Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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3

Zwei Jahre gingen hin. Und während dieser zwei Jahre bekamen Mathieu und Marianne noch ein Kind, ein Mädchen. Und diesmal vergrößerte sich zugleich mit der Familie auch die Besitzung Chantebled wieder, im Westen des Plateaus, um das letzte Stück Sumpfgebiet, dessen Moräste noch trocken zu legen und dessen Quellen noch zu fassen gewesen waren. Nun war dieser Teil des Besitzes vollständig urbar gemacht, mehr als hundert Hektar Boden, auf denen bisher nur Wasserpflanzen gewachsen waren, und die nun, der Kultur gewonnen, überreiche Ernten lieferten. Und die neugefaßten, nach allen Seiten geleiteten Quellen waren daran, das wohltätige Leben abwärts zu tragen, indem sie die sandigen Hänge befruchteten. Das Leben setzte seinen unaufhaltsamen Eroberungszug fort, die Fruchtbarkeit verbreitete sich unter der Sonne, die Arbeit schuf unausgesetzt, unermüdlich, trotz aller Hindernisse und Kümmernisse, füllte die Lücken der Verluste aus, goß zu jeder Stunde neue Kraft, neue Gesundheit und Freude in die Adern der Welt.

Im Laufe seiner ununterbrochenen geschäftlichen Beziehungen mit Séguin trat dieser nun seinerseits mit dem dringenden Vorschlage an Mathieu heran, wieder einen Teil des Besitzes zu erwerben, bemühte sich sogar, ihn zu bestimmen, den ganzen Rest auf einmal zu nehmen, noch etwa zweihundert Hektar Wald und Heide. Er befand sich in fortwährender Geldnot, er bot Erleichterungen, Nachlässe an. Aber Mathieu nahm es klugerweise nicht an, hielt vorsichtig an seinem ursprünglichen Plane fest, nur schrittweise vorzudringen, nach Maßgabe der Notwendigkeit und seinen Kräften entsprechend. Bei der Erwerbung alles Heidegrundes längs der Eisenbahnlinie hätte sich überdies eine Schwierigkeit ergeben: es befand sich nämlich inmitten dieser Heideflächen und sich entzweischneidend, eine trostlose Enklave von einigen Hektar, welche Lepailleur, dem Mühlenbesitzer, gehörte, der daraus niemals den geringsten Nutzen gezogen hatte. Daher hatte Mathieu, als er wieder einen Gebietsteil anzukaufen hatte, den Rest der Sumpfflächen im Westen des Plateaus gewählt, indem er hinzufügte, daß er später gerne die Heiden erwerben werde, sobald der Müller seinen Besitz abgetreten habe. Er wußte übrigens, daß dieser ihn seit dem unaufhaltsamen Wachstum der Besitzung, mit so mißgünstigem Neide betrachtete, ihm so aufsässig war, daß er es für angezeigt hielt, sich nicht mit dem Ankaufe zu befassen, da er sicher war, abgewiesen zu werden. Séguin war darüber sehr erstaunt, behauptete, daß er es schon verstehen werde, den Mann zur Vernunft zu bringen, schmeichelte sich sogar, daß er die Enklave um einen Pappenstiel bekommen werde, wenn er sich der Sache annehme. Und offenbar immer noch darauf hoffend, daß er sich dieses Teiles seines Besitzes zugleich mit dem andern werde entledigen können, bestand er darauf, mit Lepailleur zu sprechen und mit ihm handeleins zu werden, ehe er den Kaufvertrag über den hochgelegenen Teil unterzeichne.

Einige Wochen vergingen. Als nun Mathieu an dem Tage, den ihm Séguin brieflich bestimmt hatte, in dem Palais in der Avenue d'Antin vorsprach, um die Unterschriften auszuwechseln, fand er Séguin nicht zu Hause. Ein Bedienter ließ ihn in dem großen Saale des ersten Stockes allein, nachdem er ihm gesagt hatte, Monsieur werde zweifellos bald heimkehren, da er ihm Auftrag gegeben habe, den Herrn warten zu lassen. Der Besucher ging in dem weiten Raume auf und ab und blickte um sich, frappiert von dem Aussehen allmählichen Verfalls, welches dieses luxuriöse Gemach angenommen hatte, dessen reiche Stoffe, Sammlungen seltener Kunstwerke, dessen Zinnplastiken und Bucheinbände er einst so sehr bewundert hatte. Die Kostbarkeiten waren alle noch da, aber einer Verwahrlosung anheimgefallen, die sie leblos und glanzlos machte, gleich aus der Mode gekommenen verachteten Zieraten, die man der Verstaubung überlassen hat. In der ewigen Langeweile seines beschränkten Geistes, der nur das eine Bedürfnis hatte, aufzufallen, die Narrheit des Tages zu übertreiben, hatte Séguin, auf die Pose des Kunstliebhabers verzichtend, die ihm so wenig Unterhaltung bot, zuerst eine heftige Leidenschaft für die neuen Sports der übermäßigen Schnelligkeit zur Schau getragen, und war dann zu seiner einzigen wahren Liebe zurückgekehrt, dem Pferde. Er hatte einen Rennstall errichtet, was seinen Ruin beschleunigte, so viel eitle Verschwendung trieb er damit. Sein großes Vermögen, welches die Maitressen und das Spiel geschmälert hatten, wurde von den Pferden vollends verzehrt. Man sagte nun, daß er an der Börse spiele, um die Breschen zu schließen; und auch hier gab er der albernen Eitelkeit nach, den mächtigen Finanzmann spielen zu wollen, der von Ministern seine Informationen erhält. Und wie seine Verluste sich mehrten, die Gefahr des Zusammenbruchs immer näher drohte, blieb von dem Schöngeist, von dem Moralisten, der mit Santerre endlos über Literatur und Sozialphilosophie diskutierte, nur mehr der verbitterte Ohnmächtige, der Modepessimist, der in seiner eignen Schlinge gefangen war, seine Existenz zerstört hatte, und nun mit seinem allmählich begründet gewordenen verbissenen Haß gegen das Leben nichts andres war, als ein Werkzeug der Verderbtheit und des Todes.

Als Mathieu eben seinen langsamen Rundgang um das Gemach vollendet hatte, trat ein hochgewachsenes, schönes blondes Mädchen von etwa fünfundzwanzig Jahren ein, die ein schwarzes Seidenkleid von eleganter Einfachheit trug. Sie stieß einen leichten Ruf der Überraschung aus und blickte suchend in die Ecken des Zimmers.

»Oh, ich dachte, die Kinder seien hier!«

Dem Besucher zulächelnd, trat sie gleichwohl ein, tat, als ob sie die Papiere auf dem Tische, der Séguin als Schreibtisch diente, zurechtrücken wolle, mit der Miene der Herrin des Hauses, die vor den Leuten ihr Recht der Überwachung und Anordnung betätigen will.

Mathieu kannte sie bereits, denn seit einem Jahre sah er sie in dieser Weise sich hier breitmachen und befehlen, während Valentine einen immer größeren Widerwillen gegen die Angelegenheiten des Haushaltes bekundete. Sie nannte sich Nora, war eine Deutsche, Erzieherin und Klavierlehrerin, und Valentine hatte sie hauptsächlich aufgenommen, um über die Kinder zu wachen, seitdem sie Céleste hatte wegschicken müssen, die trotz ihrer Durchtriebenheit wieder schwanger geworden war, die Dummheit begangen hatte, sich mit einem Briefträger zu vergessen, und diesmal so wenig Glück hatte, daß es ihr nicht einmal gelang, ihren Zustand zu verbergen. Séguin, der sich bei Gelegenheit der Verabschiedung der Zofe wieder sehr brutal gezeigt und geschrien hatte, das sei ein Skandal, seine Töchter würden demoralisiert, hatte dann selbst Nora ins Haus gebracht, eine Perle, die er, wie er scherzend sagte, einer seiner Freundinnen stahl. Und es wurde bald offenkundig, daß sie seine Geliebte war, daß er sie zweifellos nur zu dem Zwecke in sein Haus eingeführt hatte, um sie hier bequem zu besitzen, und besonders, um sie hier gefangenzuhalten; denn er schien rasend eifersüchtig auf sie zu sein, mit jener krankhaften Eifersucht, die ihn noch heute sich mit erhobenen Fäusten auf seine Frau stürzen ließ, trotzdem alle Beziehungen zwischen ihnen aufgehört hatten. Das große und schöne blonde Mädchen schien allerdings danach angetan, das ärgste Mißtrauen zu rechtfertigen, mit ihren sinnlichen Lippen, ihren Augen voll gewissenloser Unverschämtheit, ihrem albernen und bösen Lächeln, ein prächtiges schädliches Tier.

