Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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2

Und während der zehn Jahre, die hingingen, dauerte das kräftige Wachstum der Froment fort, ein gesundes Sprießen voll Kraft und Freude auf dem immer reicher erblühenden Besitze Chantebled. In dem Maße, als die Söhne und Töchter heranwuchsen, wurden neue Ehen geschlossen, neue Kinder wurden geboren, die erwartete Ernte kam herein, das erobernde Geschlecht wucherte üppig fort, ins Unendliche.

Zuerst heiratete Gervais Caroline Boucher, die Tochter eines bedeutenden Landwirts der Umgebung, ein kräftiges und frohgemutes blondes Mädchen mit schönen Zügen, eine tatkräftige Frau, die dazu geschaffen war, ihrem kleinen Volke von Bediensteten zu befehlen. Sie war, nachdem sie ihre Erziehung in einem Pariser Pensionat genossen hatte, klug genug gewesen, sich der Erde nicht zu schämen, sich ihr wieder in Liebe zuzuwenden, von ihr das wohlgegründete Glück ihres Lebens empfangen zu wollen. Sie brachte als Mitgift weitgedehnte Wiesen gegen Lillebonne hin, die den Besitz um etwa dreißig Hektar vergrößerten. Und sie brachte vor allem ihre heitere Laune, ihre Gesundheit, die unverdrossene Tatkraft, zeitig aufzustehen als energische, immer in Bewegung befindliche Hausfrau, den Viehhof, die Meierei, die ganze Wirtschaft zu führen, und als letzte schlafen zu gehen.

Dann wurde die seit langem geplante Heirat Claires mit Frédéric Berthaud zur Tatsache. Es gab wehmutsvolle Tränen, die Erinnerung an Rose, die er geliebt hatte, die er hätte heiraten sollen, bewegte die Herzen am Hochzeitstage, als sie auf dem Rückwege vom Standesamt an dem kleinen Friedhof von Janville vorbeikamen. Aber war das nicht ein Band mehr, diese Liebe von einst, die treue Zuneigung dieses wackeren jungen Mannes, die er auf die jüngere Schwester übertragen hatte, im Laufe der langen Zeit, die er auf dem Hofe arbeitete? Er besaß kein Vermögen, er brachte nichts mit, als diese treue Beharrlichkeit, die Art von Brüderlichkeit, die sich zwischen ihm und Gervais entwickelt hatte, während der vielen Jahre, da sie Seite an Seite den Boden bebauten, gleich zwei an denselben Pflug gespannten unermüdlichen Rindern. Er war der unentbehrlich gewordene Gehilfe, das Herz, auf das man bauen konnte, der gute, verträgliche Gatte, das sichere Glück.

Die Leitung des Gutes war somit festgelegt. Mathieu hatte mit kaum fünfundfünfzig Jahren die Herrschaft an Gervais abgetreten, den Sohn der Erde, wie er ihn scherzend nannte, den, der als erster auf ihr gewachsen war, und der sie nie verlassen, ihr Zeit seines Lebens seinen Arm, seinen Kopf, sein Herz gewidmet hatte. Und Frédéric sollte Gervais mit Rat und Tat zur Seite stehen, als sein treuer Gehilfe in der gemeinsamen Aufgabe. Zu zweien sollten sie nun das Werk des Vaters fortsetzen, indem sie die Art der Bebauung immer noch verbesserten, von Denis in der Beauchêneschen Fabrik neue Maschinen bauen ließen, der Erde die ganze reiche Ernte entlockten, die sie zu geben vermochte. Ebenso hatten die beiden Frauen sich in die Herrschaft geteilt; Claire hatte an Caroline, die Kräftigere und Beweglichere, die tatsächliche Leitung der Wirtschaft abgetreten, während sie selbst sich nur mit der Buchhaltung, mit dem bedeutenden Geldumsatze befaßte, die Einkassierungen und Zahlungen besorgte. Die beiden Ehepaare waren wie ausgesucht und klug zusammengestellt, um die größtmögliche Menge von Arbeit hervorzubringen, ohne daß der geringste Zwiespalt zu fürchten gewesen wäre. Es war eine vollkommene Gemeinschaft, ein einheitlicher Wille erstrebte und erreichte immer das Beste, und der Reichtum und das Glück von Chantebled wuchsen unaufhörlich unter der wohlwollenden Sonne.

