander der verschiedensten Habseligkeiten herrschte. – Im Hause befand sich ferner noch Mademoiselle Broquette, Herminie mit Vornamen, ein blasses Mädchen von fünfzehn Jahren, bleichsüchtig, mager und blutlos, die apathisch ihre reizlose Jungfräulichkeit durch diesen überfüllten Fleischmarkt, durch dieses Meer von Ammen trug.

Boutan, der im Hause gut Bescheid wußte, trat ein, gefolgt von Mathieu. Der ziemlich breite Hausflur mündete auf eine Glastür, durch die man auf eine Art Hof gelangte, in welchem ein magerer Strauch inmitten eines runden Rasenfleckes stand. Rechts vom Flur befand sich das Bureau, in welches Madame Broquette, auf Wunsch der Kunden, die Ammen kommen ließ; diese hielten sich mit ihren Säuglingen in einem benachbarten Raume auf, der nichts enthielt als einen schmutzigen Weichholztisch in der Mitte und Bänke längs der Wände. Das Bureau enthielt eine alte, rotsammetne Garnitur im Empirestil, ein Mahagonitischchen, eine vergoldete Uhr, Spitzendeckchen über die Lehnen der Fauteuils gebreitet. Zur Linken des Flures endlich, neben der Küche, befand sich der gemeinschaftliche Eßraum, in welchem zwei lange, mit Wachstuch bedeckte Tische standen, umgeben von einer Anzahl defekter Sessel. Der gekehrte Boden ließ erraten, daß in den dunkeln Winkeln lange aufgehäufter Schmutz unbehelligt lag. Sowie man das Haus betrat, spürte man einen scharfen Geruch von Küchenabfällen, sauer gewordener Milch, schlecht gehaltenen Windeln, von all der schmutzigen Wäsche dieser vernachlässigten Bäuerinnen.

Als Boutan die Tür des Bureaus öffnete, fand er Madame Broquette im Begriffe, einem alten Herrn, der in einem Fauteuil saß, eine ganze Schar Ammen vorzuführen. Als sie den Doktor erblickte, machte sie eine bedauernde Gebärde.

»Lassen Sie sich nicht stören,« sagte dieser. »Wir haben keine Eile, wir werden warten.«

Durch die offene Tür hatte Mathieu Herminie, die Tochter des Hauses, gesehen, die in einem der rotsammetnen Fauteuils saß, träumerisch in die Lektüre eines Romans versunken, während ihre Mutter, stehend, mit ihrer würdevollen Miene ihre Ware anpries, die Ammen vor dem alten Herrn Revue passieren ließ, der sich nicht entscheiden zu können schien,

»Sehen wir uns den Garten an,« sagte der Doktor lachend.

Tatsächlich wurde es als einer der Vorzüge des Hauses in den Prospekten hervorgehoben, daß sich daselbst ein Garten befinde, mit guter Luft, sogar einen Baum, kurz, ländliche Natur. Sie öffneten die Glastür und sahen auf einer Bank neben dem Baume ein starkes Mädchen, die offenbar eben erst eingetroffen war, und die im Begriffe war, ihr Kind mit einem Stück Zeitungspapier zu reinigen. Sie selbst befand sich noch ganz in dem wenig einladenden Zustande, in dem sie hier abgesetzt worden war, hatte noch nicht Zeit gehabt, sich zu waschen. In einer Ecke befand sich eine Ablagerungsstätte der Küche, ein Haufen zerbrochener Schüsseln und alter fettiger oder verrosteter Gerätschaften. Am andern Ende sah man durch eine Glastür, die zugleich als Fenster diente, in den Warteraum der Ammen; und auch da bot sich ein widerlicher Anblick, sah man aufgehängte Lappen, beschmutzte Windeln, die zum Trocknen ausgebreitet waren. Dies waren die einzigen Blumen dieses Stückchens Natur.

Plötzlich schoß Monsieur Broquette herbei, ohne daß man hätte sagen können, woher er kam. Er hatte den Doktor Boutan bemerkt, einen Kunden, der mit Sorgfalt behandelt werden mußte.

