Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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2

Als Mathieu seine Nachforschungen begann, war sein erster Gedanke, sich, noch ehe er mit Beauchêne gesprochen hatte, unmittelbar an das Findelhaus zu wenden. Wenn das Kind tot war, wie er vermutete, so würde das der Sache ein Ende machen. Er erinnerte sich glücklicherweise der kleinsten Einzelheiten, des Doppelvornamens Alexandre Honoré, des genauen Datums der Uebergabe, aller Vorgänge des Tages, an welchem er die Couteau im Wagen hingebracht hatte. Er wurde vom Direktor des Hauses empfangen, und nachdem er seinen Namen genannt und den Anlaß seines Kommens erklärt hatte, erhielt er zu seiner Ueberraschung die unverzügliche und präzise Auskunft: Alexandre Honoré wurde zu einer Frau Loiseau in Rougemont in Pflege gegeben, blieb dort bis zu seinem zwölften Jahre, und ist seit drei Jahren in der Lehre bei einem Wagner Namens Montoir in Saint-Pierre, einem benachbarten Dorfe. Das Kind lebte, war fünfzehn Jahre alt – das war alles, er konnte keine andre Auskunft erhalten, weder über seine körperliche noch über seine seelische Beschaffenheit.

Auf der Straße erinnerte sich Mathieu, der ein wenig betäubt war, daß ihm die Couteau allerdings gesagt hatte, das Kind würde, wie sie von einer Wärterin erfahren habe, nach Rougemont gesendet werden. Aber er hatte sich vorgestellt, daß es dort gestorben sei, von dem Todeswind fortgetragen, der die Neugeborenen dezimiert, daß es auf dem stillen Friedhofe von Rougemont liege, der von kleinen Parisern bedeckt ist. Es nun wiederzufinden, dem Gemetzel entronnen, war eine Ueberraschung des Schicksals, die ihm das Herz beklemmte, wie in ungewisser Furcht vor kommendem Unglück. Aber da das Kind lebte, und er nun wußte, wo er es finden könne, empfand er die Notwendigkeit, Beauchêne zu benachrichtigen, ehe er weiterforschte. Die Sache wurde ernst, er glaubte ohne die Zustimmung des Vaters nichts weiter unternehmen zu sollen.

Ehe er daher nach Chantebled zurückkehrte, begab sich Mathieu nach der Fabrik, wo er das Glück hatte, Beauchêne anzutreffen, den die Abwesenheit Blaises an sein Bureau fesselte. Er fand ihn in sehr verdrießlicher Stimmung, gähnend, schnaufend, halb eingeschlafen. Es war drei Uhr, und er konnte nicht mehr verdauen, sagte er, wenn er nicht nach dem Essen ausging. In Wirklichkeit verbrachte er, seit dem Bruch mit seiner Frau, die Nachmittage mit einer Kellnerin, der er eine Wohnung eingerichtet hatte.

»Ach, mein lieber Freund,« sagte er, sich dehnend, »mein Blut fängt an dick zu werden. Ich muß mir Bewegung machen, sonst ist das mein Tod.«

Aber er ermunterte sich, als ihm Mathieu in klaren Worten den Zweck seines Besuches auseinandersetzte. Zuerst verstand er gar nicht, so ungeheuerlich, unsinnig erschien ihm die Sache. »Wie? Was sagen Sie da? Meine Frau hat Ihnen von diesem Kinde gesprochen? Sie hat den glänzenden Einfall gehabt, zu verlangen, daß nachgeforscht, daß es ausfindig gemacht werde?«

Sein dickes rotes Gesicht verzerrte sich, er stammelte im Uebermaß des Zornes. Und als er hörte, mit welcher bestimmten Aufgabe sie den Cousin betraut hatte, brach er los.

»Sie ist verrückt, ich sage Ihnen, daß sie von der Tollwut ergriffen ist! Hat man je von solchen Launen gehört? Jeden Tag verfällt sie auf eine neue Erfindung, auf eine neue Qual, um mich um den Verstand zu bringen!«

Mathieu schloß ruhig:

»Ich komme also aus dem Findelhaus, wo ich erfahren habe, daß das Kind lebt. Ich weiß seine Adresse. Was soll nun geschehen?« Das war der letzte Schlag. Beauchêne, außer sich, ballte die Fäuste, hob die Arme empor.

»Nun also, da haben wir die Bescherung! ... Aber zum Tausend Donnerwetter, was hat sie mich denn mit diesem Kind zu plagen? Es ist doch nicht von ihr, so soll sie uns also ungeschoren lassen, das Kind und mich! Die Kinder, die ich etwa habe, gehen mich allein an. Ich frage Sie doch nur, ob das anständig ist, daß meine Frau Sie nach ihnen auf die Suche schickt? Und dann, was noch? Sie werden ihn ihr doch nicht bringen, hoffe ich? Was sollen wir mit ihm anfangen, mit diesem kleinen Bauern, der vielleicht alle Laster hat? Stellen Sie sich ihn da zwischen uns vor... Ich sage Ihnen, sie ist toll, sie ist toll, sie ist toll!«

Er rannte wütend auf und ab. Dann blieb er plötzlich stehen.

»Mein Lieber, Sie müssen mir einen Gefallen tun und ihr sagen, daß er tot ist.«

Aber er erbleichte und wich zurück. Constance stand auf der Schwelle und hatte ihn gehört. Seit einiger Zeit strich sie so durch die Bureaus der Fabrik, erschien geräuschlos bald da, bald dort, als ob sie eine Ueberwachung ausüben wollte. Einen Augenblick stand sie schweigend den beiden verlegenen Männern gegenüber. Dann fragte sie gelassen, ohne auch nur das Wort an ihren Mann zu richten:

»Er lebt, nicht wahr?«

Mathieu konnte nicht anders als die Wahrheit sagen. Er bejahte mit einem Kopfnicken. Und Beauchêne machte einen letzten, verzweifelten Versuch. »Sieh doch nur, meine Liebe, sei vernünftig! Ich habe es soeben gesagt, wir wissen ja nicht einmal, was er wert ist, dieser Junge. Du wirst doch nicht mutwillig unser Leben zerstören wollen!«

Sie sah ihn kalt und hart an. Dann wendete sie ihm den Rücken und fragte nach dem Namen des Kindes, nach dem Namen des Wagners und des Dorfes.

»Gut. Sie sagen also Alexandre Honoré, bei dem Wagner Montoir, in Saint-Pierre bei Rougemont, im Departement Calvados ... Nun, lieber Freund, erweisen Sie mir den Dienst, Ihre Nachforschungen fortzusetzen, suchen Sie genaue Auskunft über den Charakter und die Gewohnheiten dieses Kindes zu erhalten. Seien Sie vorsichtig, ja? Nennen Sie keinen Namen. Dank schon jetzt, vielen Dank für alles, was Sie für mich getan haben.«

Und sie ging ohne weitere Erklärung, ohne ihrem Manne auch nur ein Wort über ihre Absichten zu sagen, die übrigens vielleicht so unklar waren, daß sie selbst sie nicht kannte. Er war angesichts dieser niederschmetternden Verachtung ruhig geworden. Warum sollte er sich sein Leben egoistischen Genusses verderben, indem er der Wahnsinnigen entgegentrat, die er fortan neben sich hatte? Es blieb ihm nichts, als seinen Hut zu nehmen und fortzugehen, seinem gewohnten Vergnügen nach. Er zuckte seine massigen Schultern.