»Sie erwarten Monsieur Séguin?« sagte sie endlich. »Ich weiß, daß er sie bestellt hat, er wird sicherlich bald kommen.«

Mathieu, der sie mit Interesse beobachtete, wollte eine Probe machen. »Er ist vielleicht mit Madame Séguin ausgegangen. Ich weiß, daß sie häufig miteinander ausgehen.«

»Die!« rief sie laut, und in einer für eine Erzieherin höchst unpassenden Weise lachend, »da sind Sie schlecht unterrichtet, mein Herr! Die gehen nie denselben Weg. Ich glaube, Madame ist in der Kirche, wenn sie nicht etwa wo anders ist.« Mit spöttischer und dreister Miene fuhr sie fort, in dem Raume herumzuwirtschaften, als ob sie sich bestrebe, ein wenig Ordnung darin herzustellen, wobei sie immer wieder mit ihren Rücken an ihn streifte, in dem instinktiven Verlangen, das ihr eigen schien, sich anzubieten, sobald ein Mann mit ihr allein war.

»Ah, was für ein Haus!« fuhr sie mit halber Stimme fort, als ob sie zu sich selber spräche. »Wie verlassen er ist, der arme Herr! Es wäre alles besser, wenn Madame nicht von früh bis abends beschäftigt wäre!«

Valentine beschäftigt! Um die ganze Ironie dieses Wortes zu verstehen, mußte man wie Mathieu wissen, daß sie seit sechs Monaten nur dem einzigen Glück lebte, mit Santerre, nach bald dreijährigem Auseinandersein, wieder angeknüpft zu haben. Jetzt wagte sie es sogar, ihn im Hause ihres Mannes zu empfangen, sich mit ihm ganze Nachmittage lang in ihrem kleinen Salon einzuschließen; und von dem, was sie da miteinander taten, von dieser ernsten Beschäftigung sprach zweifellos die Erzieherin in so scherzhaftem Tone. Nachdem Santerre Valentine mit seiner schmeichelnd-zärtlichen Art besiegt hatte, um die Zeit, da er glaubte, ihrer für seine Erfolge als Schriftsteller zu bedürfen, hatte er sich ihrer sodann rücksichtslos mit der unbarmherzigen Brutalität eines Egoisten entledigt, als sie ihm nutzlos, ja sogar unbequem geworden war. Verzweifelt über diesen Bruch, hatte sie dann ihre Freundinnen durch ihren religiösen Eifer in Erstaunen gesetzt, mit dem sie wieder anfing, regelmäßig zu Predigt und Beichte zu gehen, wie einst bei ihrer Mutter in dem altadligen, strengkatholischen Hause der Vaugelade. Sie fühlte sich wieder von deren Blute, sie entsagte dem ungebundenen Gehaben, das sie sich in den Kreisen angeeignet hatte, die den Umgang ihres Mannes bildeten, um nunmehr eine unsinnige, übertriebene Intoleranz zur Schau zu tragen, im Namen des lieben Gottes sich einer neuen Art von Tollheit hinzugeben. Wie die Musik Wagners, so war die Religion Roms veraltet, unzeitgemäß: sie verlangte das Kommen eines blutigen Antichrist, um die Sünden der Welt hinwegzufegen. Man sagte wohl, daß sie es mit einem andern Geliebten versucht habe, aber die Tatsache war nicht bewiesen. Séguin, der die Religion lediglich als Eleganz betrachtete, hatte sich ihr geschmeichelt für eine Weile wieder genähert, die Versöhnung sogar so weit getrieben, selbst zu Predigt und Beichte zu gehen. Aber sogleich hatten die ehelichen Streitigkeiten wieder begonnen, verletzender als je, jede weitere Möglichkeit der Versöhnung ausschließend, und er war dazu gelangt, seitdem Nora ihn eifersüchtig ganz in Anspruch nahm, daran zu denken, den Frieden im Hause leidlich herzustellen, indem er Santerre, den einstigen Freund, wieder einführte, mit dem er fortwährend in seinem Klub zusammentraf. Dies wurde mit großer Leichtigkeit bewerkstelligt, denn der Romanschriftsteller hatte begonnen, sich im Erfolge zur Ruhe zu setzen und der Erkenntnis Raum zu geben, daß ihm, nachdem er aus den Frauen so viel Nutzen gezogen, als er vernünftigerweise erwarten konnte, nichts andres übrigbleibe, als sich zu verheiraten, oder sich in dem Neste eines andern einzurichten. Er scheute noch vor der Heirat zurück, ebensosehr aus theoretischen Gründen, als aus persönlichem Widerwillen. Er war, gleich Séguin, einundvierzig Jahre alt, Valentine nun bald sechsunddreißig: waren dies nicht die Alter der Rast, wo es weise war, an eines jener ernsthaften und dauerhaften Verhältnisse zu denken, welche die nachsichtige Welt toleriert? Du mein Gott, lieber diese als eine andre, da er sie gut kannte, wußte, daß sie reich war, viel in der großen Welt verkehrte, jetzt auch noch fromm geworden war – alle wünschenswerten Eigenschaften vereinigt. Und in seiner nun vollendeten Zerrüttung war das Haus in den Zustand geraten, daß der Vater mit der Erzieherin, die Mutter mit dem guten Freunde lebte, während die drei Kinder fortfuhren, sich selbst und dem Unheil überlassen, aufzuwachsen.

Plötzlich wurden durchdringende Schreie laut, und Mathieu hörte erstaunt die laufenden Schritte zweier Kinder, die alsbald zur Tür hereinstürmten. Es war Andrée, die angsterfüllt vor Gaston floh und immer wieder rief: »Nono, Nono, er will mich bei den Haaren reißen!«

Sie hatte die schönsten Haare, die man sich denken konnte; seidenweich, von aschblonder Farbe, ringelten sie sich um ihr reizendes Gesichtchen; sie war nun zehn Jahre alt, schon eine kleine Dame, fein und anmutig; während ihr Bruder, um vier Jahre älter als sie, schlank und mager wie sein Vater, ein schmales, rotes Gesicht mit scharfen Zügen und harte blaue Augen unter einer Stirn hatte, die auf unlenkbaren Starrsinn deutete. Er ergriff sie endlich und riß sie heftig an den Haaren.

»Oh. du Bösewicht! Nono, hilf mir!« schrie sie schluchzend, indem sie sich zu der Erzieherin flüchtete.

Aber diese stieß sie scheltend zurück. »Schweigen Sie doch, Andrée! Sie müssen sich immer schlagen lassen. Es ist unerträglich.«

»Ich habe ihm nichts getan, ich habe gelesen,« sagte das Kind weinend. »Da hat er mir mein Buch weggerissen und sich auf mich gestürzt. Da bin ich davongelaufen.«

»Sie ist so dumm, sie will nie spielen,« sagte Gaston gelassen, mit seinem boshaften Lächeln. »Es ist nur zu deinem Besten, wenn ich dich an den Haaren ziehe, das macht sie länger.«

Die Erzieherin lachte mit ihm, sie fand das sehr komisch. Sie gab ihm immer recht, ließ ihn als gefürchteten Tyrannen über seine beiden Schwestern herrschen, litt sogar gefällig die Possen, die er ihr selbst spielte, wie etwa ihr eine kalte Hand in den Nacken zu stecken, oder ihr plötzlich auf die Schultern zu springen.