»Madame Broquette ist wohl beschäftigt? Ich werde nicht zugeben, Herr Doktor, daß Sie hier bleiben. Kommen Sie, bitte, kommen Sie.«

Seine kleinen Wieselaugen hatten sich auf das unsaubere Mädchen geheftet, die im Begriffe war, ihr Kind zu reinigen; dieses Schauspiel war ihm sehr peinlich, und er drang nur deshalb so sehr in den Arzt, weil er verhindern wollte, daß die Herren noch mehr von den Geheimnissen des Hauses sähen. Der Doktor hatte seinen Gefährten eben bis an die Tür des Warteraumes geführt, wo der Anblick der Ammen, die es sich hier bequem machten, nicht sehr erquicklich war. Sie hatten die Kleider geöffnet, räkelten sich, gähnten sich durch die langen, trägen und schläfrigen Stunden, während welcher sie hier bis zum Steifwerden auf den Bänken in Erwartung der Kunden saßen; die Kinder legten sie, um ihre Arme ausruhen zu lassen, auf den Tisch, der davon immer bedeckt war; alle Arten Unsauberkeiten bedeckten den Boden, fettige Papiere, Brotkrumen, widerliche Fetzen. Die beiden Männer fühlten ihr Inneres sich wenden angesichts dieses vernachlässigten Raumes, dieses schlecht gehaltenen Stalles.

»Ich bitte Sie recht sehr, mir zu folgen,« wiederholte Monsieur Broquette.

Er fühlte nun aber doch, daß er streng auftreten und ein Exempel statuieren müsse, um den guten Ruf des Hauses zu retten. Er fuhr auf das starke Mädchen los. »Hören Sie einmal. Sie schmutziges Ding, können Sie nicht etwas warmes Wasser nehmen, um Ihr Kind zu reinigen? Was tun Sie denn überhaupt da? Warum sind Sie nicht gleich hinaufgegangen, um Toilette zu machen? Soll ich selbst Ihnen einen Kübel Wasser über den Kopf schütten?«

Er jagte sie auf und vor sich her, und sie eilte fort, betäubt und eingeschüchtert. Nachdem er sie so bis zur Treppe befördert hatte, führte er die beiden Herren wieder vors Bureau, indem er klagte:

»Ach, Herr Doktor, wenn Sie wüßten, was ich für Mühe habe, um diese Mädchen nur dahin zu bringen, daß sie sich die Hände waschen. Wir, die wir so reinlich sind, die wir unsern Stolz darein setzen, daß das Haus rein sei! Ich kann Ihnen versichern, daß es nicht meine Schuld ist, wenn sich nur ein Stäubchen irgendwo findet!«

Aus den oberen Stockwerken drang in diesem Augenblicke ein schrecklicher Lärm herunter, offenbar ein Streit, eine Schlacht zwischen zweien oder mehreren der Ammen. Von dieser Treppe, zu der Fremden der Zutritt nie gestattet wurde, wehte zeitweise ein abscheulicher Geruch wie aus einer Kloake herab; und jetzt, wo dieser verpestete Hauch ein verdoppeltes wüstes Geschrei mit sich führte, wurde es unerträglich.

»Entschuldigen Sie mich,« sagte endlich Monsieur Broquette. »Meine Frau wird gleich zu Ihren Diensten stehen.«

Er lief mit stummer Behendigkeit die Treppe hinauf. Gleich darauf hörte man einen Klatsch, und das Haus verfiel plötzlich in Todesstille. Man hörte nichts mehr als die Stimme Madame Broquettes aus dem Bureau, die würdevoll fortfuhr, ihre Ware anzupreisen.