»Schließlich, sie soll ihn meinetwegen auflesen, wenn sie will. Die Dummheit ist dann nicht meine. Gehorchen Sie ihr, mein Lieber, setzen Sie Ihre Erkundigungen fort, tun Sie ihr den Willen. Vielleicht läßt sie mich dann ungeschoren ... Und für heute habe ich genug, ich gehe, guten Abend!«

Der erste Gedanke Mathieus war, sich um Auskunft an die Couteau zu wenden, wenn er sie wiederfinden könne. Sie war von Berufs wegen diskret, und es würde nur nötig sein, ihr Schweigen zu erkaufen. Schon hatte er sich vorgesetzt, morgen zu Madame Bourdieu in die Rue Miromesnil zu gehen, um dort Erkundigungen einzuziehen, als ihm der Gedanke an eine andre Spur kam, die ihm sicherer schien. Nachdem er, seit Chantebled vollständig in seinen Besitz übergegangen war, lange Zeit die Séguin nicht gesehen hatte, war der Verlehr zwischen ihnen infolge besonderer Umstände wiederbelebt worden; und er hatte zu seiner Ueberraschung bei Valentine ihre ehemalige Zofe Céleste gefunden, die damals verabschiedet, aber seit einigen Monaten in Gnade wieder aufgenommen war. Seine Erinnerung erwachte, er sagte sich, daß er durch Céleste auf kürzestem Wege zu der Couteau gelangen werde.

Dieses neue Band, das sich zwischen den Séguin und den Froment knüpfte, hatte eine glückliche Vorgeschichte. Ambroise, der nächste nach den Zwillingen, der nun bald einundzwanzig Jahre zählte, war, nach seinem Austritt aus der Schule, mit achtzehn Jahren zu einem Onkel Séguins, Thomas du Hordel, einem der reichsten Warenkommissionäre in Paris, eingetreten. Seit der Zeit hatte du Hordel, ein alter Mann, der aber noch immer sein Haus mit jugendlicher Tatkraft leitete, eine stets wachsende Zuneigung zu diesem hochbegabten Jüngling gefaßt, in welchem ein kaufmännisches Genie zum Vorschein kam. Er selbst hatte nur zwei Töchter gehabt, deren eine jung gestorben, die andre an einen Wahnsinnigen verheiratet war, der sich eine Kugel in den Kopf gejagt hatte und seine Frau ebenfalls geistesverwirrt und kinderlos zurückließ. Daraus erklärte sich das lebhafte großväterliche Interesse, das du Hordel an Ambroise nahm, diesem Wundermenschen, der ihm da vom Himmel fiel, der schönste der Froment, mit hellem Teint, großen schwarzen Augen, natürlich gelockten braunen Haaren, und von vollendeter Eleganz der Erscheinung. Aber was ihn noch mehr bezaubert hatte, das war der außerordentliche Unternehmungsgeist des jungen Mannes, die vier Sprachen, die er geläufig sprach, das angeborene Führertalent, welches ihn eines Tages zur Leitung dieses Hauses befähigen würde, dessen Geschäfte sich über alle fünf Weltteile erstreckten. Noch ganz jung war er bereits unter seinen Geschwistern der kühnste gewesen, der die andern beeinflußte und mit sich riß. Die andern mochten die Besseren sein, er regierte über sie als schöner, ehrgeiziger, leckerer Junge, der künftige Eroberer und Lebenskünstler. Und so kam es, daß der alte du Hordel in wenigen Monaten von dem Zauber seiner sieghaften Genialität erobert war, gerade so wie er später alles erobern sollte, was ihm gefiel seinem Glücke zu unterwerfen, die Menschen und die Dinge. Seine Macht bestand darin, zu gefallen und zu handeln, Anmut mit eiserner Tatkraft zu vereinen.

Um diese Zeit erfolgte eine Wiederannäherung zwischen Séguin und seinem Onkel, der den Fuß nicht mehr in das Palais in der Avenue d'Antin setzte, seitdem dort die Tollheit herrschte. Aber dieser anscheinenden Versöhnung war ein ganzes geheim gehaltenes Drama vorhergegangen. Nun ganz verschuldet, von Nora verlassen, die den Ruin kommen fühlte, in die Hände der schlimmsten Ausbeuterinnen gefallen, hatte Séguin schließlich auf der Rennbahn eine jener Inkorrektheiten begangen, die man unter ehrlichen Leuten Diebstahl nennt. Von dem Geschehenen benachrichtigt, war du Hordel herbeigeeilt, hatte bezahlt, um den schrecklichen Skandal zu vermeiden, und war so betroffen über die greuliche Verwirrung, in der er das einst so blühende Haus seines Neffen wiederfand, daß er darüber lebhafte Gewissensbisse empfand, als ob er selbst an diesem Niedergang mitschuldig wäre, weil er sich aus Egoismus, um seinen Frieden nicht stören zu lassen, ferngehalten hatte. Aber besonders wurde sein Herz von seiner Großnichte Andrée gefangen genommen, einem reizenden Geschöpfe von bald achtzehn Jahren, die nun schon heiratsfähig war, und die genügt hätte, ihn fortan hier festzuhalten, so erschüttert war er von der gefahrvollen Verlassenheit, in der er sie fand. Der Vater setzte sein Leben außerhalb fort. Die Mutter, Valentine, hatte sich kaum von einer schrecklichen Verzweiflungskrise erholt, in welche sie der endgültige Bruch mit Santerre gestürzt hatte, der, müde geworden, die Lasten der Ehe zu tragen, ohne ihre Vorteile zu genießen, eine alte, sehr reiche Dame geheiratet hatte – das folgerichtige Ende dieses verschlagenen Frauenausbeuters, mit der niedrigsten und gierigsten Seele hinter der Pose des pessimistischen Literaten, der die Dummheit einer in Zersetzung begriffenen Gesellschaft zum einträglichen Geschäfte machte. Ins Herz getroffen, hatte Valentine, nun dreiundvierzig Jahre alt, in zitternder Furcht, nicht mehr geliebt zu werden, sich mehr als je der Religion ergeben, wo sie fast augenblickliche Tröstung in Gemeinschaft mit diskreten Männern gefunden zu haben schien. Jetzt verschwand auch sie auf ganze Tage, man sagte, sie sei die tätige Mitarbeiterin des alten Grafen Navarède, der Präsident einer Gesellschaft für katholische Propaganda war. Gaston, der Saint-Cyr vor drei Monaten verlassen hatte, befand sich in Fontainebleau, von so schöner militärischer Begeisterung erfüllt, daß er bereits davon sprach, Junggeselle zu bleiben, da ein Offizier keine andre Liebe, keine andre legitime Frau haben dürfe als seine Klinge. Lucie, neunzehn Jahre alt, war endlich bei den Ursulinerinnen eingetreten, wo sie bald den Schleier nehmen sollte, beglückt, das Opfer ihres Leibes zu vollenden, vor dem sie heftigen Widerwillen empfand, keine andre Sehnsucht kennend, als unfruchtbar zu bleiben, ohne Geschlecht und ohne Begierde. Und in dem großen, leeren Hause, welches Vater und Mutter, Bruder und Schwester verlassen hatten, blieb nur die sanfte und liebenswürdige Andrée, von den Tollheiten bedroht, die hier die Luft erfüllten, in so schrecklicher Verlassenheit, daß der Onkel du Hordel, von Mitleid und Zärtlichkeit ergriffen, den trefflichen Plan gefaßt hatte, ihr Ambroise, den künftigen Eroberer, zum Gatten zu geben.

