Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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4

Ein Jahr später tauften Ambroise und Andrée ihr erstes Kind, einen Knaben, auf den Namen Léonce. Sie hatten sechs Wochen nach dem Tode Roses in aller Stille, ohne jede Festlichkeit geheiratet. Diese Taufe sollte für Mathieu und Marianne, die noch in tiefer Trauer waren und den schrecklichen Schlag noch nicht verwunden hatten, den ersten fröhlichen Anlaß bilden, wieder auszugehen. Es war übrigens bestimmt, daß nach dem Kirchgange lediglich bei dem jungen Paare zu Mittag gegessen werden, und daß alle sodann wieder ihren Geschäften nachgehen sollten. Da die ganze Familie nicht kommen konnte, so sollten außer dem Großvater und der Großmutter nur die beiden Ältesten, Denis und Blaise, anwesend sein, dieser mit seiner Frau, Charlotte. Beauchêne, der Pate, hatte als Patin Madame Séguin gewählt, denn die arme Constance, sagte er, schauderte seit dem Tode ihres Maurice bei dem bloßen Gedanken, ein Kind zu berühren. Sie hatte jedoch eingewilligt, an der Mahlzeit teilzunehmen, für welche Séguin sich entschuldigt hatte. Somit würden dennoch zehn Personen das kleine Speisezimmer der bescheidenen Wohnung in der Rue La Bo[:e]tie füllen, welche das junge Paar einstweilen innehatte, bis ihnen der erwartete Reichtum zuteil wurde.

Es war ein schöner, milder Morgen. Mathieu und Marianne, die selbst bei diesem freudigen Anlasse ihre Trauerkleider nicht hatten ablegen wollen, erheiterten sich allmählich an der Wiege dieses Neugeborenen, dessen Kommen ihnen gleich einem Wiederaufleben der Hoffnung war. Am Anfang des Winters war die Familie wieder von Trauer betroffen worden, Blaise hatte seinen kleinen Christophe verloren, der im Alter von zweieinhalb Jahren der Bräune zum Opfer gefallen war. Aber gleichsam zur Entschädigung war Charlotte nun seit vier Monaten wieder schwanger, und der Schmerz der ersten Zeit war in bewegte Erwartung übergegangen. In der kleinen Wohnung herrschte eine angenehme Atmosphäre, sie war durchduftet von der blonden Anmut Andrées, erwärmt von dem sieghaften Temperament Ambroises: ein schönes Liebespaar, das sich gegenseitig vergötterte, und das Arm in Arm kühn zur Eroberung der Welt auszog. Während der Mahlzeit übte seine Wirkung auch der starke Appetit, das laute Lachen Beauchênes, des Paten, der sich sehr um seine Patin Valentine bemühte und ihr in einer scherzhaft übertriebenen Weise den Hof machte, die sie sehr belustigte; sie war mit ihren fünfundvierzig Jahren noch so zierlich, daß sie sich wie ein junges Mädchen gebärdete, obgleich auch sie nun schon Großmutter war. Nur Constance blieb ernst, ließ sich höchstens zu einem schwachen Lächeln auf ihren dünnen Lippen herbei, während manchmal ein Schatten durchbohrenden Leides über ihr mageres Gesicht glitt, wenn ihr Blick über diese fröhliche Tafel schweifte, von der, trotz der herben Verluste der letzten Zeit, eine neue Zukunftshoffnung mit unbesiegbarer Kraft ausging.

Gegen drei Uhr verließ Blaise die Tafel, ohne Beauchêne noch ein Glas Chartreuse nehmen lassen zu wollen.

»Es ist wahr, Kinder, er hat recht,« sagte dieser gehorsam. »Bei euch ist es sehr behaglich, aber wir müssen unbedingt nach der Fabrik zurück. Und wir entführen euch auch Denis, denn wir bedürfen seiner Erleuchtung für eine sehr wichtige Konstruktion. Ja, so sind wir einmal. Die Pflicht vor allem.«

Constance hatte sich ebenfalls erhoben.

»Der Wagen dürfte wohl unten sein. Willst du ihn benutzen?«

»Nein, nein, wir gehen zu Fuß, das wird uns ein wenig den Kopf klären.«

Der Himmel hatte sich umzogen; und da es immer dunkler wurde, sagte Ambroise, der ans Fenster getreten war: »Ihr werdet naß werden.«

»Bah, das droht schon seit dem Morgen so. Wir werden wohl noch vorher die Fabrik erreichen.«

Constance erbot sich, Charlotte in ihrem Wagen mitzunehmen, um sie an der Tür des kleinen Häuschens abzusetzen, das sie bewohnte. Valentine hatte keine Eile, sie wollte ruhig nach ihrem zwei Schritte entfernt gelegenen Hause zurückkehren, sobald das Wetter sich geklärt hatte. Und was Mathieu und Marianne betrifft, so gaben sie dem zärtlichen Drängen Andrées nach und willigten ein, zum Diner dazubleiben und erst mit dem letzten Zuge nach Chantebled zurückzukehren. Das junge Paar war von dieser Zusage entzückt und klatschte freudig in die Hände.

Beim Abschiede der andern ereignete sich ein kleiner Zwischenfall, der allen in der fröhlichen Laune, die durch die reichliche Mahlzeit hervorgerufen worden, sehr komisch erschien. Constance hatte sich gegen Denis gewendet und bat ihn ruhig, indem sie ihn mit ihren hellen Augen ansah: »Lieber Blaise, seien Sie doch so gut, mir meine Boa zu bringen, die ich wahrscheinlich im Vorzimmer gelassen habe.«

Alle fingen zu lachen an, ohne daß sie verstand, aus welchem Grunde. Mit derselben Ruhe dankte sie Denis, als er ihr das Gewünschte brachte. »Danke, Blaise, Sie sind sehr freundlich.«

Dies rief einen allgemeinen Ausbruch schallenden Gelächters hervor, so drollig erschien ihre gelassene Zuversichtlichkeit. Was hatten sie denn alle, daß sie sich über sie lustig machten? Sie ahnte endlich ihren Irrtum und faßte den jungen Mann schärfer ins Auge.

»Ach ja, es ist Denis und nicht Blaise. Was wollt ihr, ich verwechsle sie immer, besonders seitdem sie sich den Bart in der gleichen Art schneiden lassen.«

Um das, was dieses allgemeine Gelächter etwa Spöttisches haben könnte, zu verwischen, erwähnte Marianne wieder des in der Familie wohlbekannten Umstandes, daß sie selbst, wenn die beiden als kleine Kinder nebeneinander schliefen, sie hatte aufwecken müssen, um sie an ihrer verschiedenen Augenfarbe zu erkennen. Dann erzählten auch die andern, Beauchêne und Valentine, von den merkwürdigen Anlässen, bei welchen jeder von ihnen die Zwillinge verwechselt hatte, so vollkommen war ihre Ähnlichkeit, besonders an gewissen Tagen, unter gewissem Lichte. Und mitten in dem frohen Durcheinander dieses Gespräches trennte man sich, nachdem alle Arten von Umarmungen und Händedrücken gewechselt worden waren.