»Nun, verehrter Freund,« sagte Boutan zu Mathieu, während er mit ihm den Flur auf und ab ging, »das ist doch nichts, diese prosaische Kehrseite der Dinge. Sie müßten die Kehrseite der Seelen sehen können. Und bemerken Sie, daß dieses Haus noch eine anständige Mittelklasse darstellt; es gibt noch scheußliche Höhlen, welche die Polizei manchmal schließen muß, weil sich gar zu empörende Dinge dort ereignen. Freilich gibt es eine Überwachung, freilich gibt es Polizeiverordnungen, welche den Ammen vorschreiben, daß sie nur mit Ausweisbüchern, mit Moralitätszeugnissen, mit allen Arten von Papieren versehen, hierherkommen dürfen, die am ersten Tage auf der Präfektur visiert werden müssen, wonach ihnen erst die Erlaubnis erteilt wird. Aber das alles sind Vorkehrungen von zweifelhaftem Werte, welche keine Art von Betrügereien verhindern können, weder die Täuschung über das wirkliche Alter der Milch noch das Unterschieben gesunder Säuglinge an Stelle der kranken, die der Amme gehören, noch selbst, daß wieder schwanger gewordene Mädchen sich für kürzlich entbundene ausgeben. Sie können sich nicht vorstellen, was für mörderische Lügen und Listen diese Weiber in ihrem gierigen Geldgeize zu ersinnen imstande sind. Und das ist nur begreiflich, denn die bloße Tatsache, daß sie sich dem Berufe einer Amme zuwenden, stellt sie, meiner Ansicht nach, auf die niedrigste Stufe der menschlichen Leiter. Es gibt kein verächtlicheres, empörenderes Gewerbe. Viele, selbst bis dahin anständige Mädchen gehen zum Manne, so wie man die Kuh dem Stier zuführt, der Milch wegen. Das Kind ist in den Augen der Amme von Beruf nur eine notwendige Vorbedingung, ein Geschäftsbehelf. Im Augenblicke, da es durch sein Erscheinen seinen Zweck erfüllt und die Amme melkbar gemacht hat, zählt es daher auch nicht mehr, und ob es stirbt, ist gleichgültig. Es ist der niedrigste Grad der blödsinnigen Gewissenlosigkeit, der tierischen Verrohung. Und da sehen Sie die verbrecherischen Folgen des schändlichen Handels, den man da abschließt, denn wenn das Kind, dem die Amme ihre Milch verkauft, häufig an dieser Milch stirbt, die nicht diejenige ist, welche die Natur für dasselbe bestimmt hat, so stirbt das Kind der Amme fast immer, infolgedessen, daß es wie ein lästiges Bündel fortgeschafft und sogleich mit Grütze genährt wird wie das liebe Vieh; so daß es also zwei Opfer gibt und zwei Mütter gleicherweise sich des Mordes schuldig machen, des gemeinsten und des gefährlichsten Mordes, des Mordes an armen, kaum geborenen Wesen, deren Verschwinden niemand aus seiner Gleichgültigkeit aufrüttelt, während wir im Gegenteil alle einen großen Schrei des Schreckens und des Abscheus erheben sollten vor diesem unsinnigen Hinschlachten unsrer Hoffnung und unsrer Zukunft ... Ah, dieser Abgrund hat keinen Boden, das ganze Land wird hineinstürzen, darin verschwinden, wenn man nicht aufhört, der Vernichtung diesen ungeheuerlichen Tribut zu bringen!«

Die beiden Männer waren im Gespräch vor der Tür des Eßzimmers stehengeblieben und sahen nun durch diese, die ein wenig aufstand, die Couteau an einem Tische sitzen, und ihr zur Seite zwei junge, hübsche und nett gekleidete Bäuerinnen. Da die Stunde der Mahlzeit vorüber war, aßen alle drei Wurstwaren, gierig, ohne Teller und ohne Gabel; es hatte den Anschein, daß die Zuführerin eben eingetroffen war und sich, nachdem sie ihre Ladung Ammen abgeliefert, beeilte, sich ein wenig zu stärken, ehe sie weiter ihren Geschäften nachging mit diesen zwei, die ihr von ihrem Vorrat geblieben waren. Das Eßzimmer mit seinen weinnassen Tischen und seinen fettfleckigen Wänden verbreitete bis in den Flur einen Geruch wie von einem schlecht gehaltenen Küchenausguß.

»Sie kennen die Couteau?« rief Boutan, nachdem ihm Mathieu von seinen Begegnungen mit der Frau erzählt hatte. »Dann, lieber Freund, sind Sie bis auf den Boden des Verbrechens gekommen. Die Couteau, das ist die Menschenfresserin ... Und zu denken, daß sie in unsrer schönen sozialen Maschinerie ein nützliches Rad ist, und daß ich zweifellos sehr froh sein werde, meine Aufgabe erfüllen zu können, indem ich eine der Ammen wähle, die sie eben gebracht hat!«

Madame Broquette bat sie nun sehr liebenswürdig, einzutreten. Nachdem er sehr bedächtig alles geprüft hatte, was das Haus an vortrefflichen Ammenbrüsten zu bieten vermochte, war der alte Herr fortgegangen, ohne eine Wahl zu treffen, indem er sagte, er werde wiederkommen.

»Es gibt Leute, die nicht wissen, was sie wollen,« erklärte Madame Broquette weise. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, daß ich Sie habe warten lassen müssen, Herr Doktor. Und wenn Sie eine gute Amme wünschen, so bin ich in der Lage, Sie zufriedenzustellen, denn es sind eben einige vortreffliche angekommen. Ich werde sie Ihnen zeigen.«