Und die Wiederkehr Célestens in das Haus beschleunigte den Plan dieser Verehelichung. Acht Jahre waren bereits vergangen, seitdem Valentine ihre Zofe hatte verabschieden müssen, die, zum dritten Male schwanger geworden, ihren Zustand nicht hatte verbergen können. Während dieser acht Jahre hatte Céleste, des Dienens überdrüssig, sich in allerlei zweideutigen Gewerben versucht, von denen sie nicht sprach. Zuerst hatte sie sich damit befaßt, niedergekommenen Mädchen billige Kinderwäsche zu verkaufen, wodurch sie bei den Hebammen Eingang gefunden hatte und deren Vertraute, Sendbotin und Vermittlerin gegen oft ausgiebige Belohnung geworden war; dann wurde sie Faktotum eines verrufenen Hauses, und machte gemeinsame Sache mit der Couteau, die aus der Normandie zugleich mit ihren Ammen auch junge hübsche und gefällige Bäuerinnen mit hereinbrachte. Doch das Haus hatte Unglück gehabt, und Céleste war verschwunden, nachdem sie sich vor der polizeilichen Hausdurchsuchung durch einen Sprung aus dem Fenster gerettet hatte. Dann gähnte eine Kluft von achtzehn Monaten, als ob sie in die Erde versunken gewesen wäre. Sie tauchte in Rougemont, ihrer Heimat, wieder auf, krank und elend, im Taglohn arbeitend, um zu leben, allmählich sich wieder erholend und in bessere Verhältnisse kommend, dank der Protektion des Pfarrers, den ihre außerordentliche Frömmigkeit besiegt hatte. Da hatte sie wohl den Plan gefaßt, wieder bei den Séguin einzutreten; sie war von allem, was da vorging, durch die Couteau unterrichtet, die mit Madame Menoux, der kleinen Krämerin der Nachbarschaft, in Verbindung geblieben war. Unmittelbar nach ihrem Bruch mit Santerre, an einem Tag wütender Verzweiflung, wo sie wieder einmal ihr ganzes Gesinde gleichzeitig verabschiedet hatte, sah Valentine sie plötzlich vor sich, so reuevoll, so ergeben und so wohlanständig in ihrem Wesen, daß sie davon gerührt war. Und als sie ihr ihren Fehltritt in Erinnerung rief, brach sie in Tränen aus, und erbot sich, vor Gott einen Eid abzulegen, daß sie nie wieder dergleichen tun werde; denn sie ging nun zur Beichte und Kommunion und brachte sogar vom Pfarrer von Rougemont ein Zeugnis über außerordentliche Frömmigkeit und vorwurfslose Moral mit. Dieses Zeugnis gab bei Valentine den Ausschlag, die sogleich sah, welch wertvollen Beistand sie in diesem Mädchen finden werde, nun, da sie, von den Widerwärtigkeiten ihres Hauses abgestoßen, sich demselben immer mehr entfremdete. Auf dieses Ueberlassen der Machtvollkommenheit in ihre Hände hatte Céleste gerechnet. Zwei Monate später hatte sie, indem sie das Uebermaß religiöser Uebungen bei Lucie beförderte, diese ins Kloster gedrängt. Gaston erschien nur an den Tagen, wo er Urlaub hatte; es blieb also nur Andrée zu Hause, die einzige, die noch im Wege war, die durch ihre Gegenwart den großen Raubzug verhinderte. Daher war die Zofe die eifrigste Mitarbeiterin an der Heirat des Fräuleins geworden.

Ambroise hatte übrigens Andrée in seiner gewohnten erobernden Weise erobert. Schon seit einem Jahre begegnete er ihr bei ihrem Onkel du Hordel, noch ehe dieser den Plan gefaßt hatte, sie zu verheiraten. Sie war ein großes sanftes Kind, ein blondes Schaf, wie ihre Mutter sie nannte. Dieser schöne, lächelnde junge Mann, der sich so aufmerksam gegen sie zeigte, war der Inhalt ihrer Gedanken geworden, ihre Hoffnung, in die sie sich gerne flüchtete, wenn sie zu sehr unter der Verlassenheit litt, in der sie lebte. Sie wurde von ihrem Bruder nicht mehr geschlagen, aber sie hatte das Unheil der Zerstörung in der Familie wachsen gefühlt, sie ahnte die Gefahr, die ihr von all dem Schändlichen und Niedrigen drohte, das sie umgab, ohne sich dessen klar bewußt zu sein. Als daher ihr Onkel, auf sein Rettungswerk sinnend, ihr vorsichtig von Heirat, von Ambroise gesprochen hatte, war sie ihm mit Tränen der Dankbarkeit und des Geständnisses um den Hals gefallen. Valentine hatte, als sie hierüber ausgeholt wurde, zuerst einige Ueberraschung gezeigt: ein Sohn der Froment? Sie hatten ihnen Chantebled genommen, wollten sie ihnen auch noch eine ihrer Töchter nehmen? Dann fand sie aber keinen vernünftigen Einwand, angesichts des vollständigen Zusammenbruchs, dem das Haus zutrieb. Sie hatte Andrée nie geliebt, deren Amme, die Catiche, sie beschuldigte, sich sie mit ihrer Milch, der Milch eines geduldigen Haustieres, zu eigen gemacht zu haben. Und sie sagte häufig, dieses gutmütige Schaf, von so zärtlicher Gemütsart, sei keine Séguin. Indem sie sich stellte, als verteidige sie das Mädchen, reizte Céleste die Mutter noch mehr gegen sie auf, flößte ihr den Wunsch ein, sich ihrer durch eine rasche Heirat zu entledigen, um unbehindert ihren Neigungen frönen zu können. Und nachdem du Hordel lange mit Mathieu gesprochen hatte, der seine Einwilligung gab, blieb ihm nur noch, die Séguins zu erlangen, ehe die Eltern die förmliche Werbung vorbrachten. Aber es war nicht leicht, Séguin in passender Umgebung zu finden. Wochen verstrichen, man mußte Ambroise beruhigen, der sehr verliebt geworden war, und sicherlich auch durch sein Eroberergenie witterte, welches Königreich dieses liebevolle und bescheidene Kind ihm in einer Falte ihres Kleides versteckt mitbrachte.

Eines Tages, als Mathieu, durch die Avenue d'Antin kam, entschloß er sich, zu Séguin hinaufzugehen, um zu erfahren, ob dieser schon zurückgekehrt sei. Er war eines Tages plötzlich verschwunden; er sei nach Italien gereist, hieß es. Und als Mathieu sich nun Céleste allein gegenüber sah, hielt er die Gelegenheit für günstig, um sich nach der Couteau zu erkundigen. Er unterhielt sich also eine Weile mit ihr und fragte schließlich nach der Zuführerin, da einer seiner Freunde, sagte er, eine gute Amme suche.

»Sie kommen eben recht,« erwiderte die Zofe entgegenkommend, »die Couteau soll heute unsrer kleinen Nachbarin, Madame Menoux, ein Kind zurückbringen. Es ist nahe an vier Uhr, und das ist gerade die Stunde, um welche sie kommen wollte. Madame Menoux ist ganz in der Nähe, die erste Gasse links, der dritte Laden.«

Dann entschuldigte sie sich, daß sie ihn nicht hinführen könne.

»Ich bin allein zu Hause. Der Herr hat noch immer nichts von sich hören lassen. Madame präsidiert am Mittwoch immer in der Propaganda, und Mademoiselle Andrée ist von ihrem Onkel abgeholt worden, zu einem Spaziergang, glaube ich.« Mathieu beeilte sich, Madame Menoux aufzusuchen. Von weitem sah er die Krämerin auf der Schwelle ihres Ladens stehen; sie war je älter noch immer magerer geworden, und nun mit vierzig Jahren an Gestalt einem kleinen jungen Mädchen gleich, mit einem schmalen, dünnen Gesichtchen. Sie war gleichsam verzehrt von lautloser Tätigkeit, sie rieb sich seit zwanzig Jahren auf, um ihre Nadeln und Zwirn zu verkaufen, ohne Reichtum zu erwerben, nur glücklich, jeden Monat ihren schmalen Gewinn dem Gehalte ihres Mannes hinzuzufügen, um ihm einige kleine Annehmlichkeiten zu verschaffen. Sein Rheumatismus würde ihn zweifellos zwingen, seinen Posten im Museum zu verlassen, und was sollten sie mit einem Gnadengehalt von ein paar hundert Franken anfangen, wenn sie ihr Geschäft nicht fortsetzte? Dann hatten sie auch Unglück gehabt: der Tod ihres ersten Kindes, dieses späte Kommen ihres zweiten, das sie allerdings jubelnd empfangen hatten, das aber doch eine schwere Last für sie bildete, besonders jetzt, da sie sich hatte entschließen müssen, es zu sich zu nehmen. Und Mathieu fand sie nun in der starken Erregung der Erwartung auf der Schwelle ihres Ladens, ins Weite blickend, die Ecke der Straße ängstlich bewachend.