Im Wagen, der sie heimbrachte, richtete Constance nur spärliche Worte an Charlotte, indem sie eine heftige Migräne vorschützte, welche die zu lange hinausgezogene Mahlzeit verstärkt habe. Sie lehnte matt, mit halbgeschlossenen Augen in ihrem Sitze und hing ihren Gedanken nach. Nach dem Tode Roses, als auch der kleine Christophe weggerafft worden war und die offene Wunde im Herzen der Froment vergrößert hatte, war sie von einer wiedererwachenden Hoffnung belebt worden. Ein Fieber hatte sie ergriffen, in dem, wie es ihr schien, ihr ganzes Wesen neu erstand. Blutwellen stiegen ihr ins Gesicht, ein heißes Beben durchzitterte sie, sie verbrachte ganze Nächte in der Erregung der Begierde, sie, die dergleichen nie gekannt hatte. Gütiger Gott, kehrte etwa ihre Fruchtbarkeit, ihre Mutterschaft wieder? Geschieht es nicht manchmal, daß kräftige Bäume sich so, nach dem Blätterfall, in einem schönen Herbst wieder mit neuen Blüten und Blättern bedecken? Da wurde sie von einer sinnlosen Freude ergriffen. Je mehr Zeit seit dem schrecklichen Tage verflossen war, an welchem Gaude ihr schonungslos gesagt hatte, daß sie kein Kind mehr bekommen werde, desto stärker hatte sie angefangen, an dem Ausspruche des Arztes zu zweifeln; sie wollte und konnte ihr Unvermögen nicht zugeben, sie wollte lieber an den Irrtum eines andern glauben, der immerhin möglich war, so groß seine Autorität auch sein mochte. Ja, so war es, Gaude hatte sich geirrt. Sie horchte auf das Pochen des Lebens in ihren Adern, sie verfolgte leidenschaftlich dieses Aufwallen ihres Blutes, diese heißen Schauer, diese Beklemmungen, die sie nicht begriff, die sie für ein verspätetes Wiedererblühen ihres Geschlechts hielt. Eines Nachts, als sie ihren Mann heimkommen hörte, war sie sogar nahe daran, sich zu erheben, ihn zu sich zu rufen, von der beseligenden Gewißheit erfaßt, doch noch ein Kind bekommen zu können. Dann traten starke Schmerzen auf, Boutan mußte gerufen werden, und es war ein neuer tötlicher Schlag, ein furchtbarer Sturz, als er lediglich ein vorzeitiges Eintreten des Klimakteriums mit kaum sechsundvierzig Jahren konstatierte, indem er durchblicken ließ, daß die Unterschlagungen das wohl beschleunigt haben mochten. Dieses Mal war der Baum des Lebens endgültig tot, nichts konnte mehr aus den verdorrten Zweigen sprießen, von denen nun die letzten Blüten abgefallen waren.

Seit zwei Monaten zehrte so Constance an ihrer dumpfen Wut, nicht mehr Weib zu sein. Und am Vormittag, bei der Taufe, und jetzt hier im Wagen neben dieser schwangeren jungen Frau hatte ihre noch uneingestandene, gleich einer schimpflichen Krankheit geheimgehaltene Vernichtung ihr Lächeln vergiftet, sie mit Mißgunst und Haß erfüllt, böse Gedanken in ihr entstehen lassen. Das Kind, das sie verloren hatte, das Kind, das sie nicht mehr haben konnte, dieses so lange in ruhiger Sicherheit gewiegte, nun betrogene und nie wieder zu befriedigende Muttergefühl versetzte sie in eine krankhafte Seelenentartung, in welcher grauenhafte Rachegelüste in ihr entstanden, die sie sich selbst nicht zu gestehen wagte. Sie klagte die ganze Welt, alle Menschen, alle Ereignisse an, daß sie sich vereinigten, um sie zu martern. Ihr Mann war der jämmerlichste, der blödsinnigste Verräter, denn er verriet sie, indem er von Tag zu Tag immer mehr von der Fabrik diesem Blaise überantwortete, dessen Frau, wenn sie einen Sohn verlor, sogleich einen andern bekam. Sie sah mit Ingrimm ihren Mann so froh, so glücklich, seitdem sie ihn für seine niedrigen außerhäuslichen Freuden freigegeben hatte, ohne fortan etwas von ihm zu verlangen, nicht einmal seine Anwesenheit. Er trug nach wie vor seine sieghafte Überlegenheit zur Schau, indem er erklärte, er habe sich nicht geändert. Und so war es auch, denn mochte auch der tatkräftige Chef von einst ein markloser Wüstling geworden sein, der unaufhaltsam der Paralyse zusteuerte, er war jetzt wie damals nichts andres als der vollkommene Egoist, der nur das Bestreben hatte, dem Leben so viel Genuß als möglich abzugewinnen. Er sank unaufhaltsam, er hatte Blaise nur herangezogen, weil er glücklich war, in ihm einen tüchtigen Kopf und fleißigen Arbeiter zu finden, der ihm alle die Sorgen abnahm, die seinen schlaffen Schultern zu schwer geworden waren, und der das Geld verdiente, das er für sein Vergnügen brauchte. Constance wußte, daß eine Teilhaberschaft geplant war. Ihr Mann hatte, wie es schien, sogar schon eine große Summe erhalten, um gewisse geheime Lücken zu stopfen, die er ihr verbarg, entstanden aus ungeschickten Spekulationen, schmutzigen Schulden. Und mit geschlossenen Augen dasitzend, während der Wagen weiterrollte, vergiftete sie sich die Seele mit dem Wiederholen aller dieser Dinge, sie hätte mögen vor Wut laut aufschreien, sich auf diese junge Frau, diese Charlotte neben ihr stürzen, die geliebte Gattin, die fruchtbare Mutter, um sie zu ohrfeigen und ihr das Gesicht zu zerfleischen.

Dann fiel ihr wieder Denis ein. Warum nahmen sie ihn mit nach der Fabrik? Wollte auch er sich an dem Raub beteiligen? Sie wußte gleichwohl, daß er, bis jetzt noch ohne feste Stellung, sich geweigert hatte, seinem Bruder an die Seite zu treten, da er der Ansicht war, daß für beide nicht Platz genug sei. Er besaß sehr gründliche Kenntnisse in der Mechanik und hatte den Wunsch, Stellung als Leiter in einer großen Schiffswerft oder Maschinenfabrik zu finden. Und eben seine Kenntnisse machten ihn zu einem wertvollen Berater, wenn die Fabrik ein neues Modell irgendeiner großen landwirtschaftlichen Maschine herzustellen hatte. Sie dachte jedoch nicht weiter an ihn, er spielte in ihren Befürchtungen keine Rolle, denn er war für sie nur der Gast auf eine Stunde, der vielleicht morgen schon sich irgendwo am andern Ende Frankreichs niederlassen würde. Aber der Gedanke an Blaise kehrte unablässig, beklemmend wieder, und plötzlich überkam es sie wie eine Eingebung, daß, wenn sie sich beeile, in die Fabrik zu gelangen, ehe die drei Männer eintrafen, sie Morange in seinem Bureau aufsuchen, ihn zum Sprechen bringen, von ihm viel erfahren könnte. Zweifellos hatte er, der erste Buchhalter, Kenntnis von dem Gesellschaftsvertrage, auch wenn der Vertrag nur erst im Entwurfe bestand. Und sie wurde erregt, fieberhaft ungeduldig, so rasch als möglich zu Morange zu kommen, überzeugt, von ihm vertrauliche Mitteilungen zu erlangen, mit denen sie dann nach Belieben schalten zu können gedachte.

Der Wagen fuhr eben über den Pont de Jéna, und sie sah zum Fenster hinaus.

»Mein Gott, wie langsam das geht! Wenn es wenigstens regnete, das würde mir vielleicht ein wenig Erleichterung verschaffen.«

Sie dachte, daß ein plötzlicher Regenguß ihr mehr Zeit lassen würde, da die drei Männer dann gezwungen wären, unter irgendeinem Haustor Schutz zu suchen. Und endlich bei der Fabrik angelangt, ließ sie halten, ohne ihre Gefährtin auch nur bis zu dem kleinen Häuschen zu bringen.

»Sie entschuldigen mich, meine Liebe, nicht wahr? Sie brauchen nur um die Ecke zu gehen.«

Charlotte nahm lächelnd und liebenswürdig ihre Hand und behielt sie einige Sekunden in der ihrigen, als sie beide ausgestiegen waren.