Herminie hatte es nicht einmal der Mühe wert gefunden, die Augen von ihrem Roman zu erheben. Sie blieb in ihrem Fauteuil sitzen und fuhr fort zu lesen, mit ihrem schmalen, bleichsüchtigen Gesichte, das Müdigkeit und Langeweile ausdrückte. Mathieu setzte sich ein wenig seitwärts, um den Vorgängen zuzusehen, während Doktor Boutan wie ein Kapitän, der Musterung hält, stehen blieb, um mit scharfem Auge jede Einzelheit zu prüfen. Und das Defilee begann. Madame Broquette öffnete die Tür, die ihr Bureau mit dem Wartezimmer verband, und führte ohne Hast, in vornehmster Weise, die Blüte ihrer Ammen in Gruppen von dreien herbei, jede mit ihrem Säugling im Arm. So zogen ihrer etwa ein Dutzend vorbei, von den verschiedensten Gestalten, kleine mit plumpen Gliedern, große, gleich Stangen, Brünetten mit sprödem Haar, Blondinen mit sehr weißer Haut, lebhafte und phlegmatische, häßliche und hübsche. Aber alle zeigten dasselbe unruhige und nichtssagende Lächeln, dasselbe furchtsame und verlegene Zieren, dieselbe ängstliche Miene des Dienstmädchens, der Sklavin auf dem Markte, die fürchtet, keinen Käufer zu finden. Sie boten sich an, sie machten die kleinen Mätzchen armer, ungeschickter Mädchen, waren erhellt von innerer Freude, sowie der Kunde an ihnen Gefallen zu finden schien, und sogleich wieder verdüstert, wenn sie glaubten, daß eine Rivalin den Preis davontrage, der sie dann finstere Blicke zuwarfen. Sie kamen im Gänsemarsch und kehrten ebenso zurück, mit schweren Schritten, gedrückt und traurig. Von diesen zwölf wählte der Arzt nach oberflächlicher Untersuchung drei aus. Und von diesen behielt er endlich eine, um sie sodann einer genauen Prüfung zu unterziehen.

»Man sieht gleich, daß der Herr Doktor sich darauf versteht,« erlaubte sich Madame Broquette mit einem schmeichelnden Lächeln zu sagen. »Ich habe nicht häufig eine solche Perle anzubieten. Sie ist eben erst angekommen, sonst wäre sie gewiß nicht mehr da. Und ich kann für diese wie für mich selbst gutstehen, denn ich habe sie bereits einmal placiert.«

Es war ein Mädchen von etwa sechsundzwanzig Jahren, eine Brünette mittlerer Grüße, ziemlich stark, mit derben, ordinären Zügen und einem breiten Kinn. Und da sie bereits im Dienst gewesen war, verstand sie sich zu benehmen.

»Dieses Kind ist also nicht Ihr erstes?«

»Nein, Monsieur, mein drittes.«

»Und Sie sind nicht verheiratet?«

»Nein, Monsieur.«

Boutan schien befriedigt, denn obgleich es eine Prämie auf die Unmoralität setzt, zieht man Mädchen als Ammen vor. Sie sind folgsamer und liebevoller, sind auch weniger teuer und haben nicht den Anhang einer Familie und keinen Mann hinter sich, der bei den Verheirateten ein beständig drohender Schrecken ist.

Ohne sie weiter auszufragen, sah der Arzt ihre Papiere, Zeugnisse und ihr Buch durch und unterzog sie dann einer vollständigen Untersuchung. Er besah ihren Mund und ihr Zahnfleisch und überzeugte sich, daß sie Weiße und gesunde Zähne hatte; er sah ihr in den Hals und begab sich dann in ein Nebengemach behufs noch eingehenderer Untersuchung. Zurückgekehrt, prüfte er schließlich noch die Brüste aufs genaueste, die Entwicklung der Drüsen, die Form der Warze, die Qualität und Quantität der Milch. Er nahm einige Tropfen davon auf die Hand, kostete sie und besah sie genau im vollen Tageslicht.

»Gut, gut,« wiederholte er von Zeit zu Zeit.

Endlich beschäftigte er sich mit dem Kinde, das die Mutter auf einen Fauteuil gelegt hatte, und das nun mit offenen Augen still dalag. Es war ein Knabe von höchstens drei Monaten, von gesundem und kräftigem Aussehen. Nachdem er die Fußsohlen und die Handflächen betrachtet hatte, untersuchte er die Schleimhäute des Mundes und des Afters, denn die erbliche Syphilis ist stets zu fürchten. Er entdeckte keinen Makel.

Er erhob den Kopf, um zu fragen:

»Es gehört doch hoffentlich Ihnen, dieses Kind?«

»O Herr Doktor! Woher hätte ich es denn nehmen sollen?«

»Ja, meine Liebe, man bekommt derlei zu leihen.«

Die Prüfung war beendet. Er sprach sein Urteil nicht gleich aus, sondern betrachtete sie noch eine Weile schweigend, von einem Mißtrauen beherrscht, dessen Grund er nicht anzugeben wußte, denn sie schien wirklich alle wünschenswerten guten Eigenschaften zu vereinigen.