»Céleste schickt Sie, Monsieur? Nein, die Couteau ist noch nicht da. Aber ich wundere mich sehr darüber, ich erwarte sie von Minute zu Minute. Vielleicht bemühen Sie sich herein, Monsieur, und nehmen ein wenig Platz.«

Er wies dankend den einzigen Sessel zurück, der den schmalen Raum beengte, in welchem kaum drei Kunden Platz hatten. Hinter einer Glastür sah man rückwärts das dunkle Gelaß, in welchem das Ehepaar wohnte, zugleich Küche, Eßzimmer und Schlafzimmer, das Luft und Licht nur aus einem feuchten Hof empfing, der dahinter lag.

»Sie sehen, Monsieur, daß wir nicht viel Platz haben. Aber wir zahlen hier nur achthundert Franken, und wo fänden wir sonst einen Laden zu diesem Preise? Abgesehen davon, daß ich mir in diesen zwanzig Jahren eine kleine Kundschaft im Viertel verschafft habe. Oh, ich, ich beklage mich nicht, ich bin nicht dick, für mich ist überall Platz genug. Und da mein Mann erst abends nach Hause kommt, so setzt er sich mit seiner Pfeife in den Lehnsessel und fühlt sich auch nicht zu beengt. Ich verwöhne ihn soviel ich kann, und er ist einsichtsvoll genug, nicht mehr zu verlangen. Aber mit einem Kinde wird es zur Unmöglichkeit.«

Die Erinnerung an ihr erstes Kind, den kleinen Pierre, fiel ihr aufs Herz und füllte ihr die Augen mit Tränen.

»Ach, Monsieur, es sind nun zehn Jahre her, und ich sehe noch die Couteau, wie sie ihn mir zurückgebracht hat, so wie sie mir nun gleich den andern zurückbringen wird. Es wurde mir so viel vorerzählt, wie gut die Luft in Rougemont sei, und eine wie gesunde Lebensweise die Kinder führen, und was der meinige für rote Backen habe, daß ich ihn bis zu fünf Jahren dort gelassen habe, um so mehr, als ich zu meinem Kummer hier keinen Platz für ihn hatte. Und was die Pflegerin mir für Geschenke erpreßt hat, was ich für Geld hergegeben habe, nein, davon machen Sie sich keinen Begriff, es hat mich zugrunde gerichtet! Und auf einmal habe ich gerade nur Zeit gehabt, ihn zurückkommen zu lassen, man hat mir ein so mageres, bleiches, schwaches Kind zurückgebracht, als ob er in seinem Leben kein gutes Brot gegessen hätte. Zwei Monate später ist er in meinen Armen gestorben. Der Vater ist davon krank geworden, Monsieur, und wenn wir uns nicht gern gehabt hätten, so glaube ich, hätten wir uns beide ins Wasser geworfen.«

Sie trat fieberisch, mit halbgetrockneten Augen wieder auf die Schwelle, um abermals mit ungeduldiger Erwartung die Straße hinabzublicken. Und als sie, ohne etwas gesehen zu haben, zurückkehrte, fuhr sie fort:

»Sie können sich also unsre Gefühle vorstellen, als ich vor zwei Jahren, mehr als siebenunddreißig Jahre alt, wieder einen Knaben bekam. Wir waren närrisch vor Freude wie Jungverheiratete. Aber trotzdem, welche Verlegenheit, welche Sorgen! Wir haben ihn wieder in Pflege geben müssen, da wir ihn nicht bei uns behalten konnten. Und obschon wir uns geschworen hatten, daß er nicht nach Rougemont sollte, haben wir uns schließlich doch gesagt, daß wir den Platz kennen, daß er dort nicht schlechter aufgehoben sein würde als anderswo. Nur habe ich ihn zu der Vimeux gegeben, ich wollte nichts mehr von der Loiseau wissen, die mir meinen Pierre in einem solchen Zustande zurückgeschickt hat. Und jetzt, wo das Kind zwei Jahre alt ist, wollte ich nichts mehr von schönen Worten, von schönen Versprechungen, hören, und habe darauf bestanden, daß man mir ihn zurückbringt, obschon ich noch gar nicht weiß, wo ich ihn unterbringen soll. Ich erwarte sie seit einer Stunde, ich zittere schon vor Angst, so fürchte ich mich immer vor irgendeinem Unglück.«

Es duldete sie nicht mehr im Laden, sie blieb an der Tür, den Hals vorgestreckt, die Augen auf die Straßenecke geheftet. Plötzlich stieß sie einen Ruf der Erleichterung aus.

»Da sind sie!«

Ohne Eile, mürrisch und abgehetzt, trat die Couteau ein und legte das schlafende Kind in die Arme der Menoux, indem sie sagte:

»Er hat ein gehöriges Gewicht, Ihr Georges, das kann ich Ihnen sagen. Bei dem werden Sie nicht behaupten, daß man ihn Ihnen als Skelett zurückbringt.«

Mit vor Freude zitternden Knien hatte die Mutter sich niedergesetzt, das Kind auf dem Schoße, und küßte es, und sah es an, um sich nur gleich zu überzeugen, ob es gesund war, ob es leben werde. Es hatte ein volles, ein wenig blasses Gesicht, er schien stark und dick. Aber als sie ihn mit vor Erregung bebenden Händen aufgewickelt hatte, fand sie, daß er magere Aermchen und Beinchen und einen starken Bauch hatte.

»Sein Bauch ist sehr dick,« sagte sie; ihre Freude war verflogen, eine neue Furcht hatte sie ergriffen.

»Nun wollen Sie sich auch noch beklagen!« rief die Couteau. Der andre war zu mager, der ist zu dick. Die Mütter sind doch nie zufrieden!«

Beim ersten Blick hatte Mathieu gesehen, daß dies eines jener mit Suppe genährten, aus Sparsamkeit mit Wasser und Brot vollgestopften Kinder war, die allen Magenkrankheiten der ersten Kindheit anheimfallen. Und angesichts dieses armen Wesens erhob sich das schreckliche Rougemont, mit seinem täglichen Gemetzel von Unschuldigen, vor seinem Geiste, so wie es ihm damals beschrieben worden war. Er sah die Loiseau, von so widerwärtiger Unsauberkeit, daß die Kinder auf einem Misthaufen verkamen; die Vimeux, die nie einen Tropfen Milch kaufte, die im Dorfe die Speisereste zusammensuchte und für ihre Pfleglinge Kleiengrütze machte, so wie man sie für die Schweine macht; die Gavette, die immer auf dem Felde war und die Kinder einem alten gelähmten Manne überließ, der manchmal eins ins Feuer fallen ließ; die Cauchois, die sich damit begnügte, sie in den Wiegen festzubinden, da sie niemand hatte, um sie zu bewachen, und sie den Hühnern überließ, die ihnen in die Augen pickten, den Fliegen, die ungestört auf ihnen herumkrochen. Und der Tod räumte unter ihnen auf, sie wurden in Scharen hingemordet, man ließ die Tür gegen eine Reihe von Wiegen offen, um rascher für die neuen Sendungen aus Paris Platz zu machen. Gleichwohl starben nicht alle, da doch wenigstens dieses da zurückkam. Aber wenn man sie lebend wiederbrachte, trugen die meisten etwas von dem Tode da drunten in sich, und sie lieferten dem scheußlichen Gotte des gesellschaftlichen Egoismus eine neue Hekatombe.