»Selbstverständlich, und ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit. Und sagen Sie, bitte, meinem Mann, daß sie mich in Sicherheit gebracht haben, denn er wird so leicht ängstlich, seitdem ich wieder in interessanten Umständen bin.«

Constance war gezwungen, ihrerseits zu lächeln und unter neuen Freundschaftsbezeigungen zu versprechen, daß sie den Auftrag ausrichten werde. »Auf Wiedersehen also morgen!«

»Auf Wiedersehen! Auf morgen!«

Es war nun bereits achtzehn Jahre, daß Morange seine Frau, Valérie, verloren hatte, acht Jahre, seit seine Tochter Reine tot war. Aber als ob diese Katastrophen gestern eingetreten wären, trug er immer noch schwarze Kleidung, führte ein scheues, abgeschlossenes Leben und sprach nur das Allernotwendigste. Er war übrigens wieder der musterhafte Angestellte geworden, der gewissenhafte, peinlich genaue Buchhalter, pünktlich auf die Minute, wie verwachsen mit dem Sessel, auf dem er seit nun bald dreißig Jahren jeden Morgen Platz nahm; denn seine beiden Frauen, wie er voll leidenschaftlicher Liebe seine teuren Abgeschiedenen nannte, hatten seinen Willen, seinen Ehrgeiz mit sich genommen, alles, was er eine Zeitlang sich bemüht hatte, für sie an Erfolg, an großem Reichtum, an glänzendem, luxuriösem Leben zu erstreben. Er, der so Verlassene, in seine Schwachheit, seine kindliche Furchtsamkeit Zurückverfallene, hatte nun keinen andern Wunsch mehr, als in diesem dunkeln gewohnten Winkel zu sterben, in dieser eintönigen Tätigkeit, die er jeden Morgen mit der Stumpfheit eines Pferdes in der Tretmühle wieder begann. Aber man vermutete, daß er zu Hause, in der Wohnung auf dem Boulevard de Grenelle, an der er eigensinnig festhielt, ein mysteriöses Leben führte, ein ganz eignes Sonderlingsdasein, dessen Geheimnis er mit ängstlicher Eifersucht hütete. Das Dienstmädchen hatte den Auftrag, niemand hereinzulassen. Sie selbst wußte übrigens nichts. Er überließ ihr wohl das Speisezimmer und den Salon, aber er duldete nicht, daß sie den Fuß ins Schlafzimmer, in das einstige eheliche Schlafzimmer setze, noch auch in das Zimmer Reines; nur er allein betrat diese Räume. Er schloß sich darin ein, um sie zu reinigen, obgleich man nicht wußte, was er eigentlich dort tat. Diese beiden Zimmer waren gleich von Schrecken umgebenen allerheiligsten Stätten, deren einziger Priester und deren einziger inbrünstiger Beter er zugleich war. Vergebens hatte das Dienstmädchen versucht, einen Blick hineinzuwerfen; vergebens drückte sie das Ohr an die Tür, wenn er die Feiertage darin verbrachte; sie konnte weder etwas sehen noch etwas hören. Keine Seele konnte sagen, welche Reliquien diese Kapellen enthielten, noch mit welchen religiösen Handlungen er sie verehrte. Ein andrer Gegenstand der Verwunderung war sein immer knickeriger werdender Geiz; er gab außer den sechshundert Franken Miete und dem Lohn des Mädchens nichts aus, als die wenigen Sous, die sie ihm nur mit großer Mühe für den Haushalt abringen konnte. Er war nun bei einem Gehalt von achttausend Franken angelangt, von dem er sicherlich nicht die Hälfte verbrauchte. Was geschah mit seinen großen Ersparnissen, deren Genuß er sich versagte? In welches geheime Versteck vergrub er sie? Für welche geheime Leidenschaft, für welche tolle Einbildung verwendete er sie? Dabei war er sehr sanft, sehr sauber in seinem Aeußern, sein nun ganz weißer Bart war sehr gepflegt, und er kam mit einem schwachen Lächeln in sein Bureau, ohne daß etwas in dem Wesen dieses so pünktlichen und methodischen Menschen auf die Zertrümmerung in seinem Innern, auf die noch rauchende Asche deutete, die die Katastrophe seines Daseins zurückgelassen hatte.

Zwischen Constance und Morange hatte sich allmählich eine Art Gemeinschaft herausgebildet. Als sie ihn nach dem Tode seiner Tochter vernichtet in die Fabrik hatte zurückkehren sehen, war sie von tiefem Mitleid für ihn erfaßt worden, welchem, ihr selbst nicht bewußt, eine dumpfe persönliche Angst beigemischt war. Ihr Maurice sollte noch fünf Jahre leben, aber sie war schon von Ahnungen bedrückt, sie konnte Morange nicht begegnen, ohne daß ein kalter Schauer ihr ans Herz griff: das war der Mann, der sein einziges Kind verloren hatte. Großer Gott, ein solches Unglück war also möglich? Und als sie, selbst von dem Schlage betroffen, die entsetzlichste Verzweiflung kennen gelernt, die klaffende, unheilbare Wunde empfangen hatte, da hatte sie sich diesem Bruder im Schmerze genähert und sprach zu ihm und behandelte ihn mit einer Sanftmut, die sie sonst niemand zeigte. Manchmal lud sie ihn ein, den Abend bei ihr zuzubringen, und sie sprachen miteinander, saßen auch oft lange schweigend, wortlos ihr Elend miteinander vereinigend. Später hatte sie dann diese Freundschaft benützt, um sich durch ihn von allen den Vorgängen in der Fabrik unterrichten zu lassen, von denen ihr Mann ihr nichts sagte. Besonders seitdem sie den in Verdacht hatte, daß er das Unternehmen schädige, unerlaubte Ausgaben mache, Schulden habe, trachtete sie, aus dem Buchhalter einen Vertrauten, selbst einen Spion zu machen, der ihr half, so viel als möglich von einer Leitung zu übernehmen, die sie in schlechten Händen sah. Daher eilte sie heute so sehr, in die Fabrik zurückzukehren; sie wollte die Gelegenheit ergreifen, allein mit ihm zu sein, überzeugt, ihn in Abwesenheit der Chefs dazu bringen zu können, ihr alles zu sagen.

Sie nahm sich kaum Zeit, Hut und Handschuhe abzulegen. Sie fand ihn in seinem kleinen Bureau, auf seinem unveränderlichen Platze, über sein ewiges Buch gebeugt, das vor ihm aufgeschlagen lag.

»Ah!« sagte er erstaunt. »Das Taufmahl ist also schon vorüber?«

Sie richtete ihre Antwort gleich so ein, daß sie ihr als Uebergang zu dem diente, wovon sie sprechen wollte.

»Jawohl. Das heißt, ich bin nach Hause gegangen, weil ich wahnsinnige Kopfschmerzen hatte. Die andern sind noch dort geblieben... Und da wir nun allein hier sind, so habe ich gedacht, daß es mir gut tun würde, ein wenig mit Ihnen zu plaudern, lieber Freund. Sie wissen, wie ich Sie schätze... Ach, ich bin unglücklich, sehr unglücklich!«

Sie war auf einen Sessel gesunken, von den Tränen erstickt, die sie gegenüber dem Glücke der andern so lange zurückgehalten hatte. Bestürzt, sie so zu sehen, selber kraftlos und hilflos, wollte er die Zofe herbeirufen, da er fürchtete, sie befände sich nicht wohl. Aber sie hielt ihn ab.

»Ich habe niemand mehr als Sie, lieber Freund! Alle Welt verläßt mich, alle Welt ist mir feindlich. Ich fühle es, man ruiniert mich, man arbeitet an meinem Verderben, als ob ich nicht ohnehin alles verloren hätte, als ich mein Kind verlor! Und da nur Sie allein mir geblieben sind, der Sie meine Qual mitfühlen können, der Sie auch Ihr Kind verloren haben, seien Sie barmherzig, stehen Sie mir wenigstens bei, sagen Sie mir die Wahrheit! Wenigstens werde ich mich verteidigen können.«

Als sie von seinem Kinde sprach, hatte auch er zu weinen angefangen. Und nun konnte sie ihn ausfragen, er würde ihr antworten, ihr alles sagen, niedergedrückt, wie er von dem gemeinschaftlichen Schmerze war, den sie heraufbeschworen hatte. Er erzählte ihr denn, daß tatsächlich ein Vertrag zwischen Blaise und Beauchêne errichtet werden sollte, wenn auch nicht gerade ein Gesellschaftsvertrag. Beauchêne, der der Kasse der Fabrik beträchtliche Summen entnommen hatte, deren er für uneingestehbare Ausgaben bedurfte – eine Erpressungsgeschichte, hieß es, die Mutter eines kleinen Mädchens, die ihm mit dem Gericht drohte –, hatte sich Blaise anvertrauen müssen, seinem Stellvertreter, dessen Tatkraft nun das ganze Unternehmen leitete, und hatte ihn gebeten, ihm einen Geldgeber zu verschaffen; und da hatte denn der junge Mann das Geld selbst vorgestreckt, zweifellos das Geld seines Vaters, das dieser hergeliehen hatte, erfreut, es im Namen seines Sohnes in der Fabrik anlegen zu können. Und um diese Angelegenheit nun zu regeln, war einfach vereinbart worden, die Eigentümerschaft des Hauses in sechs Teile zu zerlegen, deren einer auf Blaise an Zahlungs Statt übertragen werden sollte. Dieser wurde also zu einem Sechstel Miteigentümer der Fabrik, wenn nicht Beauchêne dieses Sechstel bis zu einem gewissen Zeitpunkte zurückkaufte. Die größte Gefahr aber war, daß Beauchêne, anstatt sich zu befreien, der Versuchung erliegen könnte, auch die übrigen Teile einen nach dem andern zu verkaufen, da er unaufhaltsam auf der Bahn der Vergeudung und des sinnlosen Tuns nach abwärts glitt.