Aber, wenn auch Mathieu der tatsächlichen Macht entsagt hatte, so blieb er doch der große Schöpfergeist, das Orakel, das man befragte, ehrfürchtig anhörte, dessen Aussprüche man genau befolgte. In dem ehemaligen Jagdpavillon, der durch ihn zu einem großen und behaglichen Wohnhause umgestaltet worden war, lebten er und Marianne in liebevoller Gemeinschaft, gleich den Gründern einer Dynastie, die sich ruhmbedeckt zur Ruhe gesetzt haben und keine andre Freude mehr erstreben, als rings um sich ihr zahlloses Geschlecht, die Kinder ihrer Kinder emporwachsen zu sehen. Außer Claire und Gervais hatten nur noch Denis und Ambroise einen eignen Hausstand gegründet, die beiden zuerst flügge Gewordenen, die in Paris ihre Erfolge errangen. Bei den Eltern befanden sich in dem glücklichen Hause noch immer die drei Mädchen Louise, Madeleine und Marguerite, die nun wohl auch bald zu verheiraten waren, und die drei jüngsten Söhne, Grégoire, der Unbändige, Nicolas mit dem eigensinnigen Willen, Benjamin, ein träumerisches Kind. Diese ganze junge Welt wuchs kräftig heran, am Rande des Nestes, am Fenster des Lebens, das sich vor ihnen öffnete, bis auch sie sich zum Fluge anschicken würden. Zum Hause gehörten ferner Charlotte, die Witwe Blaises, die mit ihren zwei Kindern, Berthe und Guillaume, das oberste Stockwerk bewohnte, wo sie ihr Maleratelier eingerichtet hatte. Sie wurde reich, da ihr kleiner Anteil am Gewinne der Fabrik, den Denis ihr erwirkt hatte, von Jahr zu Jahr größeren Ertrag gab; aber sie fuhr nichtsdestoweniger fort, für den Bilderhändler Miniaturen zu malen, und verdiente damit ihr Taschengeld, wie sie lächelnd sagte, ein kleines Kapital, das sie ihren Kindern zum Geschenke machen wollte, wenn sie sich vermählten. Schon dachte man an Berthes Verheiratung. Sie würde zweifellos das erste Enkelkind Mathieus und Mariannes sein, das heiratete, und es erfüllte sie mit heiterer Freude, zu denken, daß sie vielleicht bald Urgroßvater und Urgroßmutter sein würden.

Vier Jahre später flog Grégoire als erster aus. Es geschah dies unter schwerem Verdruß, mit einem ganzen Gefolge aufregender und kränkender Ereignisse, welche die Eltern übrigens schon seit einiger Zeit hatten kommen fühlen. Grégoire war unlenkbar. Er war immer der Wildfang, der unruhige Geist der Familie gewesen, ein untersetzter, kräftiger Junge mit einem spöttischen Gesichte, in welchem kluge Augen funkelten. Seine Kindheit hatte er damit verbracht, daß er meistens in den Wäldern von Janville herumstrich, anstatt in die Schule zu gehen, dann hatte er mit kläglichen Erfolgen die Pariser Schulen besucht, und war von dort gesund und wohlgemut heimgekehrt, ohne sich zu irgendeinem Beruf oder einer Beschäftigung entschließen zu wollen. Mit nun vierundzwanzig Jahren verstand er nicht viel andres als Jagen, Fischen und Reiten, nicht dümmer oder träger als ein andrer, aber beharrlich in seinem lebenslustigen Egoismus, nur das zu tun, was er wollte und was ihm Vergnügen machte. Und das Schlimmste war, daß ganz Janville sich erzählte, daß er seit einigen Monaten seine einstige Jugendfreundschaft mit Thérèse Lepailleur, der Müllerstochter, wieder angeknüpft habe, und daß man den beiden des Abends unter den Schatten der Weiden an der Yeuse begegne.