»Ich kann nicht mehr, ich muß mich setzen,« sagte die Couteau, indem sie sich auf bem schmalen Bänkchen hinter dem Verkaufspult niederließ. »Ach. was für ein Erwerb! Und dabei empfängt man uns immer, als ob wir herzlose Menschen, Verbrecher oder Diebinnen wären.«

Auch sie war eingetrocknet, ihr Vogelgesicht war spitz und vergilbt. Aber sie hatte noch ihre lebhaften Augen, aus denen verbissene Grausamkeit sah. Offenbar war sie mit ihrem Leben immer weniger zufrieden, denn sie fuhr fort, sich über ihren Beruf zu beklagen, über den steigenden Geiz der Eltern, die Anforderungen der Behörden, über den Krieg, den man auf allen Seiten den Zuführerinnen erkläre. Es sei ein jämmerliches Geschäft, Gott müsse sie verlassen haben, daß sie sich mit fünfundvierzig Jahren noch damit abgeben müsse, ohne einen Sou beiseite gelegt zu haben.

»Ich werde dabei zugrunde gehen, ich werde bis zum Schlusse nichts anders davon haben, als wenig Geld und viel schlechte Worte. Sie sehen, wie ungerecht jeder ist, ich bringe Ihnen ein prächtiges Kind zurück, und Sie sind nicht einmal zufrieden! Wahrhaftig, das kann es einem verleiden, Gutes zu tun!«

Vielleicht war ihr Jammern auch nur darauf berechnet, der Krämerin ein möglichst großes Geschenk zu entlocken. Diese war betrübt und beschämt. Das Kind, aus seinem Schlummer erwacht, hatte stark zu schreien angefangen. Man gab ihm etwas warme Milch zu trinken. Und nachdem die Rechnung beglichen war, wurde die Zuführerin etwas sanfter, da sie zehn Franken Trinkgeld bekommen hatte.

Als sie Abschied nahm, sagte Madame Menour, auf Mathieu deutend: »Dieser Herr wünscht wegen eines Auftrags mit Ihnen zu sprechen.«

Die Couteau erkannte den Herrn recht gut, obgleich sie ihn seit Jahren nicht gesehen hatte. Aber sie hatte sich nicht einmal gegen ihn gewendet, sie wußte ihn mit zu vielen Angelegenheiten verknüpft, als daß sie nicht in ihrem eignen Interesse vollständige Diskretion gezeigt hätte. Sie begnügte sich daher zu antworten:

»Wenn Monsieur mir sagen will, um was es sich handelt, bin ich ganz zu seiner Verfügung.«

«Ich begleite Sie,« erwiderte Mathieu. »Wir können auf dem Wege davon sprechen.«

»Sehr wohl, das kommt mir sehr gelegen, denn ich habe ein wenig Eile.«

Mathieu entschloß sich, ihr gegenüber keine List anzuwenden. Das beste war, ihr einfach zu sagen, was er wollte, und dann ihr Schweigen mit Geld zu erkaufen. Nach den ersten Worten begriff sie, um was es sich handelte. Sie erinnerte sich sehr wohl des Kindes Norinens, obgleich sie schon Dutzende von Kindern ins Findelhaus getragen hatte; aber die besonderen Umstände, die gewechselten Worte, die Wagenfahrt waren ihr im Gedächtnisse geblieben. Sie hatte dieses Kind übrigens fünf Tage darauf in Rougemont wiedergefunden, sie erinnerte sich sogar, daß ihre Freundin, die Wärterin, es zu der Loiseau in Pflege gegeben hatte. Aber sie hatte sich nicht weiter darum gekümmert, sie glaubte es tot, mit so vielen andern hinweggerafft. Und als sie von Saint-Pierre reden hörte, vom Wagner Montoir, von diesem Alexandre Honoré, fünfzehn Jahre alt, der sich dort als Lehrling befinden sollte, war sie überrascht.

»Oh, Monsieur, Sie müssen sich täuschen. Ich kenne diesen Montoir in Saint-Pierre sehr gut. Er hat auch ein Findelkind bei sich, in dem Alter, von dem Sie sprechen. Aber der kommt von der Cauchois, er ist ein großer roter Junge namens Richard, den ich einige Tage vor jenem andern mit heimgenommen habe. Ich habe auch die Mutter gekannt und – ja. Sie haben sie ja auch gesehen: die Engländerin, diese Amy, die bei Madame Bourdieu war, ein häufiger Gast des Hauses, die dreimal wiedergekommen ist, wie man mir gesagt hat. Dieser Rotkopf kann unmöglich das Kind Ihrer Norine sein. Alexandre Honoré war braun.«

»Dann,« sagte Mathieu, »ist noch ein Lehrling bei dem Wagner. Meine Auskunft ist genau, ich habe sie aus amtlicher Quelle.«

Die Couteau ergab sich sofort, indem sie mit einer Gebärde ihr Nichtwissen ausdrückte.

»Es ist möglich, es sind vielleicht zwei Lehrlinge bei Montoir. Das Haus ist groß, und da ich seit Jahren nicht in Saint-Pierre war, so könnte ich nichts behaupten. Was wünschen Sie also von mir, Monsieur?«

Er setzte ihr in klaren Worten ihre Aufgabe auseinander. Sie solle über das Kind die umfassendsten Erkundigungen einziehen, über seine Gesundheit, seinen Charakter, seine Aufführung, ob der Lehrer mit ihm zufrieden gewesen sei, ob sein Meister mit ihm zufrieden sei, kurz, alles, was von ihm in Erfahrung gebracht werden könne. Aber sie solle die Nachfragen in einer Weise anstellen, daß niemand etwas davon merke, weder das Kind noch die Personen seiner Umgebung. Es solle unbedingtes Geheimnis gewahrt bleiben.

»Das alles ist nicht schwer, Monsieur. Ich verstehe vollkommen. Sie können sich auf mich verlassen. Ich werde ein wenig Zeit brauchen, und es wird am besten sein, wenn ich Ihnen persönlich das Ergebnis meiner Erkundigungen mitteile, wenn ich das nächste Mal nach Paris komme. Und wenn Sie wollen, so finden Sie mich heute in vierzehn Tagen um zwei Uhr im Bureau Broquette, Rue Roquépine. Ich bin dort wie daheim, und das Haus ist verschwiegen wie das Grab.«

Als Mathieu einige Tage später bei seinem Sohne Blaise in der Fabrik war, wurde er von Constance bemerkt, die ihn zu sich rief und ihn so eingehend befragte, daß er ihr mitteilen mußte, was er getan hatte, auf welchem Punkte sich die Nachforschungen befanden, mit denen sie ihn betraut hatte. Und als sie erfuhr, daß er am Mittwoch der nächsten Woche mit der Couteau zusammentreffen sollte, sagte sie in ihrem entschlossenem Tone:

»Holen Sie mich ab. Ich will diese Frau selbst befragen. Ich muß Gewißheit haben.«

In der Rue Roquépine war das Haus Broquette nach fünfzehn Jahren noch immer dasselbe, mit dem einzigen Unterschiede, daß Madame Broquette gestorben und ihre Tochter Herminie ihre Nachfolgerin geworden war. Zuerst hatte es den Anschein gehabt, daß der plötzliche Verlust dieser so würdevollen blonden Dame, welche die Repräsentantin des Hauses, seine Zierde, sein bürgerlich-ehrsames Aushängeschild gewesen, ein sehr empfindlicher sein würde. Aber es hatte sich gezeigt, daß Herminie, das mit Romanen vollgepfropfte lange und blutlose Mädchen, die apathisch ihre reizlose Jungfräulichkeit durch dieses von Ammenmilch überfließende Haus trug, auch über ein vornehmes Auftreten verfügte, welches auf die Kunden einen angenehmen Eindruck machte. Schon dreißig Jahre alt, war sie noch unvermählt, ohne Begierde, wie angewidert durch alle diese vollbusigen Mädchen, deren Arme mit weinenden Kindern beladen waren. Im übrigen blieb der Vater, Monsieur Broquette, trotz seiner vollen fünfundsechzig Jahre, die bewegende und allmächtige Seele des Hauses, besorgte dessen innere Ueberwachung, drillte die neuen Ammen wie die Rekruten, hatte seine Nase und seine Hand überall, befand sich in unaufhörlicher Bewegung zwischen den drei Stockwerken seines unsauberen Hotel garni.