Constance hatte zitternd und erbleichend zugehört.

»Das ist schon unterzeichnet?«

»Nein, noch nicht. Aber die Schriftstücke sind bereit, und die Unterschriften werden in den nächsten Tagen gewechselt werden. Es ist dies übrigens eine billige Lösung und die durch die Umstände gebotene.«

Aber sie war offenbar nicht dieser Ansicht; ihr ganzes Wesen empörte sich, sie suchte mit aller Kraft ihrer Seele nach einem Hindernis, nach irgendeinem unbesieglichen Mittel, um ihren Untergang, ihre Schande aufzuhalten.

»Mein Gott, was fang' ich an? Was soll ich tun?«

Und in ihrer verzweiflungsvollen Wut, daß sie nichts finden konnte, daß sie ohnmächtig war, rief sie aus: »Oh, dieser elende Blaise!«

Der gute Morange war darüber bestürzt. Er hatte noch nicht begriffen. Er trachtete daher, sie zu beruhigen, erklärte ihr, daß Blaise ein wackerer Mann sei, der sich in dieser Sache tadellos benommen habe, bemüht gewesen sei, den Skandal zu unterdrücken, und sich sogar sehr uneigennützig gezeigt habe. Und da sie, nun sie alles wußte, sich erhoben hatte, damit die zu Fuße zurückkehrenden Männer sie nicht hier träfen, erhob sich der Buchhalter gleichfalls, um sie durch die Galerie zu ihrer Wohnung zurückzubegleiten.

»Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, Madame, daß dieser junge Mann sich von keinerlei niedriger Berechnung hat leiten lassen. Alle Schriftstücke gehen durch meine Hand, niemand ist besser unterrichtet als ich. Wenn ich irgendwelche Machenschaften vermutet hätte, so hätte ich den Mut gefunden, mich für Ihre Güte erkenntlich zu zeigen, indem ich Sie benachrichtigte.«

Sie hörte ihm nicht mehr zu und hatte nur mehr den Wunsch, ihn los zu werden. In diesem Augenblicke brach der seit langem drohende Gußregen los und peitschte wütend die Fensterscheiben. Der Himmel war von einer so schwarzen Wolle verdunkelt, daß es beinahe Nacht wurde, obgleich es kaum vier Uhr war. Sie dachte nun, die drei würden bei einem solchen Regen sicher einen Wagen nehmen. Und sie beeilte ihre Schritte, immer von dem Buchhalter gefolgt.

»Nehmen Sie ein Beispiel,« fuhr dieser fort. »Als der Vertrag aufgesetzt wurde...«

Er unterbrach sich plötzlich, stieß einen dumpfen Ruf aus und riß sie entsetzt zurück.

»Geben Sie acht!«

Vor ihnen öffnete sich ein Abgrund. Es befand sich hier, am Ende der Fabrikgalerie, ehe man in den Verbindungsgang einbog, der ins Wohnhaus führte, ein starker Dampfaufzug, der dazu diente, einzelne Stücke in den Verpackungsraum hinabzubefördern. Er wurde jedoch nur an gewissen Tagen benutzt. In der Regel war die große Falltür geschlossen; und wenn der Aufzug in Benutzung war, befand sich stets ein Mann da, der ihn bewachte und seine Tätigkeit regelte.

»Geben Sie acht, geben Sie acht!« wiederholte Morange, starr vor Schrecken.

Der Aufzug war hinabgelassen, und die ungeheure Öffnung gähnte zu ihren Füßen. Es befand sich kein Schutzgitter da, nichts was sie warnte, was sie hätte abhalten könnnen, den grausigen Sturz zu machen. Der Regen schlug noch immer an die Scheiben, die Galerie war so dunkel, daß sie nur so vor sich hingegangen waren, ohne etwas zu sehen. Noch ein Schritt, und sie wären hinabgestürzt. Es war wie ein Wunder, daß der Buchhalter, beunruhigt durch die zunehmende Dunkelheit, den Abgrund, von dessen Vorhandensein er wußte, mehr gefühlt als gesehen hatte. Constance, die noch nichts sah, wollte sich aus dem krampfhaften Griffe Moranges losmachen.

»Aber sehen Sie doch nur!« rief er.

Er neigte sich vor und veranlaßte sie, sich auch über die Öffnung zu beugen. Der Aufzugschacht ging hier gleich einem finsteren Brunnen drei Stockwerke tief bis ins Untergeschoß hinab. Ein feuchter Kellergeruch stieg herauf, man unterschied kaum die Umrisse der starken Eisenkonstruktion. Ganz unten brannte eine einzige Laterne, wie um die Grausigleit und die Tiefe des Abgrundes besser zu zeigen. Sie wichen erbleichend zurück.

Morange erzürnte sich nun. «Das ist ja unerhört! Was tun sie denn eigentlich? Warum wird die Vorschrift nicht befolgt? Gewöhnlich steht ein Mann da, der eigens als Wächter hergestellt wird, und der seinen Posten nicht verlassen darf, ehe der Aufzug wieder oben ist. Wo ist er? Was tut er denn?«

Er kehrte zu der Öffnung zurück und rief mit zorniger Stimme: »Bonnard!«

Niemand antwortete, der Schlund blieb leer, finster, grundlos. Dieses Schweigen versetzte ihn in Wut.

»Bonnard! Bonnard!«

Immer noch nichts, nur der feuchte Hauch der Finsternis stieg herauf, wie aus der Stille eines Grabes.

Da entschloß er sich zu energischem Handeln. »Ich muß hinunter und diesen Bonnard suchen. Stellen Sie sich vor, wenn wir da hinabgestürzt wären! Nein, das ist zu arg. Er muß sofort die Tür schließen oder auf seinem Posten bleiben. Was macht er denn? Wo steckt er denn?«

Schon war er eine schmale Wendeltreppe hinabgestiegen, die längs des Aufzuges durch alle Stockwerke ging, als er noch mit allmählich verhallender Stimme zurückrief: »Ich bitte Sie recht sehr, Madame, erwarten Sie mich, bleiben Sie hier, um diejenigen zu warnen, die etwa vorbeikommen sollten.«

Constance war allein. Der Regen trommelte noch immer gegen die Scheiben, aber das Tageslicht wurde allmählich etwas stärker, je mehr die schwarze Wolke vor dem Winde hinzog. Und nun sah sie in dem bleichen Licht Blaise am andern Ende der Galerie erscheinen. Er war eben zurückgekehrt und hatte die andern auf einen Augenblick verlassen, um sich in den Werkstätten irgendeinen Aufschluß zu verschaffen, dessen sie bedurften. In Gedanken versunken, mit seiner Arbeit beschäftigt, die ihn wieder in ihren Bannkreis zog, schritt er mit ein wenig gesenktem Kopfe ruhig vorwärts. Als sie ihn erblickte, kochte in ihrem Herzen der heiße Groll auf, die Wut über das, was sie eben gehört hatte, über diesen Vertrag, der morgen unterzeichnet werden sollte, und der sie berauben würde. Das war der Feind neben ihr, gegen sie, den sie in einem wilden Aufbäumen ihres ganzen Wesens hätte zerschmettern, hinauswerfen mögen wie einen falschen und betrügerischen Einschleicher.