Eines Tages ging Mathieu in die Richtung gegen Mareuil, um zu sehen, ob die Rebhühnerbrut zahlreich geworden sei, und nahm Grégoire mit sich. Und als sie allein zwischen den Büschen des Plateaus waren, sagte er: »Hör einmal, mein Junge, ich bin nicht zufrieden mit dir. Ich kann nicht begreifen, wie du hier so im Nichtstun leben kannst, inmitten von uns, die wir alle arbeiten. Ich warte noch bis zum Oktober, da du mir fest versprochen hast, dich bis dahin für irgendeinen Beruf zu entscheiden. Und dann, was ist denn das wieder für eine Geschichte, die mir zu Ohren gekommen ist, von den Zusammenkünften, die du wieder mit der Tochter der Lepailleur haben sollst? Willst du uns durchaus die größten Unannehmlichkeiten zuziehen?«

Grégoire lächelte gelassen. »Ich hoffe, Papa, du wirst doch deinen Sohn nicht ausschelten, weil er der Freund eines hübschen Mädchens ist? Erinnere dich nur, daß ich ihr, vor mehr als zehn Jahren, den ersten Unterricht im Radfahren gegeben habe. Und erinnere dich an die schönen weißen Rosen, die sie mir am Hochzeitstage Denis' aus dem Garten der Mühle stehlen geholfen hat.«

Er lachte fröhlich, indem er an diese Kinderliebe zurückdachte, an die Streifzüge zu zweien längs der Ufer des Flüßchens, an die fröhlichen Brombeermahlzeiten tief drinnen im Walde, in unauffindbaren Verstecken. Und es schien wohl, daß diese Liebe sich wieder entzündet hatte und nun verzehrend flammte, denn bei der Erinnerung war ihm die Röte in die Wangen gestiegen, und seine Augen leuchteten.

»Die arme Thérèse, mit der ich seit Jahren tödlich verfeindet war, weil ich sie eines Abends, auf der Rückkehr vom Kirchweihfeste von Vieux-Bourg, in eine Pfütze gestoßen hatte, so daß sie sich ihr Kleid beschmutzte! Es ist wahr, wir haben uns dieses Frühjahr versöhnt, als wir eines Tages im Gehölz von Monval plötzlich einander gegenüberstanden. Aber ist es denn ein Verbrechen, Papa, daß wir gerne miteinander sprechen, wenn wir uns begegnen?«

Noch mehr beunruhigt durch den Eifer, mit welchem Grégoire sich verteidigte, erwiderte Mathieu: »Ein Verbrechen, nein, wenn ihr euch guten Tag und guten Abend sagt. Aber man erzählt sich, daß man euch, wenn es dunkel geworden ist, einander umschlungen haltend gehen sieht, und jemand will euch sogar im hohen Grase der Yeuse-Ufer liegen und zu den Sternen emporblicken gesehen haben.«

Und als Grégoire nun nur lauter lachte, mit einem fröhlichen, jugendlichen Lachen, ohne zu antworten, fuhr er ernst fort: »Hör einmal, es ist durchaus nicht nach meinem Geschmack, hinter meinen Söhnen den Tugendwächter zu machen. Das einzige, was ich will, ist, daß du uns keine Widerwärtigkeiten mit den Lepailleur zuziehst. Du weißt, wie die Sachen da liegen, sie wären glücklich, wenn sie uns unangenehm werden könnten. Gib ihnen also keinen Vorwand, sich zu beklagen, laß ihre Tochter in Ruhe.«

»Oh, ich bin schon vorsichtig!« rief der junge Mann mit plötzlichem Eingeständnis. »Das arme Kind! Sie hat schon Ohrfeigen bekommen, denn man hat auch ihrem Vater hinterbracht, daß man sie mit mir gesehen hat, und er hat gesagt, daß er sie eher in den Fluß werfen würde, als sie mir zu geben.«

»Da siehst du's,« sagte Mathieu. »Also, nicht wahr, ich rechne auf deine Klugheit?«

Sie durchstreiften die Felder bis zu der Straße von Mareuil. Rechts und links erhoben sich Rebhühnervölker mit noch zaghaftem Fluge. Die Jagd schien gut werden zu wollen. Dann kehrten sie langsam zurück und schritten schweigend nebeneinander hin, beide in Gedanken versunken.