Mathieu war von dem allen erstaunt, sogar ein wenig empört, als Doktor Boutan eintrat. Die kleine Andrée, die ihn wegen seiner lächelnden Gutmütigkeit liebte, lief ihm entgegen und hielt ihm, schon getröstet, ihre Stirn zum Kusse hin.

»Guten Tag, mein Kind. Ich warte auf Ihre Mama, die mir eine Depesche gesandt hat. die aber, wie ich höre, noch nicht zu Hause ist. Ich bin übrigens vor der Zeit gekommen. – Siehe da, mein lieber Mathieu, Sie sind auch hier?«

»Ja. Ich erwarte Monsieur Seguin.«

Sie schüttelten sich warm die Hände. Dann wandte sich der Arzt, der auf Nora einen Seitenblick geworfen hatte, an diese, und fragte, ob Madame Seguin leidend sei, da sie ihn telegraphisch berufen habe. Sie antwortete kurz, daß sie es nicht wisse. Und da er sie weiter fragte, befremdet darüber, daß er Lucie nicht mit Gaston und Andrée hier sah, sagte sie:

»Lucie liegt zu Bett.«

»Wie zu Bett?« Alfo ist sie die Kranke?«

»O nein, sie ist nicht krank.«

Er sah sie wieder an mit seinen klugen Augen, die auf den Grund ihrer Seele blicken zu wollen schienen, und richtete keine weitere Frage an sie.

»Gut, ich werde warten.«

Nora räumte endlich den Platz und führte Gaston und Andrée mit sich, indem sie sie ein wenig vor sich herstieß; sie schien unbehaglich und irritiert unter diesem forschenden Blicke, der sich nicht von ihr und den zwei ihrer Obhut überlassenen Kindern abwandte, als bis sie das Zimmer verlassen hatten.

Boutan hatte sich Mathieu zugewandt. Einen Augenblick blieben sie so einander gegenüber, ohne zu sprechen. Beide waren wissend, beide schüttelten den Kopf. Dann sagte der Arzt halblaut: »Wie, was sagen Sie zu dem Fräulein? Was mich betrifft, lieber Freund, mich überläuft es kalt, wenn ich sie sehe. Haben Sie diesen Mund und diese Augen beobachtet, die übrigens sehr schön sind? Nie noch habe ich das Verbrechen so deutlich in einer so prächtigen Gestalt gesehen. Hoffen wir, daß ich mich täusche!«

Ein neues Stillschweigen entstand. Er hatte ebenfalls begonnen, das Gemach zu durchmessen; und als er wieder zurückkehrte, machte er eine Gebärde, wie um auf dessen Vernachlässigung zu weisen, wie um durch die Mauern hindurch auf die traurige Katastrophe hinzudeuten, die das ganze Haus zu vernichten drohte.

»Es war unabwendbar, Sie haben ja die einzelnen Folgeerscheinungen vorhergesehen und beobachtet, nicht wahr? Ich weiß ja, man macht sich über mich lustig, man behandelt mich als guten Narren, als einen Spezialisten, der in den Ideenkreis der von ihm behandelten Fälle eingekapselt ist. Aber was wollen Sie? Wenn ich auf meinem Standpunkt beharre, so ist es nur, weil ich überzeugt bin, daß ich recht habe. So auch bei diesen Séguin; ist es nicht offenbar, daß alles Unheil nur jenen ersten Unterschlagungen entstammt, da der Mann und die Frau sich gegenseitig verderbten und zerrütteten, weil sie eigensinnig darauf beharrten, kein Kind mehr haben zu wollen? Von da ab, kann man sagen, war die Ehe dem Verderben geweiht. Sie haben dann doch noch eins bekommen, unwissentlich, aus Versehen, und nun wird der Mann zerfleischt, toll gemacht von sinnloser Eifersucht, die Frau geschlagen, vernachlässigt, dem Falle zugetrieben. Notwendigerweise war der doppelte Ehebruch die schließliche Folge bei solchen Naturen, die in wütendem Kampfe miteinander lagen, sich gegenseitig entnervten und vernichteten, während sie den unsinnigsten weltlichen Reizungen nachjagten. Heute ist der Bruch vollständig, die Familienbande sind zerstört, die Geliebte des Mannes und der Liebhaber der Frau am häuslichen Herde eingenistet, der Zusammenbruch vor der Tür, unter der fortgesetzten, der unsauberen Unterschlagung, die sich verbreitert, sich multipliziert, die nun von vieren hier geübt wird ... In mir wütet es, wenn ich daran denke! Und wenn ich Ihnen davon spreche, so geschieht es, um mir das Herz zu erleichtern, ob ich auch nicht den Anspruch erhebe, Ihnen etwas Neues zu sagen.«

Der sonst so gelassene Mann hatte sich in Zorn geredet. Seine Stimme, die halblaut geblieben war, bekam einen seltsam scharfen und energischen Klang.