Er kam näher. Sie stand dicht an der Wand, im dunkeln Schatten, so daß er sie nicht sehen konnte. Aber sie sah ihn, je mehr er sich näherte, mit eigenartiger Deutlichkeit in dem grauen Lichte. Nie noch war ihr die Breite seiner Stirn, die Klugheit seiner Augen, der feste Wille seines Mundes so aufgefallen. Und plötzlich durchfuhr es sie wie ein brennender Feuerstrahl: er ging auf die Oeffnung zu, er würde sicher hineinfallen, wenn sie ihn nicht aufhielt. Soeben war auch sie wie er von dort gekommen, wäre auch sie da hineingestürzt, wenn eine Freundeshand sie nicht zurückgehalten hätte. Sie fühlte noch den Schreckensschauer in den Adern, sie sah noch den feuchten schwarzen Schlund mit der kleinen Laterne unten. Das Entsetzliche tauchte auf, trat ihr deutlich vor Augen: der unter den Füßen schwindende Boden, der Sturz unter einem lauten Schrei, die Zerschmetterung.

Er kam näher. Gewiß, so etwas konnte nicht geschehen, sie würde ihn aufhalten, da eine kleine Handbewegung dazu genügte. Wenn er heran sein würde, dicht bei ihr, hatte sie nicht noch immer Zeit, den Arm auszustrecken? Aber aus einem dunkeln Winkel ihrer Seele erhob sich eine Stimme, sehr klar und kalt, die ihr kurze Worte zuflüsterte, welche in ihre Ohren klangen wie Trompetenstöße. Wenn er tot wäre, dann wäre alles vorüber, dann würde er die Fabrik nicht bekommen. Sie, die von rasender Verzweiflung erfüllt war, daß sie kein Hindernis erdenken konnte, brauchte nur den hilfreichen Zufall walten zu lassen. Und die Stimme sagte das, wiederholte das mit schneidender Beharrlichkeit, ohne sonst etwas hinzuzufügen. Nachher kam nichts. Nachher gab es nur einen zerschmetterten, vernichteten Menschen, einen mit Blut bespritzten finsteren Schlund, in dem sie nichts mehr sah, nichts mehr dachte, nichts mehr voraus wußte. Was würde später geschehen? Sie wollte nichts wissen, es gab gar kein Später. Die gebieterische Stimme verlangte nur die brutale, die unverzügliche Tat. Wenn er tot wäre, dann wäre alles vorüber, dann würde er die Fabrik nicht bekommen.

Er kam näher. Da entstand ein furchtbarer Kampf in ihr. Wie lange dauerte er? Tage, Jahre? Ohne Zweifel nur einige Sekunden. Sie war selbstverständlich entschlossen, ihn anzuhalten, sie war sicher, daß sie den wahnsinnigen Gedanken verjagen werde, wenn der Augenblick für die entscheidende Gebärde da war. Aber dieser Gedanke nahm gleichwohl immer mehr Besitz von ihr, ging in ihren Körper über, wurde ein physisches Bedürfnis wie Hunger und Durst. Sie lechzte danach bis zur Pein, sie wurde von einem jener Anfälle heißer Gier ergriffen, aus denen das Verbrechen entsteht, der Überfall auf den Vorübergehenden auf der Straße, der Meuchelmord. Es schien ihr, als ob es ihr Leben kosten müsse, wenn sie die Gier nicht befriedigte. Eine siedende Leidenschaft, ein wahnsinniges Verlangen nach der Vertilgung dieses Menschen schlug über ihr zusammen, wie er so näher kam. Sie sah ihn nun genauer, und Haß und Wut erfüllten sie. Seine Stirn, seine Augen, sein Mund flößten ihr quälenden Abscheu ein. Ein Schritt, noch einer, und noch einer, und er wird bei ihr sein. Noch einen Schritt, und sie wird die Hand ausstrecken, um ihn abzuhalten, so wie er daran rührte.

Er kam näher. Was geschah, großer Gott? Als er da war, so in Gedanken versunken, daß er an ihr vorbeistreifte, ohne sie zu bemerken, wurde sie zu Stein. Ihre Hand war erstarrt, sie konnte sie nicht erheben, sie hing zentnerschwer herab. Die Glut ihres Fiebers hatte einer Eiseskälte Platz gemacht, die ihren Geist und ihre Glieder lähmte, während ein heftiges Brausen, das in ihr entstand, sie betäubte. Aller Widerstreit war verschwunden, das Verlangen nach diesem Tode wurde verzehrend, unwiderstehlich, unter der unablässigen gebieterischen Stimme in ihrem Innern, die sie am Wollen und Handeln hinderte. Er würde sterben, er würde die Fabrik nicht bekommen. Und starr, an die Mauer gedrückt, ohne zu atmen, hielt sie ihn nicht an. Sie hörte das leichte Geräusch seines Atems, sie sah sein Profil, dann seinen Nacken. Er war vorüber. Noch ein Schritt, noch ein Schritt. Gleichwohl, wenn sie ihn anrief, konnte sie noch immer, in dieser letzten Sekunde, das Schicksal ändern. Sie glaubte die Absicht zu haben, aber sie biß die Zähne aufeinander, daß sie beinahe brachen. Dann machte er noch einen Schritt, ohne auch nur aufzublicken, vertrauend auf den wohlbekannten Boden, ganz in Gedanken an seine Arbeit versunken. Und der Boden schwand, ein lauter, furchtbarer Schrei, der Luftstoß des Sturzes, das dumpfe Aufschlagen unten in der Finsternis.

Constance rührte sich nicht. Einen Augenblick stand sie versteinert, immer noch horchend, immer noch wartend. Aber nichts kam aus dem Abgrund als ein tiefes Schweigen. Sie hörte den Regen mit neuer Wut gegen die Scheiben peitschen. Dann entfloh sie, durcheilte den Verbindungsgang, kam in ihren Salon. Hier fand sie sich selbst wieder, befragte sich. Hatte sie denn das Entsetzliche gewollt? Nein, ihr Wille hatte keinen Teil daran. Sicherlich war ihr Wille gelähmt gewesen, unfähig zum Handeln. Wenn es geschehen war, so war es unabhängig von ihr geschehen, denn sicherlich war sie geistesabwesend gewesen. Das Wort, die Macht dieses Wortes, beruhigte sie. Sie klammerte sich daran, wiederholte es. Ja, ja, so war es, sie war geistesabwesend gewesen. Ihr ganzes Leben zog an ihr vorüber, ohne einen Fehltritt, ohne eine schlechte Tat. Sie hatte nie gesündigt, nicht einmal eine unerlaubte Bosheit lastete auf ihrem Gewissen. Eine anständige Frau, hatte sie ihre Würde bewahrt, inmitten der Ausschweifungen ihres Mannes. Eine leidenschaftlich liebende Mutter, stieg sie ihren Leidensweg hinan seit dem Tode ihres Sohnes. Und diese Erinnerung an Maurice allein entzog sie auf einen Augenblick ihrer tränenlosen Starrheit, stieg wie mit einem Anfang von Schluchzen in ihrem Halse auf, als ob hier der Grund ihres Wahnsinns läge, die Erklärung des Verbrechens, nach der sie vergeblich suchte. Ein Schwindel überkam sie wieder – ihr Sohn tot, der andre Herr geworden an seiner Statt – , diese ganz rasende Auflehnung gegen die Entthronung des einzigen Sohnes, des Kronprinzen, flammte wieder auf, diese ganze vergiftete Wut, die in ihr gärte, sie zerrüttete, sie sinnlos bis zum Morde trieb. Hatte diese grauenhafte Flut in ihr also schon das Hirn überschwemmt? Ein Aufwallen des Bluts genügt, um das Bewußtsein zu verdunkeln. Aber sie beharrte dabei, geistesabwesend gewesen zu sein, drängte ihre Tränen zurück, blieb starr. Keine Reue kam über sie. Es war geschehen, es war gut so. Es hatte so sein müssen. Sie hatte ihn nicht gestoßen, er war allein gefallen. Wenn sie nicht dagewesen wäre, wäre er ebenso gefallen. Da sie also nicht dagewesen war, da ihr Verstand, da ihre Seele nicht dagewesen waren, so ging es sie nichts an. Und das Wort erhob sich immer wieder, sprach sie los, bejubelte den Sieg: er war tot, er würde die Fabrik nicht bekommen.