»Ich will kein Mißverständnis zwischen uns, mein Junge,« begann Mathieu plötzlich wieder. »Glaube nur nicht, daß ich dich hindern werde, nach deinem Gefallen zu heiraten, und daß ich auf einer reichen Erbin für dich bestehen will. Unser armer Blaise hat ein Mädchen ohne Vermögen geheiratet. Ebenso Denis, gar nicht zu reden von deiner Schwester Claire, die ich Frédéric, einem einfachen Bediensteten unsers Hauses, gegeben habe. Ich denke also keineswegs geringschätzig von Thérèse. Ich finde sie im Gegenteil allerliebst, sie ist eines der hübschesten Mädchen der Gegend, nicht groß, aber lebhaft und energisch, mit einem rosigen Mäulchen unter ihrem wirren, blonden Haar, das wie vom Mehl der Mühle bestäubt aussieht.«

»Nicht wahr, Vater?« fiel Grégoire begeistert ein. »Und wenn du sie kennen würdest, so gut und so mutig wie sie ist! Sie nimmt es mit einem Manne auf, sie würde selbst dem lieben Gott standhalten... Sie tun unrecht, sie zu schlagen, denn sie wird sich das nicht gefallen lassen. Wenn sie etwas will, so führt sie es durch, und auch ich könnte sie nicht hindern.«

Seine Gedanken verfolgend, hörte Mathieu kaum auf ihn.

»Nein, nein,« fuhr er fort, »ich sehe gar nicht geringschätzig auf ihre Mühle. Es bedarf der ganzen beschränkten Verbohrtheit dieses Lepailleur, um unter den heutigen Verhältnissen nicht ein Vermögen aus ihr zu ziehen. Seitdem der Getreideanbau, dank unserm Erfolge, in der Gegend wieder zu Ehren gekommen ist, hätte er schon eine hübsche Zahl klingender Taler zusammenlegen können, wenn er einfach nur das alte Werk erneuert hätte, anstatt das Rad im Moose faulen zu lassen. Und noch besser wäre es, dort eine Dampfmühle zu bauen und sie mittels einer Flügelbahn mit dem Bahnhof Janville zu verbinden.«

Er fuhr fort, seine Gedanken zu erläutern, und Grégoire hörte, wieder heiter geworden, zu und erwiderte schließlich mit einem Scherze.

»Also, Vater,« sagte er, »da du durchaus willst, daß ich einen Beruf ergreife, so ist die Sache ganz einfach. Ich heirate Thérèse und werde Müller.«

Mathieu protestierte lebhaft.

»Nein, nein, ich spreche nur so theoretisch von der Sache... Du hast mir versprochen, vernünftig zu sein, Grégoire. Noch einmal, um unser aller Frieden willen, laß Thérèse in Ruhe, denn wir haben von den Lepailleur nichts andres als Feindseligkeiten zu erwarten.«

Sie waren zu Hause angelangt, das Gespräch war zu Ende. Am Abend erzählte Mathieu seiner Frau das Geständnis Grégoires, wodurch sie noch mehr beunruhigt wurde, denn auch ihr bereitete die Sache viel Sorgen. Es verging jedoch ein Monat ohne ernste Ereignisse.