»Man redet sehr viel von unsrer modernen Nervosität, von unsrer Entartung, von unfern immer schwächlicher und schwächlicher werdenden Kindern, die von kranken, zerrütteten, überreizten Frauen in die Welt gesetzt werden. Aber vor allen andern, weniger gefährlichen, Ursachen ist die Unterschlagung die erste, die große Ursache, die, welche das Leben an seiner Quelle vergiftet! Es ist die Unterschlagung, die allgemeine, vorbedachte, beharrliche, gerühmte Unterschlagung, die uns in diese vorzeitige Entkräftung verfallen läßt, und die uns ganz zu Grunde richten wird! Bedenken Sie nur, daß man nicht ungestraft ein Organ betrügt. Stellen Sie sich vor, daß man den Magen fortwährend mit Scheinnahrung füllen würde, deren unverdauliche Masse das Blut unaufhörlich herbeiriefe, ohne der Verdauungstätigkeit irgendeinen Stoff zuzuführen. Eine jede Funktion, die sich nicht in normaler Weise vollzieht, wird zur Ursache von Störungen. Man entkräftet die Frau, man befriedigt bei ihr nur die Wollust, man begnügt sich mit der Sättigung der Begierde, die nur das Lockmittel ist, ohne die Befruchtung herbeizuführen, welche der Zweck ist, die notwendige und unentbehrliche Vollbringung. Und dann wundert man sich, wenn sich in diesem getäuschten, mißhandelten, seiner Bestimmung entfremdeten Organismus furchtbare Störungen, Entartungen, Zerrüttungen ergeben! Dazu kommt, daß, wenn der Gatte unterschlagen hat, der Liebhaber natürlich noch mehr unterschlägt. Es ist ein unablässiger Ansturm. Von dem Augenblicke, da die Furcht vor dem Kinde der Begierde keine Schranken mehr auferlegt, wird der Organismus der leichtfertigen, maßlosen, erschöpfenden Lust überliefert. Ich habe Fälle von unglaublicher Gier und Roheit gesehen. Allerdings wage ich von den Menschen nicht die Weisheit der Tiere zu verlangen, die ihre Begattungszeit haben. Aber es sollte doch wenigstens das Kind nicht in so unbarmherziger Weise geächtet werden, man sollte doch wenigstens von Zeit zu Zeit eines entstehen lassen, um die unterdrückte Funktion wieder auswirken zu lassen. Wie viele durch die Praktiken der Unterschlagung gereizte, erkrankte, gebrochene Frauen habe ich dank einer Schwangerschaft sich wieder erholen gesehen! Und wie viele andre sind wieder denselben Leiden anheimgefallen, sowie sie aufs neue aufgehört haben zu leben, wie gelebt werden soll! Denn, verstehen Sie wohl, lieber Freund, darin liegt alles. Die betrogene Natur empört sich. Je mehr man unterschlägt, je verderbter man lebt, desto mehr wird der Nachwuchs geschwächt und entartet. Wir gelangen dadurch zu unsrer kostbaren modernen Nervosität, wir werden bald zum vollständigen physischen und moralischen Bankerott gelangen. Sehen Sie nur unsre Frauen an und vergleichen Sie sie mit den kraftvollen Weibern von einst. Unsre geschlechtslosen, unsteten, krankhaft sinnlichen Frauen – wir machen sie zu dem, was sie sind, mit unsern Praktiken, unsrer Kunst und unsrer Literatur, durch unser Ideal der beschränkten, dem tollen Geld und Machthunger geopferten Familie. Tod dem Kinde, und damit auch der Frau, Tod uns selbst, allem, was die Freude, das Glück, die Gesundheit ist!... Und sagen Sie mir, haben Sie je deutlicher das Ende einer Gesellschaft gefühlt, als in diesem Haufe, in diesem mit seltenen Kostbarkeiten gefüllten Räume, in diesem absterbenden Luxus? Sehen Sie hier nicht das große Drama der Zeit mit an, die Entsittlichung durch den Widerwillen gegen das Leben, durch die gewollte und gepriesene Unfruchtbarkeit? Wozu leben, wenn jedes neugeborene Wesen ein Unglücklicher mehr ist? Die Unterschlagungen haben ihr Zerstörungswerk getan, der eheliche Zank hat das Haus der Anarchie überliefert, der Mann geht rechts, die Frau links, und nun sind die drei armen Kinder in den Händen dieser Erzieherin, wachsen aufs Geratewohl auf, den schlimmsten Gefahren preisgegeben. Ach, die armen Geschöpfe, sie beklage ich besonders, ich kann nicht hierherkommen, ohne daß mir das Herz um ihretwillen weh tut!« Boutan fuhr mit leiserer Stimme fort, erzählte, wie er die kleine Andrée liebhabe, ein so hübsches und sanftes Kind, so verschieden von den andern, daß ihre Mutter oft scherzhaft ihre Amme, die Catiche, anklagte, daß sie ihr die Natur mit der Milch eines geduldigen Haustieres verändert habe, weil sie so wenig der Familie nachgeriet, immer harmlos und fröhlich blieb, sich unter den fortwährenden Quälereien ihres Bruders nie empörte. Gaston gefiel ihm gar nicht, er war brutal, beschränkten Geistes, übertrieb noch die aristokratischen Manieren seines Vaters, entwickelte noch mehr Eigensinn, mehr Herzenshärte, in der egoistischen Sicherheit seiner Uebermacht, die er nicht einmal in Frage ziehen ließ. Aber das hauptsächlichste Interesse des Arztes erregte Lucie, nun zwölf Jahre alt, ein blasses, mageres und zartes Mädchen, mit mattblonden Haaren und blauen, traumfeuchten Augen. Sehr frühzeitig und gegen alle Voraussicht in die Pubertät getreten, hatte sie sich krank geglaubt, war von Ekel und Entsetzen ergriffen über dieses Blut, das sie zum Weibe machte. Und seitdem er sie wiederhergestellt hatte, verfolgte und studierte er bei ihr die merkwürdigsten Erscheinungen, einen wachsenden Abscheu gegen alle sinnlichen Reizungen, eine Art frühreifen Mystizismus, dessen Schwärmerei in ihr seltsame Vorstellungen von Engeln und Jungfrauen von körperloser Reinheit und Unschuld erweckte. Alles Leben, alle Fortpflanzung, ein Ameisenhaufen, ein Bienenschwarm, ein Nest mit kleinen, noch nackten Vögelchen, stieß sie ab, flößte ihr einen Widerwillen ein, der sich bis zu förmlichem Ekel steigerte. Und er sagte scherzend, daß dieses Mädchen das richtige Kind des Pessimismus der Eltern sei, in ihrem Abscheu vor fruchtbarer, lebender und warmer Körperlichkeit.

Jetzt kam Valentine in ihrer gewöhnlichen wirbeligen Art herein, wie immer verspätet, wie immer durch irgendein unerwartetes Geschehnis aus dem Gleichgewicht gebracht. Mit ihren sechsunddreißig Jahren verriet sie in ihrem Aeußern noch immer ihr Alter nicht, war ebenso mager, ebenso lebhaft, wie sie gewesen war, als sie Andrée bekommen hatte, mit denselben wirren blonden Löckchen, demselben kleinen feinen, knabenhaften Gesichte. Glücklicher als andre, wurde sie, wie der Doktor von ihr sagte, von der Flamme ihrer widernatürlichen Lebensweise bloß immer mehr ausgetrocknet und reduziert. »Guten Tag, Monsieur Froment, guten Tag, Doktor! Entschuldigen Sie mich, daß ich Sie habe warten lassen, lieber Doktor. Denken Sie nur, ich ging in die Madeleinkirche, um den Anfang einer Predigt des Abbé Levasseur zu hören, und dachte mir, daß ich mich später davonmachen werde, da ich Sie hierher bestellt habe. Und dann habe ich Sie ganz vergessen, so sehr hat mich der Abbé gefangengenommen, oh, aber auch ganz gefangengenommen, ohne daß ich etwas von mir zurückbehalten hätte.«

Sie war noch ganz verzückt und sah schwärmerisch drein. Gleichwohl fand sie den Abbé lau, und warf ihm vor, daß er mit den modernen Ideen paktiere, weil er an die Möglichkeit einer Verständigung zwischen Religion und Wissenschaft zu glauben schien.

Boutan unterbrach sie lächelnd. »Sind Ihre neuralgischen Schmerzen wiedergekehrt?«

»O nein, nein! Ich habe Sie nicht meinetwegen hergebeten, sondern wegen Lucie, die mich wirklich zur Verzweiflung bringt. Ich verstehe das Kind gar nicht mehr. Denken Sie nur, daß sie heute früh nicht aufstehen wollte. Als man mir das meldete, bin ich zu ihr gegangen. Zuerst hat sie mir keine Antwort gegeben und sich gegen die Wand gekehrt. Dann hat sie auf alle meine Fragen nichts andres getan, als zehnmal, zwanzigmal zu wiederholen, daß sie ins Kloster gehen will, ohne irgendeine Erklärung, das Gesicht weiß wie das Bettuch, mit stieren Augen. Was halten Sie von dieser neuen Laune?«

»Hat sich heute nacht, gestern abend, denn nichts ereignet?« fragte der Doktor.

»Heute nacht, nein, soviel ich weiß. Gestern abend auch nicht. Der Abend ist sehr ruhig verlaufen. Ich war allein zu Hause, ich war nicht ausgegangen; und da unser Freund Santerre frühzeitig gekommen ist, um eine Tasse Tee bei mir zu trinken, so habe ich mich mit ihm in meinen kleinen Salon zurückgezogen, nachdem ich die Kinder verabschiedet hatte, damit sie uns nicht die Ohren volllärmen. Sie haben sich vermutlich zur gewohnten Zeit schlafen gelegt.«

»Hat sie geschlafen, hat sie über nichts geklagt?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Es scheint ihr übrigens nichts weh zu tun. Ich glaube nicht, daß sie krank ist, denn Sie können sich wohl denken, daß ich heute nachmittag darauf verzichtet hätte, auszugehen, wenn ich im geringsten ernstlich beunruhigt gewesen wäre. Aber ich wollte Sie doch zu Rate ziehen, so bringt mich das außer mir, ein solcher Starrsinn, nicht aus dem Bett herauszuwollen. Gehen wir in ihr Zimmer, Doktor, und schellen Sie mir sie ordentlich aus, bringen Sie mir sie rasch auf die Beine.«

Nun trat auch Séguin ein. Er hatte die letzten Worte seiner Frau gehört, und begnügte sich, Boutan stillschweigend die Hand zu drücken, der dann mit Valentine das Zimmer verließ. Hierauf entschuldigte er sich seinerseits bei Mathieu.