Inmitten des Salons stehend, horchte Constance indes angestrengt hinaus. Warum hörte sie nichts? Wie sie lange brauchten, um hinabzusteigen und ihn aufzuheben! Fieberhaft wartete sie auf den Aufruhr, auf den steigenden Lärm des Entsetzens, der aus der Fabrik heraufkommen sollte, die schweren Schritte, die lauten Stimmen – wartete mit angehaltenem Atem, bei dem leichtesten fernen Geräusche erbebend. Aber die Ruhe war endlos, nichts kam herauf als Schweigen. Wieder vergingen Minuten, sie fühlte sich glücklich über den warmen Frieden ihres Salons. Es war wie ein Asyl ehrsamer Bürgerlichkeit, vornehmer Behaglichkeit, wo sie sich beschützt, geborgen fühlte. Wohlbekannte kleine Gegenstände, ein mit einem Opal geziertes Parfümfläschchen, ein Papiermesser aus oxydiertem Silber, das in einem Buche steckte, gaben ihr ein Gefühl vollkommener Sicherheit. Sie war überrascht, sie da ruhig wiederzufinden, bewegt von ihrem Anblick, als ob sie eine neue Bedeutung gewonnen hätten. Dann überlief sie eine leichte Kälte, sie bemerkte, daß ihre Hände eisig waren. Sie rieb sie leicht gegeneinander, um sie ein wenig zu erwärmen. Warum empfand sie nun eine so große Mattigkeit? Es war, als ob sie von einem weiten Wege zurückgekehrt wäre, als ob sie irgendein Unfall betroffen hätte, als ob sie von Streichen zerschlagen wäre. Sie fühlte eine Art gesättigter Schläfrigkeit, als ob sie, nachdem sie zu hungrig gewesen, sich an etwas zu satt gegessen hätte. Wenn ihr Mann von seinen Orgien heimkehrte, hatte sie ihn manchmal so gesehen, so vollkommen ersättigt, daß er stehend einschlief, endlich ruhig geworden, ohne Wunsch und ohne Bedauern. Und auch sie wünschte nun nichts mehr, in der Mattigkeit, die sie einschläferte, lediglich erstaunt, sie wußte nicht worüber, unklar betroffen von irgend etwas. Sie horchte jedoch wieder hinaus, indem sie sich sagte, daß sie, wenn dieses erschreckende Schweigen fortdauere, sich niedersetzen, die Augen schließen, einschlafen werde. Und aus noch weiter Ferne schien ein leichtes Geräusch zu kommen, kaum ein Hauch.

Was war es? Nein, noch nichts. Vielleicht war alles nur ein grauenhafter Traum gewesen: der herankommende Mann, der Abgrund, der entsetzliche Schrei. Vielleicht war das alles gar nicht wahr, da sie nichts hörte. Von unten hätte der Lärm mit anschwellendem Brausen heraufkommen, eilig über die Treppen und Gänge laufende Schritte hätten ihr die Nachricht bringen müssen. Dann hörte sie wieder das leichte Geräusch, sehr entfernt, aber näherkommend. Es war jedoch keine Menge, kaum ein einzelner Schritt, wahrscheinlich der eines auf dem Kai Vorübergehenden. Aber nein, es kam aus der Fabrik, nun sehr deutlich, erst die Treppen herauf, dann einen Korridor entlang. Und die Schritte beschleunigten sich, und ein keuchender Atem wurde vernehmbar, so unheilverkündend, daß sie endlich das Entsetzliche kommen fühlte. Die Tür wurde aufgerissen.

Morange kam herein. Er war allein, fassungslos, totenbleich, stammelnd.

»Er atmet noch, aber er hat sich den Schädel eingeschlagen, er ist verloren.«

»Was haben Sie?« fragte sie. »Was ist geschehen?«

Er starrte sie verständnislos an. Er war atemlos heraufgelaufen, um eine Erklärung über die Katastrophe zu verlangen, die seinen armen Kopf zum Wahnsinn zu bringen drohte. Die anscheinende Unwissenheit und Gemütsruhe, in der er sie fand, machten ihn vollends verwirrt.

»Aber,« rief er, »ich habe Sie doch bei der Öffnung des Aufzuges gelassen!«

»Jawohl, Sie haben mich dort gelassen. Sie sind hinabgestiegen, und ich bin sogleich hierher gegangen.«

»Aber,« sagte er wieder mit verzweifelter Heftigkeit, »ehe ich hinabstieg, habe ich Sie doch gebeten, mich da zu erwarten, bei der Öffnung zu bleiben, damit niemand hinabstürze!«

»O nein. Sie haben mir nichts gesagt, oder ich habe wenigstens nichts dergleichen gehört oder verstanden.«

Entsetzt fuhr er fort sie anzustarren. Sie log sicherlich. Wenn sie sich auch ruhig stellte, er hörte ihre Stimme beben. Und dann war es zweifellos, daß sie noch hatte dort sein müssen, da er nicht einmal Zeit gehabt hatte, bis hinunter zu gelangen. Plötzlich erinnerte er sich ihres Gespräches, der Fragen, die sie gestellt hatte, des Ausrufs ihres Hasses gegen den, den man blutüberströmt unten gefunden hatte. Und unter dem eisigen Entsetzen, das ihn erstarren machte, brachte der arme Mann nichts andres heraus als: »Nun, Madame, der arme Blaise ist hinter Ihnen drein gekommen und hat sich den Schädel zerschmettert!«

Sie spielte ihre Rolle vortrefflich, erhob zitternd die Hände und rief mit erstickter Stimme:

»Großer Gott! Welch schreckliches Unglück!«

In diesem Augenblicke drang ein immer stärker werdendes Geräusch durch das Haus. Die Tür des Salons war offen geblieben, und man hörte durch dieselbe Stimmen und Schritte, das dumpfe Murmeln herannahender Menschen. Auf der Treppe wurden Befehle gegeben, schwere Tritte, keuchendes Atmen wurde vernehmbar, alles was das Tragen einer ungelenken, vorsichtig gehandhabten Last begleitet.

»Man bringt ihn herauf!« rief Constance mit einem unwillkürlichen Aufschrei, womit sie sich dem Buchhalter vollends verriet. »Man bringt mir ihn hierher!«

Sie erhielt die Antwort nicht von Morange, der betäubt dastand, als hätte er einen Schlag auf den Kopf empfangen. Beauchêne war plötzlich erschienen; er war dem Verunglückten vorausgeeilt, fahl und verstört, von Furcht gepackt durch diesen plötzlichen Eintritt des Todes, der sein Leben der Freuden unterbrach.

»Meine Liebe, Morange hat dir wohl gesagt, welch entsetzliche Katastrophe sich ereignet hat. Es ist noch ein Glück, daß Denis da war, um uns der Familie gegenüber zu entlasten. Und Denis war es auch, der sich widersetzte, als wir den Unglücklichen in seine Wohnung bringen wollten, indem er ausrief, daß wir seine Frau, in den Umständen, in denen sie sich befindet, töten würden, wenn wir ihr ihren Mann sterbend ins Haus brächten! Da blieb uns also nichts, als ihn hier heraufzuschaffen.«

Er wandte sich mit verzweifelten Gebärden wieder der Treppe zu, und man hörte wieder seine bebende Stimme: »Langsam, langsam, gebt auf das Geländer acht!«

Der traurige Zug betrat den Salon. Man hatte Blaise auf eine Matratze gebettet und diese auf eine Tragbahre gelegt. Denis, totenbleich, ging hinterdrein und hielt das Polster, auf dem der Kopf seines Bruders mit geschlossenen Augen und einer Blutspur über der Stirn ruhte, während vier Arbeiter der Fabrik die Bahre trugen. Ihre dicken Schuhe drückten den Teppich nieder, die leichten Möbel wurden beiseite geschoben, um diesem Einzug des Grausens und Entsetzens die Bahn zu öffnen.

Beauchêne, der fortfuhr, den Transport zu leiten, dachte mitten in seiner Bestürzung daran, zu sagen: »Nein, nein, wir wollen ihn nicht hier lassen, im Nebenzimmer ist ein Bett. Heben wir ihn vorsichtig samt der Matratze auf und legen wir ihn so aufs Bett.«

Es war das Zimmer Maurices, mit dem Bett, auf dem Maurice gestorben war, welches Zimmer Constance in ihrer mütterlichen Verehrung unverändert erhalten und dem Andenken ihres Sohnes so geweiht hatte, wie er es damals verließ. Aber was sollte sie sagen? Wie es verhindern, daß nun auch dieser Blaise hier starb, von ihr getötet?