Dann fand Marianne eines Morgens das Zimmer Grégoires leer. Gewöhnlich kam er zu ihr herein, um ihr guten Morgen zu wünschen. Vielleicht war er sehr zeitig aufgestanden, um einen Spaziergang zu machen. Ein leichter Schauer überlief sie, als sie sich daran erinnerte, daß er sie gestern bewegt, scheinbar scherzend, zweimal in die Arme geschlossen hatte, ehe er zu Bette ging. Und als sie suchend umherblickte, sah sie auf dem Kaminsims einen an sie gerichteten Brief, einen zärtlichen Brief, worin der junge Mann sie um Verzeihung bat, daß er ihr Kummer verursache, und sie bat, auch dem Vater seine Bitte um Verzeihung zu überbringen, ohne aber andres hinzuzufügen, als daß er sich in die Notwendigkeit versetzt sehe, sie auf einige Zeit zu verlassen. Das war ein sehr schmerzlicher Schlag für die Eltern, dieses Spalten der bisher so geeinigten Familie, diese unschöne Handlung des verzogensten ihrer Kinder, des ersten, der, in einem Anfall besinnungsloser Torheit, das gemeinsame Band zerriß. Ihr Schrecken war um so größer, als sie vermuten mußten, daß er nicht allein davongegangen sei. Sie fanden bald heraus, wie ungefähr das Beklagenswerte sich zugetragen hatte, denn Charlotte erinnerte sich, daß sie Grégoire fast sogleich wieder hinabgehen gehört hatte, noch ehe die Mägde die Tore geschlossen hatten. Wahrscheinlich war er davongeeilt, war mit Thérèse irgendwo im Gehölz zusammengetroffen, worauf sie zusammen nach Vieux-Bourg gerannt sein mochten, von wo der letzte Zug nach Paris fünfundzwanzig Minuten nach Mitternacht abging. Und so war es auch; sie erfuhren gegen Mittag, daß Lepailleur über die Flucht Thérèsens einen furchtbaren Lärm schlage, die Sache sofort der Gendarmerie angezeigt habe und verlange, daß man die Schuldige samt ihrem Verführer gefesselt zurückbringe. Auch er hatte einen Brief im Zimmer seiner Tochter gefunden, einen tapferen Brief, worin sie klar und bündig erklärte, daß sie, da sie gestern wieder geschlagen worden sei, nun genug davon habe, daß sie aus eignem freien Willen davongehe, und daß sie es sei, die Grégoire mitnehme, da sie mit zweiundzwanzig Jahren erwachsen genug sei, um zu wissen, was sie tue. Die rasende Wut Lepailleurs war durch diesen Brief hervorgerufen, den er nicht zu zeigen wagte, abgesehen davon, daß seine Frau, die wegen ihres Antonin in fortwährendem Hader mit ihm lag, wütend über Thérèse loszog, und höhnisch sagte, daß es so kommen mußte, daß er schuld an der Liederlichkeit dieses Gassenmädchens sei. Sie schlugen sich, und die ganze Gegend sprach acht Tage lang davon, daß einer der Söhne von Chantebled mit der Tochter des Müllers durchgegangen sei – zum großen Kummer Mathieus und besonders Mariannens, deren armes, gefoltertes Herz am schmerzlichsten unter einer so häßlichen Geschichte litt.

Fünf Tage später, an einem Sonntag, verschlimmerten sich die Dinge noch. Da die Nachforschungen vergeblich blieben, kam Lepailleur, besinnungslos vor Wut, bis zum Hof herauf und sprudelte von der Mitte der Straße aus eine Flut niedriger Beschimpfungen hervor. Mathieu war abwesend, und Marianne hatte große Mühe, Gervais und Frédéric zurückzuhalten, die hinaus wollten, um ihm seine Grobheiten in die Gurgel zurückzustoßen. Als Mathieu abends heimkehrte, war er sehr betrübt.

»Diese Sachlage kann unmöglich so bestehen bleiben,« sagte er zu seiner Frau beim Schlafengehen. »Wir erwecken den Anschein, als ob wir uns versteckten, als ob wir ein schlechtes Gewissen hätten. Morgen werde ich zu dem Manne gehen. Es gibt nur einen, sehr einfachen Ausweg, nämlich die unseligen Kinder miteinander zu verheiraten. Wir unsrerseits willigen ein, nicht wahr? Und dieser Mann hat alle Vorteile auf seiner Seite, wenn er auch einwilligt. Morgen muß der Sache ein Ende gemacht werden.«