»Verzeihen Sie mir, lieber Freund, daß ich Sie habe warten lassen. Ich habe ein Pferd krank, einen ausgezeichneten Renner, auf den ich große Hoffnungen gesetzt hatte. Alles geht schief ... Sprechen wir von unsrer Angelegenheit, in der ich übrigens vollkommen erfolglos geblieben bin.«

Er berichtete erbost, daß Lepailleur für seine paar Hektar Heide, diese unglückselige Enklave, einen so wahnsinnigen Preis verlangt habe, daß jeder weitere Schritt in dieser Sache vergeblich sei. Der Müller hatte sich übrigens seine stille Wut über Mathieus Triumph anmerken lassen, daß diese großen ertraglosen Felder, die seit Jahrhunderten dem Unkraut überlassen waren, von denen er behauptet hatte, daß da niemals ein Halm wachsen würde, nun üppig reiche Ernten lieferten. Er war darob nur um so erbitterter gegen die Erde, er verwünschte sie nur um so mehr, die ungerechte Rabenmutter, die so hart gegen ihn, den Bauernsohn war, und so nachgiebig gegen diesen Städter, der vom Himmel gefallen war, um die Gegend auf den Kopf zu stellen. Und er hatte grinsend gesagt, daß diese Buchflächen nunmehr Goldes wert seien, da es Zauberer gäbe, die die Frucht aus Steinen herauswachsen ließen.

»Ich habe mir die Mühe genommen, ihn selbst aufzusuchen, wissen Sie. Früher hat er mir wiederholt sein Stückchen Heide angetragen, und ich habe es natürlich nicht gewollt, da ich ja selber meinen Besitz loswerden wollte. Und er hat es sich nicht versagt, mich zu höhnen, mir verstehen zu geben, daß ich eine Dummheit begangen habe. Ich hätte ihn ohrfeigen mögen ... Er hat nun auch ein Mädchen?«

»Ja, die kleine Thérèse,« erwiderte Mathieu lächelnd. Er war von vornherein sicher gewesen, daß der Weg vergeblich sein werde. »Im vorigen Jahre hat er dieses Unglück gehabt, wie er sagt. Er hat den Zorn darüber noch nicht verwunden, er hat zuerst seine Frau dafür verantwortlich gemacht, dann die ganze Menschheit, alle Heiligen, selbst den lieben Gott. Er ist ein eingebildeter und rachsüchtiger Mensch.«

»Offenbar, und wahrscheinlich habe ich ihn auch damit beleidigt, daß ich mich nicht in Ausrufen der Bewunderung über seinen Bengel, seinen Antonin, erging, der, wie ich höre, mit zwölf Jahren sein Abgangszeugnis in der Schule von Janville erhalten hat, wo er als Wunderkind angesehen wird.«

Mathieu wurde wieder von leichter Heiterkeit erfaßt.

«Ja, ja, da wundert mich Ihr Mißerfolg freilich nicht mehr. Als ich ihnen eines Tages den Rat gab, ihren Antonin in eine Ackerbauschule zu schicken, hätten mich der Mann und die Frau beinahe geschlagen. Sie wollen einen Herrn aus ihm machen.«

Auf alle Fälle war aber die Sache mißlungen, und Séguin war darüber untröstlich, denn er mußte nun darauf verzichten, daß Mathieu ihm dieses Jahr mehr Boden abnehme, als den letzten Teil des Sumpfplateaus, gegen Westen hin. Der Kaufvertrag war übrigens bereit, sie tauschten die Unterschriften aus. Es blieben nun nur mehr zwei Partien, die eine bestehend aus etwa hundert Hektar Wald gegen Lillebonne hin, die andre aus allen Heideflächen bis nach Vieux-Bourg, welche durch den Lepailleur gehörigen Streifen von den dürren Feldern getrennt waren, die Mathieu bereits erworben hatte.

»Ich hätte Ihnen vorteilhaftere Bedingungen gemacht. Sie hätten dabei gewonnen,« sagte Séguin, der in Geldnöten war. »Aber Sie sind ein kluger Mann, und ich weiß, daß ich Sie nicht überreden kann, wenn Sie entschlossen sind, zu warten, nur der Notwendigkeit nach erstrittenem Siege nachzugeben. Viel Glück also, es ist in meinem Interesse.«

Ihr Verkehr hatte sich stets in sehr korrekten, etwas gemessenen Formen bewegt und sie schüttelten sich zum Abschied die Hände, als die Tür sich öffnete, ohne daß ein Bedienter sich die Mühe genommen hätte, anzumelden.

»Ah, Sie sind's!« sagte der Hausherr gelassen. »Ich glaubte Sie bei der Generalprobe Ihres Freundes Maindron.«

Santerre trat ein mit dem etwas müden Lächeln eines vom Glücke verhätschelten gewandten Mannes auf den Lippen. Er war sehr stark geworden, von Erfolg gebläht, seine schönen braunen Augen hatten noch immer den schmeichlerischen Ausdruck, sein Bart, der seinen bösen Mund verbarg, war noch immer sorgfältig gepflegt. Er hatte als erster den nahe bevorstehenden Bankerott der Alkovenromane, der Junggesellenwohnungsabenteuer gewittert, und hatte sich Valentine in ihrer religiösen Manie zugesellt, schrieb nun Geschichten, in denen Bekehrungen vorkamen, in denen der katholische Autoritätsgeist siegreich war, den die Mode wieder auf den Schild erhob. Dabei hatte sich übrigens seine Verachtung der menschlichen Herde nur verstärkt.

»Oh, das Stück von Maindron,« erwiderte er, »Sie haben keine Vorstellung von dieser Plattheit. Wieder ein Ehebruch, es wird schon zu abgeschmackt! Es ist unglaublich, daß das Publikum, dem fortwährend eine solche Kost vorgesetzt wird, sich nicht endlich dagegen auflehnt, und unsre traurigen Psychologen, die die alte Gesellschaft mit so düsterer Miene zu Grabe tragen, müssen sie wahrlich schon zu hoffnungsloser Fäulnis gebracht haben, daß sie so im Kote erstickt ... Ich meinerseits habe mich nicht geändert. Nur wenn man sich strengen Gesetzen unterwirft, kann man die Begierde töten. Gott selbst wird die Welt vernichten, um das letzte Glück herbeizuführen.«

Als er fodann Mathieu bemerkte, der ihn verblüfft ansah, offenbar in Erinnerung an seine einstige Rolle als Romanschriftsteller im Frack, der das elegante Laster propagierte, diese schöne Welt einsargte, die er für seinen Vorteil ausbeutete – begnügte er sich, kurz abzubrechen, indem er sagte:

»Ich bin aus dem Theater davongelaufen ... Es ist schön draußen, ich habe einen Wagen, kommen Sie mit in die Pastellausstelluug?«

»Nein, mein Lieber, ich wenigstens nicht,« sagte Séguin in seiner entschiedenen Weise. »Die Pastellmaler sind mir schrecklich langweilig. Fragen Sie Valentine, ob sie frei ist.«

Und mit der Gebärde, die diese Worte begleitete, gab er ihm die Frau anheim, mit dem Vertrauen eines Gatten, der entschlossen ist, nichts zu wissen. Zehnmal hatte er, von sinnloser Eifersucht tobend, Valentine beinahe getötet, indem er sie der schmutzigsten Untreue anklagte. Aber ohne daß dafür eine vernünftige Erklärung möglich gewesen wäre, ohne jede Logik, hatte er ihr immer Santerre nachgesehen; dieser zählte offenbar nicht; oder aber, wenn der Gatte lange von ihren Beziehungen nichts gewußt hatte, so hatte er sich später der bestehenden Tatsache anbequemt. Und besonders, seitdem er den trefflichen Einfall gehabt, den Liebhaber wieder ins Haus zu bringen, um selber da frei leben zu können, ließ er es zu, daß der zu jeder Stunde kam, sich da häuslich einrichtete, mit seiner Frau ausging, mit ihr heimkehrte; und alle drei lebten in fröhlicher Gemeinschaft, lachten miteinander und diskutierten nach wie vor mit eleganter Verbitterung und Illusionslosigkeit.