Dieser Greuel, diese vom rächenden Geschick gewollte Entweihung erfüllte sie mit einer solchen Empörung, daß sie davon wie gepeitscht wurde, daß es sie aufrechterhielt, als sie, von einem Schwindel befallen, den Boden unter sich weichen fühlte. Und sie bewies eine außerordentliche Willenskraft und schamlosen Mut. Als der Verunglückte an ihr vorbeigetragen wurde, straffte sich ihr magerer, kleiner Körper und schien zu wachsen. Sie sah ihn an, und ihr gelbes, unbewegliches Gesicht erlitt keine Veränderung als ein leichtes Erzittern der Augenlider und ein unwillkürliches Zucken um ihren linken Mundwinkel, das ihn ein wenig verzog. Das war alles, dann war sie wieder tadellos in Geste und Rede, tat und sagte das Nötige, ohne Ueberschwang, anscheinend bloß ergriffen durch die Plötzlichkeit des Unglücks.

Im Zimmer war indessen das Nötige geschehen, und die Träger entfernten sich erschüttert. Sogleich nach dem Sturze hatte man dem Vater Moineaud aufgetragen, in einen Wagen zu springen und Doktor Boutan, womöglich auch einen Chirurgen, wenn er einen unterwegs finden könne, herbeizurufen.

»Mir ist es doch lieber, daß er da ist, als im Untergeschoß,« sagte Beauchêne mechanisch wieder, vor dem Bette stehend. »Er atmet noch immer, sehen Sie, jetzt war es sehr deutlich. Wer weiß, vielleicht rettet ihn Boutan noch.«

Aber Denis gab sich keiner Täuschung hin. Er hatte eine der regungslosen und kalten Hände seines Bruders in die seinige genommen, und er fühlte, wie sie zum Nichts wurde, als ob auch sie im Sturze zerschmettert und dem Leben entrissen wäre. Einen Augenblick stand er noch unbeweglich an diesem Trauerbette, in der sinnlosen Hoffnung, daß sein inniger Druck etwas von seinem Herzblute auf den Sterbenden übertragen könne. War dieses Blut nicht beiden gemeinsam? Hatten sie, in ihrer Zwillingsbruderschaft, es nicht gemeinsam getrunken? Die Hälfte seines Selbst starb hier dahin. Unten hatte er, nach einem Schrei furchtbaren Entsetzens, nichts mehr gesagt. Plötzlich sprach er:

»Ich muß zu Ambroise gehen, um meinem Vater und meiner Mutter zu sagen, was geschehen ist. Er atmet noch, und sie könnten vielleicht noch früh genug kommen, um von ihm Abschied zu nehmen.«

»Soll ich sie holen?« fragte Beauchêne bereitwillig.

»Nein, nein, ich danke. Ich wollte Sie zuerst um diesen Dienst bitten, aber ich habe überlegt, nur ich kann meiner Mutter das Entsetzliche mitteilen... Sagen Sie auch Charlotte noch nichts. Wir werden dann sehen, wenn ich zurückgekehrt sein werde. Vielleicht verzieht der Tod ein wenig, vielleicht finde ich meinen armen Bruder noch.«

Er neigte sich und küßte Blaise, der noch immer unbeweglich, mit geschlossenen Augen, schwach atmend dalag. Dann küßte er ihm noch mit verzweifelter Gebärde die Hand und eilte fort.

Constance beschäftigte sich um den Verwundeten, ließ sich von der Zofe warmes Wasser bringen, um ihm die Stirn zu waschen. Man konnte nicht daran denken, ihm den Rock auszuziehen, man begnügte sich damit, ihn so viel als möglich zurechtzurichten, bis der Arzt kam. Während dieser Vorbereitungen kam Beauchêne wieder auf das Unglück zu sprechen, verstört, fassungslos.

»Sollte man es für möglich halten? Ein solches Zusammentreffen unsinniger Zufälle! Unten rutscht der Transmissionsriemen ab, so daß der Maschinist den Aufzug nicht wieder hinaufbringen kann. Bonnard oben wird ungeduldig, ruft hinab, und steigt wütend hinunter, da er keine Antwort bekommt. Dann kommt Morange, wird auch ungeduldig, und geht seinerseits hinunter, da er von Bonnard keine Antwort bekommen kann. Und dann kommt Blaise und stürzt hinab! Der arme Bonnard, er weint wie ein Kind, er wollte sich umbringen, als er sah, was er angerichtet hatte!«

Plötzlich unterbrach er sich, um Constance zu fragen: »Ja, und du? Morange sagte mir doch, er habe dich oben an der Oeffnung zurückgelassen?«

Sie stand vor ihm im vollen Licht, das durchs Fenster hereinkam. Sie zwinkerte wieder nur mit den Augenlidern, und ihr linker Mundwinkel zuckte leicht.

»Ich, ich bin sogleich durch den Gang hierher zurückgekehrt. Morange weiß es ja.«

Morange hatte sich kraftlos, mit wankenden Knien auf einen Sessel fallen lassen. Unfähig, irgendwelchen Beistand zu leisten, erwartete er stumm das Ende von dem allen. Als er Constance mit solcher Ruhe lügen hörte, sah er sie an. Sie war die Mörderin, er bezweifelte es nicht mehr. Und ein Verlangen erfaßte ihn, es zu sagen, es laut hinauszuschreien.

»Er glaubt aber, dich gebeten zu haben,« fuhr Beauchêne fort, »nicht wegzugehen, sondern als Wache dazubleiben.«

»In keinem Falle habe ich etwas gehört,« erwiderte sie kalt. »Wäre ich denn fortgegangen, wenn er mich um etwas dergleichen gebeten hätte?«

Und sich gegen den Buchhalter wendend, sah sie ihn kühn mit ihren blassen Augen an.

»Erinnern Sie sich nur, Morange. Sie sind wie sinnlos hinuntergelaufen, und ich bin weitergegangen.«

Unter dem Blick dieser blassen Augen, die sich stählern in die seinen bohrten, wurde er von Furcht ergriffen. Seine ganze Schwäche kehrte wieder, die ganze Mutlosigkeit seiner weichen und unselbständigen Natur. Konnte er sie eines so entsetzlichen Verbrechens anklagen? Er stellte sich die unerhörten Folgen vor. Und er wußte selbst nichts mehr gewiß, sein armer schwacher Kopf verwirrte sich. Er stammelte: »Es ist wohl möglich, ich glaubte, daß ich es gesagt hätte... Es wird wohl so sein, da es nicht anders sein kann.«

Mit einer Gebärde unendlicher Mattigkeit verfiel er wieder in Schweigen. Er hatte die Mitschuld, die sie ihm zuschob, auf sich genommen. Einen Augenblick erfaßte ihn der Wunsch, sich zu erheben, um zu sehen, ob Blaise noch atmete. Aber er wagte es nicht. In dem Gemach trat tiefe Stille ein. Ach, welcher Schmerz, welche Folterqual, als Denis mit Mathieu und Marianne im Wagen saß, um sie zu seinem Bruder zu bringen! Er hatte zuerst nur von einem Unfall, von einem schweren Sturz gesprochen. Aber als der Wagen seinem Ziele näher kam, war seine Verzweiflung zum Ausbruch gekommen, und weinend hatte er auf ihre entsetzten Fragen alles gesagt. Und als sie endlich die Fabrik erreichten, da zweifelten sie nicht mehr, ihr Kind war tot. Die Arbeit war eingestellt worden, und sie erinnerten sich ihres Besuches am Tage nach dem Tode Maurices. Sie traten in dieselbe Reglosigkeit, in dieselbe Grabesstille ein. Das ganze sausende Leben war mit einem Schlage zum Stillstande gekommen, die Maschinen waren kalt und stumm, die Werkstätten finster und leer. Keine Seele, kein Laut, kein Zischen des Dampfes, der der Atem dieses Hauses war. Der Chef war tot, so war auch das Haus tot. Ihr Entsetzen stieg, als sie inmitten dieser vollkommenen Verlassenheit aus der Fabrik ins Wohnhaus kamen; die Galerie war verödet, die Treppe hallte, alle Türen waren oben offen, als betrete man eine seit langem verlassene unbenutzte Wohnung, Im Vorzimmer fanden sie keinen Bedienten. Wieder durchlebten sie dasselbe Drama des plötzlichen Todes, aber diesmal war es ihr Sohn, den sie in demselben Zimmer, auf demselben Bette fanden, kalt, bleich und leblos.