Am Montag gegen zwei Uhr schritt also Mathieu auf die Mühle zu. Aber dort erwartete ihn eine unvorhergesehene Verwicklung, ein ganzes Drama. Seit Jahren bestand und wuchs ein verbissener Kampf zwischen Lepailleur und seiner Frau wegen ihres Sohnes Antonin. Während der Vater immer erbitterter wurde über sein faules und liederliches Leben auf dem Pariser Pflaster, unterstützte ihn die Mutter mit der ganzen Starrköpfigkeit einer ungebildeten Frau, setzte blindes Vertrauen in die schöne Schrift ihres Sohnes und war überzeugt, daß er nur deshalb nicht zum Erfolge gelangen könne, weil man ihm das dazu nötige Geld verweigere. Trotz ihres filzigen Geizes fuhr sie fort, ihm ihr Letztes zu geben, sogar ihren Mann zu bestehlen, und stellte sich mit Zähnen und Klauen zur Wehr, wenn sie dabei ertappt wurde, wie sie dem Sohne wieder einmal zwanzig Franken sandte. Jedesmal brach der Streit mit einer Heftigkeit los, daß man hätte meinen sollen, die alte Mühle müsse einstürzen. Dann wurde Antonin, erschöpft, durch und durch vergiftet mit sechsunddreißig Jahren, wieder krank. Sofort erklärte Lepailleur, daß, wenn er ihm mit seiner Krankheit noch einmal daher komme, er ihn übers Rad hinweg in den Fluß werfen werde. Antonin hatte übrigens gar kein Verlangen, nach Hause zu kommen, denn er empfand einen Widerwillen gegen das Land und fürchtete, daß sein Vater ihn gleich einem Hunde an der Leine führen werde. Die Mutter hatte ihn daher bei Batignolles in Verpflegung gegeben, wo der Arzt des Viertels ihn behandelte. Das war nun drei Monate her, und sie besuchte ihn alle vierzehn Tage. Am Donnerstag war sie dort gewesen, als sie am darauffolgenden Sonntag eine Depesche erhielt, die sie dahin berief. Und am Montag, am Morgen des Tages, an welchem Mathieu zur Mühle kam, war sie abgereist, nach einem schrecklichen Streite mit dem Vater, der geschrien hatte, wann dieser Taugenichts von einem Sohn aufhören werde, sie an der Nase herumzuführen und ihre paar Groschen aufzuessen, ohne auch nur den Willen zu haben, eine Schaufel Erde umzudrehen.

Allein in der Mühle zurückgeblieben, kam Lepailleur diesen Tag aus dem Zorn nicht heraus. Er hätte den Pflug zerschlagen mögen, er hätte sich mit der Hacke auf das alte Rad stürzen mögen, um sich für sein Unglück zu rächen. Als er Mathieu hereinkommen sah, glaubte er an eine Herausforderung, und brachte vor Wut kein Wort hervor.

»Hören Sie einmal, Nachbar,« sagte der Herr von Chantebled in gemütlichem Tone, »wir wollen beide versuchen, vernünftig zu sein. Ich erwidere Ihren Besuch, da Sie gestern bei mir waren. Aber böse Worte haben noch nie Gutes gestiftet, und da das Unglück einmal geschehen ist, so wird es am besten sein, es so rasch als möglich wieder gut zu machen. Wann wollen Sie, daß wir die ungeratenen Kinder miteinander verheiraten?«

Ueberrascht von der ruhigen Gutmütigkeit dieses direkten Angriffes, antwortete Lepailleur nicht gleich. Er hatte über alle Dächer geschrien, daß er keine Heirat wolle, sondern einen Prozeß, um alle Froment ins Gefängnis zu bringen. Bei näherer Ueberlegung war jedoch der Sohn des Großgrundbesitzers kein ganz zu verachtender Schwiegersohn.

»Sie verheiraten, sie verheiraten,« knurrte er, »ja, ihnen beiden einen Stein um den Hals hängen und sie ins Wasser werfen. Ah, die Halunken, ich bring' sie beide um, ihn und sie!«

Er beruhigte sich jedoch allmählich und ließ sich selbst in ein Gespräch ein, als ein Dorfjunge laufend über den Hof kam.