»Sind alle Mitglieder Ihrer Familie gesund? Sind keine Verwandten von Ihnen an Lungenkrankheiten gestorben?«

»Kein einziger.«

»Natürlich werden Sie es mir nicht sagen. Die Ausweisbücher sollten eine Seite für derlei Auskünfte haben. – Und sind Sie nüchtern, trinken Sie nicht?«

»O Herr Doktor!«

Dieses Mal wurde sie böse, empörte sie sich, und man mußte sie beruhigen. Ihr Gesicht erhellte sich jedoch mit lebhafter Freude, als der Arzt, mit der Gebärde eines Mannes, der sich zu einer Wahl entschließt, bei der immerhin ein gutes Teil Zufall mitspielt, erklärte:

»Also gut, ich nehme Sie. Wenn Ihr Kind sogleich fortgebracht werden kann, so können Sie heute abend in dem Hause eintreten, dessen Adresse ich Ihnen geben werde. Wie heißen Sie?«

»Marie Lebleu.«

Madame Broquette hatte, ohne sich zu gestatten, einem Arzte in seine Wahl dreinzureden, ihre Majestät, die Haltung der distinguierten Dame bewahrt, die das moralische und bürgerliche Firmenschild des Hauses darstellt. Sie wendete sich nun an ihre Tochter.

»Herminie, sieh doch einmal nach, ob Madame Couteau noch da ist.«

Aber da das junge Mädchen langsam ihre hellen, feuchten Augen erhob, ohne sich auch nur zu rühren, fand die Mutter, daß es besser sein würde, wenn sie selbst den Auftrag besorgte. Sie kehrte alsbald mit der Couteau zurück, die eben im Begriffe gewesen war, mit den beiden hübschen Mädchen fortzugehen. Diese erwarteten sie im Flur.

Der Arzt ordnete die Geldfragen, achtzig Franken monatlich der Amme, fünfundvierzig Franken dem Bureau für deren Beherbergung und Verköstigung, welche der Amme von ihrem Lohne abgezogen werden konnten, was aber nie geschah. Es blieb dann noch die Rückbeförderung des Kindes in ihre Heimat, was weitere dreißig Franken kostete, abgesehen von dem Trinkgeld für die Zuführerin.

»Ich fahre heute abend zurück,« sagte die Couteau, »und will den Kleinen gern mitnehmen. Avenue d'Antin, sagen Sie? Ich weiß, ich weiß, eine Landsmännin von mir ist Zofe in dem Hause. Marie kann gleich hingehen. In zwei Stunden, nachdem ich meine Wege besorgt habe, komme ich hin, um ihr das Kind abzunehmen.«

Durch die offen gebliebene Tür erblickte Boutan jetzt im Flur die beiden jungen Bäuerinnen, die lachten und sich stießen, sich wie junge Katzen neckten.

»Diese beiden hat man mir aber nicht gezeigt. Sie sind sehr nett. Sind es Ammen?«

»Ammen, o nein,« sagte die Couteau mit ihrem dünnen Lächeln. »Es sind Mädchen, die ich unterbringen soll.«

Beim Eintreten hatte sie auf Mathieu einen Seitenblick geworfen, ohne ihn übrigens zu erkennen, wie es schien. Dieser war in seinem Sessel sitzen geblieben und hatte diese Untersuchung eines Stückes Vieh, das man kaufen will, mitangesehen, sodann das Markten um diese sich verkaufende Mutter mitangehört, das Herz immer mehr geschwellt von Mitleid und Widerwillen. Dann hatte ihn ein Schauer überlaufen, als die Couteau sich gegen das hübsche, immer noch stille Kind wendete, das sie der Amme abnehmen wollte, wie sie sagte. Und er sah sie wieder auf dem Saint-Lazare-Bahnhofe mit den fünf andern, wie sie, jede einen Säugling in den Klauen, davonflogen gleich Unglücks- und Todeskrähen. Die Razzia hatte wieder begonnen, wieder ging man daran, dem großen Paris ein Stück Leben und Hoffnung zu stehlen, ein neuer Transport wurde der Vernichtung zugeführt, und hier drohte obendrein ein doppelter Mord, wie der Arzt sagte, das Kind der Mutter und das Kind der Amme waren beide in Todesgefahr.

Als Boutan und Mathieu sich endlich unter den achtungsvollsten Abschiedskomplimenten der Madame Broquette zum Gehen wandten, fanden sie im Flur die Couteau und Monsieur Broquette tief im Gespräch. Der letztere war noch ganz erregt von einem Streit, den er eben mit dem Fleischer gehabt; denn er bedrängte die Lieferanten des Hauses unaufhörlich, gab seinen Ammen die schlechtesten Dinge zu essen, beschädigte, halbverdorbene Nahrungsmittel, die er unterm Preise kaufte; ebenso wie er beim Waschen sparte und alles, was man nicht sah, in Schmutz ersticken ließ. Und jetzt flüsterte er Nase an Nase mit der Couteau, indem er Seitenblicke auf die zwei hübschen Mädchen warf, die fortfuhren zu kichern. Zweifellos hatte er eine Idee, wußte er einen guten Platz für sie.