Die Couteau erwartete Mathieu im Hausflur. Als sie Constance bemerkte, die sie nicht kannte, die sie nie gesehen hatte, schien sie überrascht. Wer war denn diese Dame, was hatte sie mit der Sache zu tun? Aber sie verlöschte sofort die lebhafte Neugierde, die in ihren Augen aufgeleuchtet hatte. Und da Herminie mit lässiger Vornehmheit im Bureau thronte, wo sie eine Schar Ammen zweien Herren vorführte, ließ die Zuführerin ihre Leute in das nun leere Eßzimmer eintreten, in welchem ein abscheulicher Geruch von Speiseresten herrschte.

»Verzeihen Sie, Monsieur und Madame. Es ist kein andrer Raum frei. Das Haus ist überfüllt.«

Dann ließ sie ihre Blicke von Mathieu auf die Dame schweifen und wartete, daß man sie frage, da sie eine Unbekannte vor sich sah.

»Sie können offen sprechen. Haben Sie die Erkundigungen eingezogen, mit denen ich Sie betraut habe?«

»Jawohl, Monsieur. Es ist alles besorgt, und gut besorgt, glaube ich.«

»Also sagen Sie uns das Ergebnis. Ich wiederhole, daß Sie vor dieser Dame ungescheut sprechen dürfen.«

»O Monsieur, es ist nicht viel. Sie hatten recht, es waren zwei Lehrlinge bei Montoir, dem Wagner von Saint-Pierre, und einer von ihnen war wirklich Alexander Honoré, das Kind der hübschen Blondine, welches wir zusammen dorthin gebracht haben. Er war kaum drei Monate dort, nachdem er drei oder vier Handwerke versucht hatte, wodurch es erklärlich ist, daß ich von dem Wagner nichts wußte. Nur, so wie er nirgends geblieben ist, so ist er auch hier vor drei Wochen davongelaufen...«

Constance konnte sich nicht enthalten, sie mit dem bestürzten Ausrufe zu unterbrechen:

»Wie, davongelaufen?«

»Ja, Madame. Er ist durchgegangen und man ist diesmal sogar überzeugt, daß er die Gegend ganz verlassen hat, denn er ist zusammen mit dreihundert Franken, die seinem Herrn, Montoir, gehörten, verschwunden.«

Ihre dünne, scharfe Stimme klang schneidend. Obgleich sie den Grund der plötzlichen Blässe, der heftigen Erregung dieser Dame nicht verstand, schien sie daran einen grausamen Genuß zu finden.

»Sind Sie Ihrer Auskünfte sicher?« fragte Constance, die sich noch wehrte. »Das alles ist vielleicht nichts andres als Dorfgetratsch.«

»Getratsch, Madame, nein! Wenn ich mich einer Sache annehme, so weiß ich, was ich tue. Ich habe mit den Gendarmen selbst gesprochen. Sie haben die ganze Gegend durchstreift, es ist ganz gewiß, daß Alexandre Honoré keine Adresse zurückgelassen hat, als er mit den dreihundert Franken davonging. Er läuft noch. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

Das war ein Donnerschlag für Constance: dieses Kind, das sie wiedergefunden zu haben glaubte, von dem sie träumte, auf dessen Kopf sie so viele uneingestehbare, uneingestandene Rachepläne baute – das entglitt plötzlich wieder ihren Händen, fiel in sein schmutziges Dunkel zurück. Sie war davon erschüttert, betäubt, wie von einer eigensinnigen Tücke des Schicksals, von einer neuen, unheilbaren Niederlage. Sie übernahm nun selbst die Fragestellung.

»Sie haben doch wohl nicht nur mit den Gendarmen gesprochen? Sie waren beauftragt, überall nachzufragen.«

»Das habe ich getan, Madame. Ich habe mit dem Lehrer gesprochen, ich habe mit den andern Meistern gesprochen, bei denen er kurze Zeit war. Alle haben mir gesagt, daß er nicht viel tauge, der Lehrer erinnert sich, daß er ein Lügner und ein Raufbold war. Nun, und jetzt ist er zum Dieb geworden, das ist das Ende vom Lied. Sehen Sie, ich kann Ihnen nichts andres sagen, da Sie ja die Wahrheit erfahren wollen.« Sie verweilte mit um so größerem Behagen auf diesen Einzelheiten, je mehr sichtlichen Schmerz sie damit dieser Dame verursachte. Und welch seltsamer Schmerz, diese Stiche ins Herz, die ihr jede dieser Anklagen versetzte, als ob in dem Unglück ihrer Unfruchtbarkeit dieses Kind ihres Mannes ein wenig auch ihr Fleisch und Blut geworden wäre! Sie unterbrach nun die Zuführerin, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Danke. Das Kind ist nicht mehr in Rougemont. Das ist alles, was wir wissen wollten.«

Die Couteau fuhr aber, gegen Mathieu gewendet, fort, bestrebt, diesem zu zeigen, daß er sein Geld nicht umsonst ausgebe:

»Ich habe auch den andern Lehrling zum Sprechen gebracht, Richard, den Sohn der Engländerin, den großen roten Jungen, von dem ich Ihnen bereits erzählte. Auch einer, dem ich nicht über den Weg trauen würde. Aber er scheint wirklich nicht zu wissen, wohin sein Kamerad geflohen ist. Die Gendarmen glauben, daß Alexandre in Paris ist.«

Mathieu dankte ihr seinerseits und drückte ihr eine Fünfzigfrankennote in die Hand, worauf sie sofort stumm, freundlich, unterwürfig wurde, verschwiegen wie das Grab nach ihrem Lieblingsausdrucke. Drei Ammen traten nun ein und packten Wurstwaren aus, während man draußen in der Küche Monsieur Broquette hörte, wie er wütend einer vierten die Hände mit einer Bürste wusch, um sie zu lehren, wie man sich von dem heimischen Schmutz reinige; und Constance beeilte sich, ihrem Gefährten auf die Straße zu folgen, von einem Gefühl des Ekels ergriffen. Aber draußen blieb sie zögernd stehen, ehe sie den Wagen bestieg, nachdenklich, von dem letzten Wort, das sie gehört hatte, verfolgt.