»Was willst du, he?«

»Eine Depesche, Monsieur Lepailleur.« »Gut, gib her.«

Der Junge, glücklich über seinen Sou Trinkgeld, war bereits wieder davongelaufen, als der Müller noch immer die Depesche betrachtete, ohne sie zu öffnen, in der mißtrauischen Art der Leute, die nicht gewohnt sind, deren zu erhalten. Endlich mußte er sich doch entschließen. Die Depesche enthielt nur die drei Worte: »Dein Sohn tot.« In dieser rücksichtslosen Kürze, diesem direkt niedersausenden Keulenschlage, fühlte man die kalte Wut der Mutter, das Verlangen, diesen Mann unverzüglich niederzuschmettern, dem sie die Schuld an dem Tode ihres Sohnes gab, so wie sie ihm die Schuld an der Flucht der Tochter gegeben hatte. Er fühlte das, er taumelte unter dem Stoße, las betäubt immer wieder das kleine blaue Papier, bis er endlich ganz verstand. Seine Hände zitterten, und er fing entsetzlich zu fluchen an.

»Himmeldonnerwetter, was ist nun das wieder! Nun ist der Junge tot, alles geht mir davon!«

Dann schwoll ihm das Herz, Tränen kamen in seine Augen. Er war mit wankenden Knien auf einen Sessel gesunken und las unaufhörlich die Depesche: »Dein Sohn tot... dein Sohn tot...« suchte nach dem übrigen, nach allem, was nicht darin stand. Vielleicht war er vor der Ankunft der Mutter gestorben. Oder vielleicht war er gestorben sogleich nachdem sie gekommen war. Er grübelte darüber mit stammelnden Worten, wiederholte zwanzigmal, daß sie mit dem Zuge zehn Minuten nach elf gefahren sei, daß sie also gegen halb eins in Batignolles gewesen sein müsse; und da sie die Depesche um ein Uhr zwanzig aufgegeben hatte, so war es wahrscheinlicher, daß sie ihn tot getroffen habe.

»Himmelherrgott, eine Depesche, die sagt einem gar nichts, die schlägt einen auf den Kopf! Sie hätte jemand herschicken können... Ich muß hin. Das hat noch gefehlt, das ist zuviel Unglück für einen Menschen!«

Lepailleur hatte das in solcher Wut und Verzweiflung hinausgeschrien, daß Mathieu, von Mitleid erfaßt, sich einzumengen wagte. Von dem plötzlichen Hereinbrechen des Unglücks betroffen, war er bis jetzt stumm geblieben; nun bot er seine Dienste an, wollte ihn nach Paris begleiten. Aber er wich zurück, als der Müller aufsprang, von Raserei ergriffen, seinen Feind hier in seinem Hause zu sehen. »Ah, Sie sind da?... Was sagten Sie? Daß wir sie verheiraten sollen, diese Halunken? Jawohl, Sie sehen ja, daß ich im Begriffe bin, auf die Hochzeit zu gehen! Mein Sohn ist tot. Sie haben ihre Zeit gut gewählt! Gehen Sie, gehen Sie, wenn Sie nicht wollen, daß ein Unglück geschieht!«

Er hob die Fäuste, die Gegenwart Mathieus brachte ihn außer sich, nun da sein ganzes Leben in Trümmer ging. Es war ihm unerträglich, daß dieser Städter, der sich reich gemacht hatte, indem er Bauer wurde, gerade in dem Augenblicke bei ihm war, als ihn die Nachricht vom Tode seines Sohnes wie ein Donnerschlag traf, dieses Antonin, aus dem er einen Herrn hatte machen wollen, indem er ihm den Widerwillen gegen die Erde einflößte, ihn nach Paris sandte, damit er dort in Faulheit und Laster verkomme. Es versetzte ihn in Wut, daß er unrecht gehabt hatte, daß er sehen mußte, wie diese von ihm gelästerte Erde, die er als altes, unfruchtbares Weib bezeichnet hatte, so jung, so liebevoll und so fruchtbar für den Mann war, der sie zu lieben verstand. Und nun sah er, der aus dummer Berechnung die Familie beschränkt hatte, seinen Sohn eines unwürdigen Todes gestorben, seine Tochter mit einem Sohne des triumphierenden Hofes davongegangen, sich selbst ganz allein, ganz verlassen, weinend, heulend in seiner verödeten Mühle, die er ebenfalls verachtet hatte und die vor Alter verfiel.