»Ich reiße mich gerade auch nicht um die Pastellausstellung. Etwas andres ist mir ebenso lieb. Es handelt sich nur darum, den Nachmittag totzuschlagen. Maindron hat mich mit seinem ersten Akt lebensüberdrüssig gemacht ... Herrgott, was gibt es doch für öde Tage!«

»Wenn sie nur nichts weiter als öd sind! ›Sirius‹ ist krank, mein Stall ist lahmgelegt, alles geht schief ... Am liebsten würde man allem ein Ende machen!«

»Wie, es ist also wahr, ›Sirius‹ ist krank? Armer Freund, wenn Sie wollen, machen wir gemeinschaftlich ein Ende. Ich schleppe mich, ich gähne mich durchs Leben!«

»Mich widert es an zum Erbrechen. Es ist ekelhaft!«

Ein Stillschweigen entstand. Dann sagte Santerre matt: »Sonst also kein Unglück heute?«

»Nein. Die Schornsteine fallen mir noch nicht auf den Kopf. Das kommt schon noch.«

»Hoffen wir es. Und diese alte Metze Erde mit ihrem wimmelnden Geschmeiß dreht sich unbekümmert weiter ... ›Sirius‹ krank, da hört alles auf!«

Mathieu, den das Gespräch mit Widerwillen erfüllte, hatte sich erhoben, um zu gehen, als ein Dienstmädchen hereinkam und umständlich meldete, Madame bitte Monsieur, sogleich ins Zimmer Mademoiselle Lucies hinüberzukommen, da Mademoiselle eigensinnig darauf beharre, nicht Vernunft anzunehmen. Und Séguin bat die beiden Herren mit seinem ironischen Phlegma, ihn zu begleiten, um ihm zu helfen, sagte er, dieser jungen Dame beizeiten die Ueberzeugung von der männlichen Ueberlegenheit beizubringen.

Im Zimmer Lucies spielte sich eine außergewöhnliche Szene ab. Das Mädchen hatte, auf dem Rücken liegend, die Decke bis ans Kinn hinaufgezogen und hielt sie da krampfhaft mit ihren schmalen Händen fest, wie um sich zu wehren, um zu verhindern, daß man sie von diesem Bette entferne, aus welchem sie eigensinnig sich nicht herausrühren wollte. Man sah nichts als ihr weißes, blutloses Gesichtchen, das von ihren matten blonden Haaren umflossen war; während ihre blauen Augen mit dem Ausdruck wilder Entschlossenheit starr nach der Decke blickten. Als ihre Mutter mit Doktor Boutan eingetreten war, hatte sich ihr Blick mit dem Ausdruck schrecklichen Leidens verdüstert; aber sie rührte kein Glied, der leichte Atem ihrer zarten Brust bewegte nicht einmal die Decke; und einige Minuten lang hatte sie jede Antwort verweigert, mit starrem Gesichte daliegend.

»Sind Sie krank, liebes Kind? Ihre Mama sagt mir, daß Sie heute früh nicht aufstehen wollten. Was tut Ihnen weh?«

Sie blieb starr, ohne ein Wort, ohne eine Bewegung.

»Sehen Sie einmal, es wäre sehr häßlich von Ihnen, Ihre Eltern so besorgt zu machen, und sich so eigensinnig dagegen zu sträuben, daß ich Ihnen helfe. Seien Sie brav und sagen Sie mir, was Ihnen fehlt. Haben Sie Leibschmerzen?«

Sie blieb starr, ohne die zusammengepreßten Lippen zu öffnen, ohne einen Finger zu rühren.

»Ich habe Sie wirklich für vernünftiger gehalten. Sie machen uns allen vielen Kummer. Ich muß aber doch wissen, was Ihnen fehlt, wenn ich Ihnen helfen soll.«

Als er jedoch Miene machte, eine ihrer Hände zu erfassen und frei zu machen, wurde sie von einem solchen Schauer erfaßt und zog die Decke so krampfhaft an ihren Hals, daß er davon abstehen mußte, ihr den Puls zu fühlen, da er keine Gewalt anwenden wollte.

Valentine, die schweigend gewartet hatte, wurde böse. »Wahrhaftig, Lucie, du mißbrauchst unsre Geduld; dies ist schon unsinnig, und ich werde deinen Vater rufen müssen, daß er dich straft. Seit heute früh klammerst du dich ans Bett, du willst mir nicht einmal sagen, was dir geschehen ist. Sprich doch wenigstens, erkläre uns, was du hast, damit wir uns danach richten können. Hast du dich über irgendwen zu beklagen? Was hat man dir gefügt, was hat man dir getan?«

Da jedoch Lucie in ihre Todesstarrheit zurückverfallen war, ließ die Mutter auf den Rat des Arztes Nora rufen, damit er selbst sie ausfragen könne. Als das große blonde Mädchen erschien, glaubte er bei dem Kinde denselben Schauer zu bemerken, wie in dem Augenblicke, da er sie hatte berühren wollen, dasselbe Verlangen, sich zu verkriechen, ganz zu verschwinden.

Am Fuße des Bettes stehend, antwortete Nora auf die an sie gestellten Fragen mit ihrem ruhigen Lächeln, mit der gewissenlosen Unverschämtheit, die stets aus den schönen Augen dieser Prachterscheinung lachte.

»Ich weiß gar nichts, Monsieur. Selbstverständlich bringe nicht ich die Kinder zu Bett. Gestern abend schien sich Mademoiselle Lucie ganz wohl zu befinden. Sie hat sich jedenfalls um die gewöhnliche Stunde zu Bett begeben, nachdem sie noch vorher ihre Mutter, die einen Besuch hatte, im kleinen Salon umarmt hatte. Ich bin dann wie gewöhnlich nur auf einen Augenblick hier hereingekommen, um ihr gute Nacht zu wünschen. Was wollen Sie, daß ich Ihnen sage? Ich weiß sonst nichts.«

Während sie sprach, wandte sie ihre großen Augen nicht von dem Kinde ab; sie war übrigens vollkommen gelassen und sprach herausfordernd und wie in der Sicherheit, daß sie nichts sagen würde, daß sie nichts zu sagen habe. Eine innere Heiterkeit, wie in Erinnerung an irgendeine drollige Begebenheit, stieg sogar zu ihren Lippen empor und enthüllte ihre weißen Raubtierzähne. Das war zu viel für das Kind, es brach in konvulsivisches Schluchzen aus, als der Blick seiner blassen blauen Augen, der bisher starr an der Decke gehaftet hatte, auf diesen andern, spöttischen brennenden Blick traf, der auf ihr ruhte.

»Oh, laßt mich in Ruhe, sprecht nicht mit mir, seht mich nicht an! Ich will ins Kloster gehn, ich will ins Kloster gehn!«

Das war der Schrei, den das frühreife, Kind gebliebene Weib in ihr, überwältigt von Abscheu gegen sein Geschlecht, schon am Morgen ausgestoßen hatte. Sie wiederholte ihn nun mit erneuerter Heftigkeit, unablässig, immer wieder. Und in ihrer Beharrlichkeit, nicht aufstehen zu wollen, nicht mehr zuzugeben, daß man die Haut ihrer Hände sehe, barg sich der Wunsch, sich mit ihrem ganzen Körper zu verkriechen, für die ganze Welt abzusterben, um dem verhaßten physischen Gefühle zu entrinnen. Sie hätte wollen, daß man die Vorhänge dicht schließe, um nicht mehr vom Licht des Tages berührt zu werden. Sie hätte für immer allein sein wollen, ohne die Wärme eines andern Wesens neben sich, in der Oede einer Gruft, um dem Ekel zu entfliehen, zu leben, um sich, in sich Leben zu fühlen.