»Sie haben gehört, dieses unglückliche Kind soll in Paris sein.«

»Das ist wahrscheinlich. Alle endigen sie hier.«

Sie schwieg wieder, dachte nach, schien unentschlossen, und sagte endlich mit ein wenig zitternder Stimme:

»Und die Mutter, lieber Freund, Sie wissen, wo sie wohnt. Haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie sich ihrer angenommen haben?«

»Allerdings.«

»Also hören Sie! Und besonders verwundern Sie sich nicht, lieber Freund, beklagen Sie mich lieber, denn ich leide wirklich schrecklich... Mich hat ein Gedanke überkommen, ich bilde mir ein, daß der Knabe, wenn er in Paris ist, vielleicht seine Mutter ausfindig gemacht hat, daß er vielleicht bei ihr ist, oder daß sie wenigstens weiß, wo er sich aufhält. Nein, nein! sagen Sie mir nicht, daß das unmöglich ist. Alles ist möglich.«

Erstaunt und zugleich bewegt, sie, die sonst so ruhige Frau, solchen Einbildungen nachgeben zu sehen, wollte er sie nicht noch in stärkere Erregung versetzen und versprach, sich zu erkundigen. Aber sie stieg noch immer nicht in den Wagen, sie stand, den Blick auf das Straßenpflaster geheftet. Dann erhob sie die Augen und sagte verlegen, bittend, demütig:

»Sie erraten nicht, was ich will? Seien Sie mir nicht böse. Es ist ein Dienst, den ich Ihnen nie vergessen werde. Ich möchte gern ein wenig Ruhe finden, indem ich mir Gewißheit verschaffe. Fahren wir sogleich zu diesem Mädchen. Oh, ich werde nicht hinaufgehen! Sie gehen allein hinauf, und ich werde Sie an der Straßenecke im Wagen erwarten. Vielleicht können Sie etwas in Erfahrung bringen.«

Es war verrückt. Zuerst fühlte er sich versucht, ihr das zu sagen. Aber als er sie ansah, schien sie ihm so unendlich verlassen, von so unsagbaren Qualen gefoltert, daß er ohne ein Wort mit einer Gebärde mitleidiger Gutherzigkeit einwilligte. Der Wagen führte sie fort.

Das große Zimmer, in welchem Norine und Cécilie ihre gemeinsame Häuslichkeit eingerichtet hatten, befand sich in Grenelle, am Ende der Rue de la Fédération, nahe dem Champ de Mars. Sie lebten seit nun bald sechs Jahren dort und hatten zu Anfang viel Kummer und Elend erfahren. Aber das Kind, welches sie zu nähren, zu retten hatten, hatte sie selbst gerettet. Die Mutter, die in Norine schlummerte, war mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit für dieses kleine Wesen erwacht, seitdem sie ihm die Brust gereicht, es mit ihrem Leben genährt, es liebkost und behütet hatte. Und es war wunderbar zu sehen, wie Cécilie in ihrem Kummer über ihre für immer unfruchtbare Jungfräulichkeit das Kind adoptierte, es auch als das ihrige betrachtete. Das Kind hatte zwei Mütter, die sich nur mit ihm befaßten. Wenn Norine in den ersten Monaten oft den Mut verloren hatte, ihr Leben mit dem Kleben von Schachteln zu verbringen, wenn ihr selbst Fluchtgedanken gekommen waren, so war sie immer von den zwei schwachen Armen zurückgehalten worden, die sich um ihren Hals schlangen. Jetzt war sie ruhig und vernünftig geworden, sehr fleißig und geschickt in diesen kleinen Klebearbeiten, die Cécilie sie gelehrt hatte. Und man mußte sehen, wie die beiden fröhlich und einträchtig miteinander, ohne Männer, wie in einem Kloster lebten, vom Morgen bis zum Abend an beiden Seiten ihres kleinen Arbeitstisches sitzend, mit dem geliebten Kinde zwischen sich, das ihr einziger Lebenszweck war, arbeitend und glücklich.

Die beiden Schwestern hatten nur eine Freundin erworben, Madame Angelin. Dieser war, als Inspektorin der Armenverwaltung, ein Teil von Grenelle übertragen, und Norine befand sich unter den Unterstützten, die sie zu beaufsichtigen hatte. Sie hatte liebevollen Anteil an diesem hübschen Haushalt zweier Mütter, wie sie ihn nannte, genommen, und hatte es erwirkt, daß die kleine Rente von dreißig Franken monatlich für das Kind drei Jahre lang ausgezahlt wurde. Darauf hatte sie dem Kinde die Schulunterstützung verschafft, abgesehen von verschiedenen Geschenken, die sie ihnen immer wieder brachte, Kleider, Wäsche, auch Geld, denn sie sammelte ziemlich bedeutende Summen bei wohltätigen Personen, die sie dann unter die würdigsten armen Mütter verteilte. Sie kam noch immer gern, um hier eine Stunde zu verbringen, in diesem Winkel ruhiger Arbeit, der von dem Lachen und dem Spiele des Kindes fröhlich belebt wurde. Sie war hier abgeschieden von der Welt, sie litt hier weniger unter ihrer erstorbenen Mutterschaft. Und Norine küßte ihr die Hände und sagte, ohne sie hätten die zwei Mütter nicht leben können.

Als Mathieu eintrat, wurde er mit Ausrufen der Freude empfangen. Auch er war ein Freund, ein Retter, der, indem er das Zimmer mietete und einrichtete, den Haushalt gegründet hatte. Es war sehr sauber, dieses große Zimmer, sehr anheimelnd mit seinen weißen Vorhängen, licht und fröhlich mit seinen zwei Fenstern, durch die eben jetzt die Abendsonne ihre breiten Strahlen hereinsandte. Norine und Cécilie saßen an ihrem Tischchen und schnitten und klebten; und der Kleine, der eben aus der Schule zurückgelehrt war, saß zwischen ihnen auf einem hohen Sessel und handhabte ernsthaft eine große Schere, in der Meinung, daß er ihnen helfe.

»Ah, Sie sind es, wie gut von Ihnen, daß Sie zu uns kommen! Seit fünf Tagen war niemand da. Oh, wir beklagen uns nicht, wir sind so glücklich allein! Seit Irma einen Beamten geheiratet hat, verachtet sie uns. Euphrasie geht nicht mehr über ihre Treppen hinab. Victor wohnt mit seiner Frau am Ende der Welt. Und was diesen Taugenichts Alfred betrifft, so kommt er nur herauf, um zu sehen, ob er nichts stehlen kann. Die Mutter war vor fünf Tagen da, um uns zu erzählen, daß der Vater am Tage vorher in der Fabrik beinahe getötet worden wäre. Die arme Mutter! Sie ist so schwach, daß sie bald nicht mehr einen Fuß vor den andern wird setzen können.«

Während sie beide zugleich sprachen, sich lebhaft unterbrechend und einander ergänzend, betrachtete Mathieu Norine, die in diesem regelmäßigen und ruhigen Leben mit nun sechsunddreißig Jahren eine neue Frische, die volle Reife einer schönen, von der Sonne vergoldeten Frucht gewonnen hatte. Und selbst Cécilie, die für immer ihre Kindergestalt behalten sollte, hatte an Kraft zugenommen durch die Energie der Liebe, die in ihrem schwachen Körper lebte.

Cécilie stieß plötzlich einen Schreckensruf aus.

»Er hat sich verletzt, das Unglückskind!«

Sie entriß dem Kleinen die Schere, der, mit einem kleinen Blutstropfen an der Fingerspitze, lachte.

»Ach, mein Gott,« sagte Norine ganz bleich, »ich habe geglaubt, daß er sich die Hand aufgeschnitten hat.«

Einen Augenblick fragte sich Mathieu, ob es wohl notwendig sei, seinen seltsamen Auftrag ganz auszuführen. Dann hielt er es doch für angezeigt, die junge Mutter zu benachrichtigen, die er hier so friedlich in dem arbeitsvollen Leben sah, welches sie sich geschaffen hatte. Er ging vorsichtig zu Werke, teilte ihr nur allmählich die Wahrheit mit. Aber es kam doch der Augenblick, wo er, nachdem er sie an die Geburt Alexandre Honorés erinnert hatte, sagen mußte, daß das Kind lebe.

Sie sah ihn erschrocken an.