»Alle Gewerbe!« begnügte sich der Arzt zu sagen, als er im Wagen war.

Am Tore der Fabrik hatten sie eine Begegnung, die Mathieu bewegte. Es war Morange, den seine Tochter nach dem Mittagsmahl zu seinem Bureau zurückgeleitete, beide in tiefer Trauer. Am Tage nach der Beerdigung Valéries hatte er wieder seine Tätigkeit als Buchhalter aufgenommen, in einer seelischen Niedergedrücktheit, einer apathischen Resignation, die fast dem Vergessen glichen. Von da ab war es offenbar, daß er allen ehrgeizigen Plänen, die Fabrik zu verlassen, um anderswo sein Glück zu machen, entsagt hatte. Gleichwohl konnte er sich nicht entschließen, seine Wohnung, die nun für ihn zu groß und zu teuer war, aufzugeben: seine Frau hatte da gelebt, so wollte auch er da leben; und dann wollte er diesen Luxus bewahren, um ihn einmal seiner Tochter zum Geschenk zu machen. Alle Schwachheit, alle Zärtlichkeit seines Herzens hing nun an diesem Kinde, dessen Aehnlichkeit mit der Mutter ihn überwältigte. Er sah sie stundenlang an, die Augen mit Tränen gefüllt. Eine große Leidenschaft für diese Tochter wuchs in ihm heran; er hatte nur noch den einen Traum, ihr eine große Mitgift zu geben, in ihr glücklich zu werden, wenn es noch ein Glück für ihn gab. Er wurde zum Geizhalz, er sparte an allem, was sie nicht betraf, faßte den Entschluß, sich Nebenverdienste zu suchen, um sie mit Behaglichkeit umgeben und ihre Mitgift vergrößern zu können. Ohne sie wäre er an Kummer und Apathie gestorben. Sie wurde sein Leben.

»Ja,« antwortete sie mit ihrem hübschen Lächeln auf eine Frage Boutans, »ich begleite ihn zurück, den armen Papa, damit ich sicher bin, daß er einen kleinen Spaziergang macht, ehe er sich wieder an die Arbeit setzt. Sonst bleibt er in seinem Zimmer und rührt sich nicht.«

Morange machte eine entschuldigende Gebärde. Tatsächlich blieb er, wenn er zu Hause war, von Schmerz und Gewissensbissen vernichtet, auf seinem Zimmer, umgeben von einer Sammlung von Photographien seiner Frau in allen Lebensaltern, etwa fünfzehn Bildern, die er an die Wand gehängt hatte.

»Es ist sehr schön heute, Monsieur Morange,« sagte Boutan. »Sie haben recht getan, ein wenig spazieren zu gehen.«

Der arme Mann hob erstaunt den Blick und betrachtete die Sonne, als ob er sie noch nie gesehen hätte.

»Es ist wahr, es ist schönes Wetter heute... Und dann ist es auch gut für Reine, wenn sie ein bißchen ausgeht.«

Er ließ seinen zärtlichen Blick auf dem Mädchen ruhen, das rosig und reizend in ihrer schwarzen Trauerkleidung aussah. Er fürchtete immer, daß sie sich langweile während der langen Stunden, die er sie zu Hause allein mit dem Dienstmädchen lassen mußte. Für ihn war die Einsamkeit so tieftraurig, da sie erfüllt war von der, die er beweinte, die er getötet zu haben sich anklagte!

»Papa will nicht glauben, daß man sich in meinem Alter nie langweilt,« sagte das junge Mädchen fröhlich. »Seitdem meine arme Mama nicht mehr da ist, muß ich wohl eine kleine Hausfrau sein. Und dann holt mich auch die Frau Baronin manchmal ab.«

Sie stieß einen Ruf der Ueberraschung aus, als ein Wagen am Trottoir hielt und ein Frauenkopf sich aus dem Fenster beugte, den sie erkannte.