Blaise war im Veratmen. Boutan stand am Bette und hielt die regungslose Hand, in der sich der letzte schwache Pulsschlag verlor. Und als er Mathieu und Marianne eintreten sah, die instinktiv den Salon mit den verschobenen Möbeln durcheilt hatten, in dieses Zimmer gestürzt waren, dessen Todesluft sie wiedererkannten, da konnte er nur, die Augen voll schwerer Tränen, murmeln: »Meine armen Freunde, küssen Sie ihn. Sie werden noch ein wenig von seinem letzten Atemzug erhaschen.« Der schwache Atem war im Begriff zu verfliegen, und die arme Mutter und der arme Vater hatten sich schluchzend, laut jammernd, über ihn geworfen und küßten diese Lippen, die eben noch vom letzten Lebensschauer erbebten. Ihr Blaise war tot. Wie Rose, nur ein kurzes Jahr später, war er plötzlich hingerafft worden, an einem festlichen Tage. Die kaum verharschte Wunde ihres Herzens war in schrecklicher Weise wieder aufgerissen. In ihrem langen Glücke war dies die zweite furchtbare Mahnung an das menschliche Elend, der zweite Axthieb, der auf das blühende Wachstum ihrer gesunden und glücklichen Familie niederfiel. Und mit steigendem Entsetzen fragten sie sich: hatten sie also ihre aufgehäufte Schuld an das Unglück noch nicht genug bezahlt? Würden sie nun, Schlag auf Schlag, allmählich der Vernichtung anheimfallen? Schon als ihre Rose, unter Blumen im ewigen Schlafe dagelegen hatte, war die Furcht an sie herangeschlichen, daß die Fruchtbarkeit und das Gedeihen abbrechen und verdorren könnten, nun die Bresche einmal geöffnet war. Und durch diese blutige Bresche wurde ihnen nun auch ihr Blaise in schrecklicher Weise entführt, zerschmettert von dem eifersüchtigen Zorne des Schicksals. Und morgen würde vielleicht ein andres ihrer Kinder von ihren Herzen gerissen werden, um auch seinerseits den Preis für ihr Glück und ihre Schönheit zu bezahlen!

Lange schluchzten Mathieu und Marianne, am Bette kniend. Constance hielt sich in einiger Entfernung, stumm, wie in bebender Trostlosigkeit. Beauchêne hatte sich, wie um die Furcht vor dem Tode zu besiegen, die ihn schüttelte, an den ehemaligen Schreibtisch Maurices gesetzt, der als pietätvolles Andenken im Salon stehen geblieben war, und versuchte eine Kundmachung an die Arbeiter zu entwerfen, worin ihnen mitgeteilt werden sollte, daß die Fabrik bis zum Tage nach dem Leichenbegängnisse geschlossen bleiben würde. Er bemühte sich vergeblich die Worte zu finden, als er Denis bemerkte, der aus dem Zimmer herauskam, nachdem er alle seine Tränen geweint und seine Seele in einen letzten Kuß gelegt hatte, den er auf seines Bruders Stirn drückte. Er rief ihn, schien ihn zerstreuen zu wollen, indem er sich von ihm helfen ließ.

»Setze dich daher, und fahre fort.«

Und Constance, die auch hereinkam, hörte diese Worte. Es waren die Worte, die ihr Mann damals gesprochen hatte, als er Blaise sich an diesen selben Schreibtisch Maurices setzen ließ, an jenem Tage, da er ihm den Platz ihres armen Kindes eingeräumt hatte, dessen Körper noch im Nebenzimmer auf dem Bette lag. Sie fuhr zurück, das Herz stand ihr still, als sie Denis an diesem Schreibtisch sitzen sah. War das nicht der auferstandene Blaise? So wie sie an diesem selben Nachmittag, nach dem fröhlichen Taufmahle, die Zwillinge verwechselt hatte, so sah sie nun hier Blaise und Denis wieder einander so gleich, daß auch ihre Eltern sie einst nur nach der Farbe ihrer Augen unterscheiden konnten. Blaise war wiedergekehrt, er hatte seinen Platz wieder eingenommen; er würde doch die Fabrik bekommen, trotzdem sie ihn getötet hatte. Sie hatte sich getäuscht; wenn er auch tot war, so würde er doch die Fabrik bekommen. Sie hatte einen von ihnen getötet, von diesen Froment, aber ein andrer kam zum Vorschein. Wenn einer starb, trat ein andrer in die Lücke. Und ihr Verbrechen erschien ihr mit einemmal so nutzlos, so sinnlos, daß sie stumpf vor sich hinstierend dastand, fühlte, wie ihr Haar sich sträubte, wie ihr der Angstschweiß ausbrach, als sähe sie ein Gespenst.

»Es ist eine Kundmachung für die Arbeiter,« erklärte Beauchêne. »Wir werden sie ans Tor kleben.«

Sie raffte sich auf, näherte sich und sagte zu ihrem Manne: »Mach doch das selbst. Warum bemühst du Blaise in einem solchen Augenblicke?«

Sie hatte Blaise gesagt, und wieder faßte sie das kalte Grauen. Unwillkürlich hörte sie sich dort in dem Vorzimmer wieder sagen: »Blaise, wo habe ich meine Boa hingetan?« Und Denis hatte sie ihr gebracht. Was half es, Blaise zu töten, wenn Denis da war? Wenn der Tod einen dieser Soldaten des Lebens abmäht, so tritt gleich ein andrer an die leer gewordene Stelle.

Aber sie sollte noch eine letzte Niederlage erleiden. Marianne und Mathieu kamen heraus, während Morange, in einem unklaren Bedürfnis sich zu bewegen, stumpfsinnig auf und ab ging, immer auf und ab, durch dieses Wirrsal entsetzlicher Schmerzen, namenloser Dinge, die seinen armen schwachen Kopf vollends verdrehten.

»Ich muß hinuntergehen,« stammelte Marianne, ihre Tränen zu trocknen versuchend und sich mit Anstrengung aufrechterhaltend. »Ich muß zu Charlotte, sie vorbereiten, ihr das Unglück mitteilen. Nur ich kann die Worte finden, daß sie nicht stirbt, in dem Zustand, in dem sie sich befindet.«

Mathieu versuchte angstvoll, sie zurückzuhalten, um ihr diese neue Prüfung zu ersparen.

»Nein, ich bitte dich! Denis wird gehen, oder ich selbst.«

Aber sie wehrte ihn sanft eigensinnig ab und ging weiter gegen die Tür.

»Ich versichere dir, nur ich kann es ihr sagen. Ich werde stark genug sein.« Und plötzlich verließen sie die Kräfte, sie fiel in Ohnmacht. Man mußte sie auf ein Sofa im Salon legen. Und als sie wieder zu sich kam, das Gesicht ganz weiß und verzerrt, wurde sie von ungemein heftigem Erbrechen befallen.

Während Constance sich außerordentlich besorgt und beflissen zeigte, ihrer Zofe klingelte, ihre Hausapotheke herbeibringen ließ, gestand Mathieu die Wahrheit, welche das Ehepaar bisher verschwiegen hatte.

»Sie ist schwanger, ja, seit vier Monaten, so lange wie Charlotte. In ihrem Alter, mit dreiundvierzig Jahren, war sie ein wenig verlegen darüber, und wir haben nicht davon gesprochen. Ach, die teure, tapfere Frau, sie, die ihrer Schwiegertochter eine zu heftige Erschütterung ersparen wollte, wenn sie nur nicht selbst erliegt!«

Schwanger, großer Gott! Constance hatte die Nachricht empfangen wie den letzten, schwersten Schlag, der sie vollends vernichtete. Wenn sie also nun Denis in den Tod gehen ließe, so würde wieder ein Froment hervorwachsen, der ihn ersetzte? Und wieder einer, und wieder einer, bis ins Unendliche!« Es war eine Wucherung von Kraft, von unversiegbarem Leben, gegen die jeder Kampf vergeblich war. In ihrer Betäubung darüber, daß die Bresche, kaum durchbrochen, schon wieder ausgefüllt war, fühlte sie die jämmerliche Ohnmacht, die Leere ihrer Unfruchtbarkeit. Sie war geschlagen, von Furcht überwältigt, wie weggetragen, weggefegt von dem siegreichen Überquellen dieser unerschöpflichen Fruchtbarkeit.


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