»Ich will ins Kloster gehen! Ich will ins Kloster gehen!«

Nun ließ Valentine, die glaubte, daß sie ganz von Sinnen komme, Séguin holen. Und inzwischen fuhr sie fort, ihr zu predigen, sehr mütterlich, sehr würdevoll.

»Wahrhaftig, du kannst einen zur Verzweiflung bringen. In deinem Alter spricht man nicht so davon, ins Kloster zu gehen, als ob du zu Hause nur Ursache zu Trauer und Kummer hättest. Ich glaube doch, dir gegenüber meine Pflicht erfüllt zu haben, ich habe mir glücklicherweise nichts vorzuwerfen ... Wahrlich, du kennst zur Genüge meine tiefe Religiosität, ich habe dich genügend in Ehrfurcht vor unserm Glauben erzogen, daß es mir erlaubt ist, dir zu sagen, daß du Gott lästerst, indem du ihn mit der eigensinnigen Laune eines kranken Kindes in Verbindung bringst. Man geht nicht ins Kloster, wenn man nicht gehorsam ist, und Gott will keine Kinder, die ihre Mutter kränken, nachdem sie von ihnen nur gute Beispiele empfangen haben.«

Die Augen Lucies waren nun an denen ihrer Mutter haftengeblieben; und, je länger sie sprach, desto mehr vergrößerten sich vor Entsetzen diese armen Augen eines in seiner Schwärmerei für himmlische Reinheit tödlich getroffenen unschuldigen Kindes, drückten die furchtbarsten Qualen aus, die zerstörte Achtung, die vernichtete Liebe, die ganze Verzweiflung einer armen jungen Seele, in der die kindliche Pietät zertrümmert worden.

Nun trat Séguin ein, gefolgt von Santerre und Mathieu. Während Valentine zu sprechen fortfuhr, ihm den Fall unterbreitete, seinen väterlichen Machtspruch aufrief, behielt er in den Mundwinkeln einen leichten ironischen Zug als wollte er sagen: »Was willst du, meine Liebe? Du hast sie so schlecht erzogen, daß sie unsinnige Launen haben.« Als die Mutter zu Ende war, wendete er sich gegen den Arzt, der es mit einer Gebärde ablehnte, etwas zu tun, da das Mädchen sich nicht untersuchen lassen wollte. Er blickte wohlgefällig auf Nora, als er bemerkte, daß sie gleich ihm über diese alberne Szene lächelte. Und er tat, als wolle er Mathieu zum Zeugen nehmen, ehe er das Urteil sprach, als Santerre glaubte, in scherzhafter Weife die Sache zum guten Ende führen zu können.

»Wie, meine kleine Lucette, ist das wahr, was die Mama erzählt? Nein, nein, sie irrt sich, nicht wahr? Du bist ein braves Kind. Komm, ich werde dir einen Kuß geben, und du wirst mir einen Kuß geben, und alles ist wieder gut. Ich stehe dir dafür ein, daß dein Papa und deine Mama dir verzeihen.«

Er lachte laut und beugte sich mit vorgestrecktem Gesichte gegen sie. Aber vor diesem Männergesichte, dieser Fleischmasse mit den großen glänzenden Augen, mit den halb in dem Bartwalde verborgenen dicken Lippen, geriet Luci in Bewegung, gab Zeichen eines tiefen Entsetzens, eines furchtbaren Abscheus.

»Kommen Sie mir nicht nahe, ich will nicht! Nein, küssen Sie mich nicht, Sie, küssen Sie mich nicht!«

Santerre achtete nicht darauf, wollte sie durchaus scherzhaft fassen, in der Hoffnung, ihren Eigensinn damit zu überwinden.

»Warum sollte ich dich nicht küssen, Lucette? Ich küsse dich doch alle Tage?«

»O nein, ich will nicht mehr! Lassen Sie mich, um der Barmherzigkeit willen! O nein, o nein, Sie nicht, niemals mehr!«

Und da er trotz ihrer Schreie das Spiel bis zum äußersten trieb, bäumte sie sich empor, und warf sich nach rückwärts, wich seinem Munde aus, wie einem glühenden Eisen. Diese Decke, die sie so dicht um ihren Hals gezogen hatte, warf sie nun in der besinnungslosen Angst ihrer Schamhaftigleit zurück, um zu fliehen, enthüllte ihre mageren Schultern, den geschmeidigen Körper des heranwachsenden Mädchens. Sie zitterte vor Entsetzen, sie wurde toll über all diese Abscheulichkeit, sie schluchzte und stammelte.

Und als sie glaubte, daß er sie trotz allem fassen und halten und küssen würde, ließ sie sich, von Ekel überwältigt, das schändliche Geheimnis entschlüpfen, das sie seit dem Morgen in stummer Erstarrung gehalten, ihr den eigensinnigen Entschluß eingeflößt hatte, nicht mehr leben zu wollen.

»Küssen Sie mich nicht! Nie, nie mehr! Ich habe Sie gesehen, gestern abend, im kleinen Salon, mit Mama! Oh, wie abscheulich, wie abscheulich!« Santerre fuhr erbleichend zurück. Eine tödliche Stille und Kälte schienen von der Decke herabgefallen zu sein. Alle standen erstarrt, warteten regungslos, unfähig, das Unabwendbare, das nicht wieder Gutzumachende zu verhindern.

Und Lucie fuhr, außer sich, verzweifelt fort: »Nono, ist zu mir gekommen, wie ich gerade einschlafen wollte, und hat gesagt, sie wird mir etwas Lustiges zeigen. Sie hat ein großes Loch in die Thür gebohrt, Nono, und sie schaut zur Unterhaltung abends durch. Ich habe geglaubt, daß Gaston mit Andrée irgendeine Dummheit macht, und bin bloßfüßig, im Hemd hingegangen. Und was habe ich gesehen, was habe ich gesehen! ... Oh, ich bin zu unglücklich, ich will ins Kloster, ich will ins Kloster, jetzt gleich!«

Sie fiel ins Bett zurück, sie zog die Decke ganz herauf, wie um darin zu verschwinden, sie drehte sich gegen die Wand, wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören. Und als die krampfhaften Schauer, die ihren Körper noch durchliefen, aufgehört hatten, lag sie wie tot.

Unter dem Schlage dieser öffentlichen Enthüllung, die aus solchem Munde kam, war Séguin ein Blutstrom in die Augen gestiegen, ein Wiederaufschäumen jener brutalen Eifersucht, die ihm die Sucht einflößte, seine Frau zu erwürgen; und schon hatte er, Santerre, der totenbleich dastand, unberücksichtigt lassend, sich gegen Valentine gewendet, mit so drohendem Ausdrucke, daß sowohl Mathieu als der Doktor sich darauf vorbereiteten, einzugreifen. Aber fast gleich darauf sahen diese, wie er sich beherrschte, wie er den ironischen Zug um den Mund wiederfand, als sein Blick abermals auf Nora fiel, die, ein wenig blaß, am Fußende des Bettes stand, erstaunt, daß das Kind gewagt hatte, die Sache zu erzählen, im übrigen aber in stolzer Haltung und trotzig. Einzig Valentine wagte es, sich zu empören, ihre Entrüstung in einem Aufwallen von Stolz und Selbstbewußtsein hinauszurufen, in welchem sich das Blut der Baugelade, so entartet es auch sein mochte, offenbarte.