»Sie nur, Papa, da ist ja die Frau Baronin! Sie muß bei uns gewesen sein, und Klara wird ihr gesagt haben, daß ich dich hierher begleitet habe.«

So hatte es sich in der Tat zugetragen. Morange beeilte sich, Reine zu dem Wagen hinzuführen, den Sérafine nicht einmal verließ. Und nachdem das Mädchen mit einem freudigen Sprunge in dem Coupé verschwunden war, blieb er noch einen Augenblick davor stehen, sich in Danksagungen erschöpfend, glücklich darüber, daß das liebe Kind sich unterhalten werde. Dann, nachdem er dem Wagen lange nachgeblickt, trat er in die Fabrik ein, plötzlich gealtert und niedergebeugt, als ob sein Kummer ihm auf die Schultern zurückgefallen wäre. So in sich versunken war er, daß er vergaß, sich von den beiden Männern zu verabschieden.

»Armer Mann!« sagte Mathieu, den der Anblick Sérafinens mit ihrem spöttischen, von roten Haaren gleich einem Feuerschein umgebenen Gesichte eiskalt berührt hatte.

In diesem Augenblicke winkte Beauchêne von einem Fenster seines Wohnhauses Mathieu, er möge mit dem Doktor heraufkommen. Sie fanden Constance und Maurice in dem kleinen Salon, wohin der Vater gekommen war, um seinen Kaffee zu trinken und eine Zigarre zu rauchen. Boutan beschäftigte sich sogleich mit dem Knaben, dem es bedeutend besser mit den Beinen ging, dessen Magen aber empfindlich blieb, so daß die kleinste Abweichung von der Diät böse Folgen herbeiführte. Und während nun Constance, deren mütterliche Unruhe sich sehr gesteigert hatte, ohne daß sie es gestehen wollte, den Doktor unaufhörlich ausfragte und seinen Worten gierig lauschte, führte Beauchêne Mathieu beiseite.

»Hören Sie einmal. Sie, warum haben Sie mir denn nicht gesagt, daß dort drüben alles vorüber ist?«

Er lachte, mit rotem Gesicht, die Zigarre im Munde, dichte Rauchwolken ausstoßend. »Ja freilich, ich bin ihr gestern begegnet, der schönen Blondine.«

Mathieu antwortete ruhig, daß er nur gewartet habe, befragt zu werden, um über seine Mission Rechenschaft zu geben, da er nicht als erster von diesem peinlichen Gegenstande habe sprechen wollen. Da der ihm übergebene Geldbetrag ausgereicht habe, so habe er ihm nur noch die Rechnungen zu übergeben, ein ganzes kleines Bündel, das er zu seiner Verfügung halte. Er begann auf einige Einzelheiten einzugehen, als Beauchêne ihm das Wort abschnitt. Sein Gesicht strahlte vor Freude.

»Wissen Sie, was geschehen ist? Sie hatte die Kühnheit, sich wieder zur Arbeit zu melden, nicht bei mir natürlich, sondern beim Vorstand der Frauenwerkstätte. Zum Glück hatte ich den Streich vorhergesehen und gemessenen Befehl erteilt; der Vorstand hat ihr demnach geantwortet, daß man sie der Ordnung halber nicht wieder aufnehmen könne. Ihre Schwester Euphrasie, die sich nächste Woche verheiratet, arbeitet noch in der Werkstätte. Sie können sich wohl vorstellen, wie sich die gleich wieder in den Haaren gelegen wären. Und dann ist ihr Platz nicht mehr bei mir, zum Henker!«

Er nahm sein Gläschen Kognak vom Kaminsims, trank es aus und kam zurück, indem er lachend sagte: »Sie ist ein zu hübsches Mädchen, um zu arbeiten.«

Mathieu antwortete nichts aus diesen abscheulichen Ausspruch. Auch er wußte seit gestern durch eine zufällige Begegnung, daß Norine, nachdem sie das Haus der Madame Bourdieu verlassen, wenig Lust verspürt hatte, wieder zu einem Leben des Zankes in ihr Elternhaus zurückzukehren, und vorläufig für einige Nächte die Gastfreundschaft einer Freundin in Anspruch genommen hatte, die mit einem Geliebten zusammenwohnte. Nach ihrem fruchtlosen Versuche in der Beauchêneschen Fabrik hatte sie sich wohl in noch ein oder zwei Häusern vorgestellt; aber in Wirklichkeit bemühte sie sich nicht mit besonderem Eifer, wieder Arbeit zu bekommen. Während ihrer Schwangerschaft, während dieser vier Monate glücklicher Trägheit und späten Aufstehens hatte sie eine gründliche Abneigung gegen das harte Leben einer Arbeiterin gefaßt. Ihre Hände waren weiß und fein geworden, und sie empfand nur mehr die unbezwingliche Sehnsucht nach leichten Vergnügen, nach dem Leben des ausgehaltenen Mädchens, der Traum aller Töchter des Pariser Trottoirs von Kindheit auf.