»Er lebt, er lebt? Warum sagen Sie mir das? Ich war so ruhig, indem ich nichts wußte!«

»Allerdings, aber es ist doch besser, daß Sie es wissen. Man hat mir sogar gesagt, daß der Knabe in Paris sein dürfte, und ich habe mich daher gefragt, ob er Sie nicht vielleicht gefunden hat ob er nicht vielleicht zu Ihnen gekommen ist.« Das brachte sie vollends außer Fassung.

»Wie, zu mir gekommen? Niemand ist zu mir gekommen! Und Sie glauben, daß er kommen könnte? Ich will nicht, ich will nicht! Ich würde den Kopf verlieren! Ein großer Junge von fünfzehn Jahren, der mich so überfallen würde, den ich nicht kenne, den ich nicht liebe! Nein, nein, nein, halten Sie ihn ab, ich will nicht, ich will nicht!«

Sie war in heftiges Weinen ausgebrochen, sie ergriff mit verzweifelter Gebärde das Kind an ihrer Seite und drückte es an ihre Brust, wie um es gegen den andern, den Unbekannten, den Fremdling zu verteidigen, dessen Wiederauftauchen ihm einen Teil seines Platzes zu rauben drohte.

»Nein, nein! Ich habe nur ein Kind, ich liebe nur eins, ich will den andern nicht, niemals, niemals!«

Tief erregt hatte sich Cecilie erhoben, um ihr Vernunft zuzusprechen. Wenn er nun aber doch käme, könnte man lhn vor die Tür setzen? Und auch sie beweinte bereits ihr Glück, trotz ihres tiefen Mitleids für den Unbekannten. Mathieu beruhigte sie, indem er ihnen beteuerte, daß ein solcher Besuch ihm ganz unwahrscheinlich dünke. Ohne ihnen alles zu verraten, erzählte er ihnen vom Verschwinden des Knaben, und hielt ihnen vor, daß er sich ja selbst über den Namen seiner Mutter in vollkommener Unwissenheit befinden müsse. Und als er sie verließ, hatten die beiden Schwestern ihre Ruhe wiedergefunden, fuhren fort, ihre Schachteln zu kleben, und lachten dem Kinde zu, dem sie die Schere wiedergegeben hatten, damit er Figuren aus dem Papier ausschneide.

Unten harrte Constance in tödlicher Ungeduld an der Straßenecke und steckte den Kopf zum Wagenfenster heraus, um das Haustor im Auge zu behalten.

»Nun?« fragte sie bebend, sobald Mathieu bei ihr war.

»Nun, die Mutter weiß nichts, hat niemand gesehen, wie das ja vorauszusehen war.«

Sie sank zusammen wie unter einem schweren Schlage, und ihr bleiches Gesicht verzog sich schmerzlich.

»Es war vorauszusehen. Sie haben recht. Aber man hofft immer.«

Dann, mit hoffnungsloser Gebärde: »Nun ist auch das vorüber, alles zerbricht mir in den Händen, mein letzter Traum ist erstorben.« Mathieu drückte ihr die Hand und wartete, daß sie ihm eine Weisung für den Kutscher gebe. Aber sie blieb in Gedanken verloren, schien selbst nicht zu wissen, wohin sie fahren wolle. Als sie ihn sodann fragte, ob sie ihn irgendwo absetzen könne, erwiderte er, er gehe zu den Séguin. Und wahrscheinlich aus Furcht vor dem Alleinsein zu Hause, entschloß sie sich hierauf, Valentinen, die sie schon lange nicht gesehen hatte, einen Besuch abzustatten.

»Steigen Sie ein, wir fahren zusammen nach der Avenue d'Antin.«

Der Wagen setzte sich in Bewegung, und ein drückendes Schweigen entstand, sie fanden kein Wort, das sie hätten sagen können. Als sie sich jedoch ihrem Ziele näherten, sagte sie noch bitter:

»Sie können nun meinem Mann die frohe Botschaft bringen, ihm mitteilen, daß das Kind verschwunden ist! Wie erleichtert wird er sich fühlen!«

Mathieu hoffte gelegentlich dieses Besuches bei den Séguin, die ganze Familie vereint zu finden. Séguin war vor acht Tagen endlich zurückgelehrt, man wußte nicht woher, und es war endlich möglich geworden, offiziell bei ihm um die Hand Andrées anzuhalten. Er hatte die Werbung ungemein liebenswürdig aufgenommen, nachdem er vorher eine Unterredung mit Onkel du Hordel gehabt hatte. Der Hochzeitstag war sogar gleich bestimmt worden, indem man ihn ein wenig hinausschob, bis zum Monat Mai, weil die Froment um diese Zeit auch ihre älteste Tochter, Rose, verheiraten wollten: das sollte wunderschön werden, beide Hochzeiten würden am selben Tage in Chantebled stattfinden. Und von da ab durfte der glückliche Ambroise, als nun offiziell Verlobter, täglich um fünf Uhr kommen, um seiner Braut zu huldigen. Daher hoffte Mathieu nun die ganze Familie anzutreffen.

Aber als Constance nach Valentine fragte, sagte ihr ein Diener, Madame sei ausgegangen. Und als Mathieu nach Séguin fragte, antwortete ihm der Diener, Monsieur sei ebenfalls nicht da. Es sei nur Mademoiselle Andrée mit ihrem Verlobten oben. Die beiden Besucher gingen hinauf.

»Wie, man läßt euch allein?« rief Mathieu, als er die beiden jungen Leute Seite an Seite auf einem schmalen Sofa in dem großen Raume im ersten Stock sitzen fand. »Ja. wir sind ganz allein zu Hause,« erwiderte Andrée mit einem fröhlichen Lachen. »Das ist uns sehr angenehm.«

Sie waren allerliebst, wie sie so dicht beisammen saßen, sie so sanft, von so zarter Schönheit, er von dem Zauber des kräftigen Mannes, dessen siegreichste Eigenschaft die Anmut war. Sie hatte sitzend seinen Arm genommen, als ob sie im Begriffe wären, sich zu erheben und Arm in Arm ihre lange gemeinschaftliche Reise anzutreten.

»Céleste ist doch wohl wenigstens da!«

»Nein, nicht einmal Céleste. Sie ist verschwunden, wir wissen nicht, wo sie ist.«

Und wieder lachten sie mit der Fröhlichkeit junger Vögelchen, die in der einsamen Frische des Waldes ihre Freiheit genießen.

»Und was macht ihr denn da allein?«

»Oh, wir langweilen uns nicht, wir haben so viel zu tun! Zuerst plaudern wir. Dann sehen wir uns an. Und das dauert so lange, wir werden gar nicht fertig damit!«

Constance bewunderte sie blutenden Herzens. Ach, so viel Anmut, so viel Gesundheit, so viel Hoffnung! Während bei ihr der Wind der Unfruchtbarkeit alles verbrannt, alles vernichtet hatte, würde also dieses fruchtbare Geschlecht der Froment sich immerfort vermehren, immerfort ausbreiten? Denn auch das war eine neue Eroberung, diese beiden so frei ihrer Liebe überlassenen Kinder, allein in diesem prächtigen Palais, das ihnen bald gehören würde.

»Verheiraten Sie nicht auch Ihre älteste Tochter?« fragte sie.

»Jawohl, Rose,« erwiderte Mathieu fröhlich. »Im kommenden Mai ist großes Fest in Chantebled! Sie müssen alle kommen.«

Ja, das war die Macht der Zahl, der Sieg des Lebens, Chantebled den Séguin abgewonnen, ihr Haus nun bald von Ambroise eingenommen, die Fabrik selbst zur Hälfte in die Hände Blaises gefallen!

»Wir werden kommen,« sagte sie erbebend. »Und möge Ihr Glück weiter dauern, das wünsche ich Ihnen!« ^


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