Sie ging auf die Erzieherin los und sagte ihr ins Gesicht: »Das ist gemein, was Sie da getan haben, Mademoiselle. Die letzte Dirne im letzten Freudenhause wäre nicht auf eine solche Schändlichkeit verfallen, in so dummer und frecher Weise die Kindheit zu beschmutzen, alle Achtung, alle Liebe zwischen einer Mutter und ihrer Tochter zu zerstören. Sie sind entweder krank oder die niedrigste Metze. Gehen Sie, ich jage Sie fort!«

Nun erst ließ sich Séguin, der bis jetzt den Mund nicht geöffnet hatte, herbei, einzugreifen, betätigte endlich seinen Herrenwillen. Er sagte in seiner kalten, lächelnden Weise: »Verzeihe, meine Liebe, ich will nicht, daß Nora geht. Sie wird bleiben. Wir werden wahrlich nicht das Haus auf den Kopf stellen, Gewohnheiten aufgeben, bei denen wir uns fehr wohl befinden, so oft diese verdrehte Lucie bei Nacht böse Träume hat. Geben Sie ihr ein Purgativ, Doktor, lassen Sie ihr eine ordentliche Douche verabreichen. Und vor allem keine Visionen, keine Nachtwandlergeschichten mehr, oder ich werde böse.«

Als Mathieu sich mit dem Arzt wieder auf der Straße befand, nachdem dieser sich begnügt hatte, eine beruhigende Arznei zu verschreiben, tauschten sie einen langen, schweigenden Händedruck. Dann sagte Boutan, ehe er in seinen Wagen stieg, ruhig: »Wollen Sie mehr? Ist das nun der Zusammenbruch, den ich Ihnen eben vorhersagte? Eine Gesellschaft, die im Sterben liegt, infolge ihres Hasses gegen das normale und gesunde Leben! Die Vernichtung auf allen Seiten, das Vermögen vermindert und täglich mehr verschleudert, die Familie beschränkt, beschmutzt, zerstört? Die ärgsten Ausschweifungen beschleunigen die vollkommene Zersetzung, mystisch-hysterische Mädchen von zwölf Jahren haben einen Abscheu gegen die Fruchtbarkeit gefaßt, verlangen nach dem lebenden Tode des Klosters! ... Ach ja, wir sind auf dem besten Wege, diese Unglücklichen wollen tatsächlich das Ende der Welt!«

In Chantebled fuhren Mathieu und Marianne fort, zu arbeiten, zu schaffen, zu zeugen. Und während der zwei Jahre, die hingingen, waren sie abermals siegreich in dem ewigen Kampfe des Lebens gegen den Tod, durch das fortgesetzte Wachstum der Familie und der fruchtbaren Erde, das der Inhalt ihres Daseins war, ihre Freude und ihre Kraft. Die Begierde fuhr in Flammenstürmen hin, die göttliche Begierde machte sie fruchtbar, gab ihnen Kraft zu lieben, gut zu sein, gesund zu sein; und ihre Energie tat das übrige, ihre Tatfreudigkeit, die tapfere Beharrlichkeit in der nützlichen Arbeit, die die Welt aufbaut und in Ordnung hält. Aber während dieser zwei Jahre ward ihnen der Sieg nicht ohne schweren Kampf. Je mehr der Besitz anwuchs, desto bedeutendere Geldsummen setzte er in Bewegung, deren Verwaltung immer mehr Mühe verursachte. Die ersten Schulden waren indessen bereits bezahlt, und sie konnten von da ab das kostspielige System der Beteiligung und der aus den Gewinnen zurückzuzahlenden Vorschüsse aufgeben, zu welchem sie sich anfangs hatten verstehen müssen. Es gab nun nur noch ein Haupt, einen Patriarchen, dessen Ziel war, seine Familie auf seinen Besitz zu gründen, keine andern Gehilfen, keine andern Gesellschafter zu haben als seine Kinder. So oft er ein neues Stück Erde eroberte, geschah es für eines von ihnen, er wollte seinem kleinen Volke ein Vaterland geben. Später würden die Wurzeln, alles was fest haftet und nährt, hier bleiben, wenn auch einige von ihnen sich über die Welt zerstreuen, sich verschiedenen Gesellschaftsklassen zuwenden würden. Und welche abschließende Ausdehnung diesmal, dieser letzte Teil der Sumpfflächen, womit das ganze Plateau, über hundert Hektar, urbar gemacht war! Noch ein Kind konnte zur Welt kommen, es würde seine Nahrung finden, die Erde würde die Frucht tragen für sein tägliches Brot. Und als die Arbeiten durchgeführt waren, die letzten Quellen gefaßt, der Boden entwässert und urbar gemacht, da bot im kommenden Frühjahr die weite, bis an den Horizont sich erstreckende grüne Fläche, auf der die triumphierende Ernte sich ankündigte, einen großartigen Anblick. Das entschädigte für alle Tränen, für alle nagenden Sorgen der ersten, arbeitsvollen Zeit.

Und neben dieser Schöpfung Mathieus fuhr Marianne fort, Kinder zu gebären. Sie war nicht nur die tüchtige Wirtschafterin, die bei der Verwertung des Gewonnenen half, die Rechnungen führte, in Haus und Hof schaltete. Sie blieb die anbetungswürdige, angebetete Gattin, die von der göttlichen Begierde fruchtbar gemacht wurde, die Mutter, die, nachdem sie das Kind zur Welt gebracht, nachdem sie es mit ihrer Milch vollends lebensfähig gemacht, seine Lehrerin und Erzieherin wurde, um ihm auch noch Verstand und Gemüt zu geben. Gute Gebärerin, gute Erzieherin, sagte Boutan mit seinem angenehmen Lächeln. Viele Kinder bekommen, ist nur eine körperliche Eignung, welche zweifellos viele Frauen besitzen; aber es ist ein glückliches Zusammentreffen, wenn diese Frauen auch die gesunden seelischen Eigenschaften haben, um sie gut zu erziehen. Sie, die Fröhliche und Kluge, setzte ihren Stolz darein, von ihren Kindern alles durch Sanftmut und Güte zu erreichen, und ihre Kinder hörten auf sie, gehorchten ihr, umgaben sie mit einem Kultus, weil sie sehr schön, sehr gut und sehr geliebt war. Ihre Aufgabe war nichts weniger als leicht inmitten dieser Kinder, nun schon acht an der Zahl, deren Schwarm ihre Pflicht erschwerte. Wie in alle Dinge brachte sie auch in dieses eine wohlbedachte Ordnung, hielt die älteren dazu an, die jüngeren zu bewachen, teilte jedem seine liebevolle Machtvollkommenheit zu, ging siegreich aus den schlimmsten Verlegenheiten hervor, indem sie über alle Wahrheit und Gerechtigkeit herrschen ließ. Die ältesten, Blaise und Denis, die sechzehn Jahre alt waren, Ambroise mit nun bald vierzehn Jahren, entfernten sich schon ein wenig von ihr, waren nun in den Händen des Vaters. Aber die fünf andern, von Rose mit ihren elf Jahren, bis hinunter zu Luise mit ihren zwei, vorüber an Gervais, Claire und Grégoire, mit je zwei Jahren Abstand zwischen einem und dem andern, umgaben sie immer mit der gleichen Schar, indem ein Neuankömmling immer nachrückte, wenn das älteste flügge geworden war und das Nest verließ. Und diesmal, nach diesen zwei Jahren, gebar Marianne wieder ein Mädchen, Madeleine, als sie ihr neuntes Kind bekam. Die Entbindung verlief vortrefflich; aber zehn Monate vorher hatte sie infolge von Überanstrengung eine Fehlgeburt gehabt. Und als Mathieu sie wieder gesund und lächelnd sah, mit der kleinen Madeleine an der Brust, da küßte er sie leidenschaftlich, triumphierte wieder einmal über alle Schmerzen und allen Kummer. Noch ein Kind, das bedeutete noch Reichtum und Macht, eine neue in die Welt geworfene Kraft, ein neues für die Zukunft besätes Feld. Und so wuchs immerfort das große und gute Werk, das Werk der Fruchtbarkeit durch die Erde und durch die Frau, siegreich über die Vernichtung, für jedes neue Kind neue Lebensmittel schaffend, liebend, wollend, kämpfend, arbeitend unter Leiden, unaufhörlich zu neuem Leben, neuer Hoffnung fortschreitend.


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