»Wie ich Ihnen also sagte lieber Freund,« fuhr Beauchêne fort, »bin ich ihr begegnet. Und erraten Sie einmal, unter welchen Umständen: Ganz stolz, fein herausgeputzt, am Arme eines großen, bärtigen jungen Menschen, der sie mit den Blicken verschlang! Die Sache ist richtig, sage ich Ihnen, gar kein Zweifel mehr! Sie können sich wohl vorstellen, wie ich aufatmete! Ich bin noch jetzt voller Freude!«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus, als ob man ihm ein Zentnergewicht von der Brust genommen hätte. Seit jenem unangenehmen Abenteuer hatte er sich zuerst einer verheirateten Frau genähert, war dann aber plötzlich abgesprungen, von der Furcht erfaßt, abermals in eine Falle zu geraten; und seit dieser Zeit hielt er sich wieder lediglich an die Mädchen von der Straße, die Mädchen einer Nacht, bei denen keine Verpflichtungen entstehen, die einzigen übrigens, die seinem Temperament zusagten, deren Gefügigkeit seiner sexuellen Gier Befriedigung gewährte. Er war vollkommen glücklich, nie war er triumphierender, zufriedener mit sich selbst erschienen.

»Das war ja übrigens mit Sicherheit vorauszusehen, lieber Freund! Erinnern Sie sich doch, was ich Ihnen immer sagte. Sie war dafür geschaffen und nichts andres, das sprang in die Augen! Zuerst macht so ein Ding hohe Pläne, will sich für einen Prinzen aufbewahren, der sie sehr teuer bezahlen würde; dann gibt sie sich dem erstbesten Kellner hin und versucht hierauf, sich an irgend ein gutes Tier von einem nicht gerade armen Mann zu hängen, wenn es deren noch auf der Welt gibt. Und wenn der Streich mißglückt, nimmt man sich einen Geliebten, dann wieder einen, dann wieder einen, so viel ihrer der liebe Gott für sie wachsen läßt ... Uff, es geht mich nichts mehr an. Gott sei Dank! Glückliche Reise und viel Vergnügen!«

Er hatte sich schon wieder gegen seine Frau und den Doktor gewendet, als ihm noch etwas einfiel, was ihn veranlaßte, wieder zurückzukommen und mit leiser Stimme zu fragen: »Das Kind also, sagen Sie ... ?«

Und als Mathieu ihm berichtet hatte, daß er selbst es ins Findelhaus begleitet habe, um sicher zu sein, daß es dort abgegeben worden, drückte er ihm kräftig die Hand: »Vortrefflich! Vielen Dank, lieber Freund! Jetzt bin ich ruhig.«

Trällernd kehrte er zu Constance zurück, die noch immer den Arzt befragte. Sie hatte den kleinen Maurice an ihre Knie genommen und betrachtete ihn mit der eifersüchtigen Zärtlichkeit einer guten Hausmutter, die ängstlich über die Gesundheit ihres einzigen Sohnes wacht, den sie vergöttert, und aus dem sie einen der Fürsten der Industrie und des Reichtums machen will. Plötzlich rief sie aus: »Dann wäre ich ja die Schuldige, Doktor! Glauben Sie also wirklich, daß ein von seiner Mutter genährtes Kind von stärkerer Konstitution, widerstandsfähiger gegen die Kinderkrankheiten ist?«

»Ganz außer allem Zweifel, Madame.«

Beauchêne, an seiner Zigarre kauend, zuckte die Achseln und lachte in seiner geräuschvollen Weise.

»Laß doch, der Junge wird hundert Jahre alt werden, die Burgunderin, die ihn genährt hat, war ein wahrer Koloß. – Es ist also wahr, Doktor, Sie werden von den Kammern das obligatorische Stillen durch die Mütter zum Gesetz erheben lassen?«

Boutan lachte auch. »Lieber Gott, warum nicht?«

Das gab Beauchêne die Handhabe für eine Reihe massiver Scherze, wie sehr ein solches Gesetz die Gewohnheiten und Sitten ändern würde, wie das Gesellschaftsleben aufhören würde, die Salons wegen allgemeiner Ammenschaft geschlossen werden müßten, und keine Frau würde über das Alter von dreißig Jahren hinaus eine halbwegs schöne Brust behalten, und die Männer wären genötigt, Konsortien zu bilden, um gemeinschaftliche Serails zu errichten, wo sie Ersatzfrauen finden könnten, wenn die ihrigen infolge ihrer Ammenschaft unnahbar würden.

»Mit einem Wort, Sie wollen eine Revolution.«

»Eine Revolution,« jawohl, sagte der Doktor gelassen. »Sie wird gemacht werden.«


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