»Verstehen Sie mich, Thérèse kann vor mir aus den Knien herumrutschen, nie werde ich sie Ihrem Räuber von einem Sohne geben! Ich soll mich wohl von der ganzen Gegend auslachen lassen und mich aufessen lassen, so wie Sie alle andern aufgegessen haben!«

Offenbar war in seiner Geistesverwirrung diese Gefahr drohend vor ihm aufgetaucht. Da Antonin tot war, so würde also Grégoire die Mühle bekommen, wenn er Thérèse heiratete? Und das Stück Heide auch, die Enklave, die er mit so verbissener Schadenfreude festhielt, die der Hof so gerne gehabt hätte, und die er ohne Zweifel bekommen würde, sobald Grégoire der Herr wäre. Dieser Gedanke, daß Chantebled einen neuen Zuwachs an Grund auf seine Kosten bekommen könne, trieb den Müller vollends zur Raserei.

»Ihren Sohn schicke ich ins Zuchthaus, und Sie, wenn Sie nicht gleich gehen, so werfe ich Sie hinaus. Gehen Sie, gehen Sie!« Mathieu wich, sehr bleich, langsam vor diesem Tobsüchtigen zurück und ging, nachdem er ihm noch gesagt hatte: »Sie sind ein unglücklicher Mensch. Ich verzeihe Ihnen, weil Sie einen schweren Kummer erlitten haben. Im übrigen bin ich sehr ruhig, das Vernünftige muß schließlich doch geschehen.«

Wieder verging ein Monat. Dann fand man eines regnerischen Oktobermorgens die Frau Lepailleurs im Stalle der Mühle aufgehängt. Es gab Leute, die sagten, Lepailleur habe sie aufgehängt. In Wirklichkeit war sie seit dem Tode Antonins in Melancholie verfallen. Anderseits waren die Zustände im Hause unhaltbar geworden, Mann und Frau warfen sich täglich den Tod des Sohnes, die Flucht der Tochter an den Kopf, wüteten gegeneinander wie zwei verlassene, in denselben Käfig eingeschlossene wilde Tiere. Man verwunderte sich nur, daß eine so zähe, so geizige Frau das Leben verlassen habe, ohne ihr Hab und Gut mit sich zu nehmen. Sobald sie den Tod ihrer Mutter erfahren hatte, eilte Thérèse herbei, nahm reuevoll wieder ihren Platz neben ihrem Vater ein, um ihn in seiner zweifachen Trauer nicht allein zu lassen. Die erste Zeit war furchtbar für sie in Gesellschaft dieses rohen Menschen, der gegen das, was er die Bosheit des Schicksals nannte, wütete. Aber sie war ein Mädchen voll ausdauernden Mutes und fester Entschlossenheit. Und einige Wochen später hatte sie ihn dazu gebracht, seine Einwilligung zu ihrer Heirat mit Grégoire zu geben, der einzigen, vernünftigen Lösung, wie Mathieu es gesagt hatte. Es war eine große Erleichterung für den Hof, wo der verlorene Sohn nicht mehr zu erscheinen wagte. Man glaubte zu wissen, daß die jungen Leute irgendwo in einem verborgenen Winkel von Paris gelebt hatten, man vermutete sogar, daß der freigebige Ambroise ihnen brüderlich mit seiner Börse zu Hilfe gekommen sei. Und während Lepailleur die Heirat in der knurrenden und widerwilligen Art eines betrogenen Menschen geschehen ließ, von der Furcht beherrscht, sich in dem traurig gewordenen Hause eines Tages allein zu finden, waren Mathieu und Marianne glücklich über eine Lösung, die einer zweideutigen Sachlage ein Ende machte, unter der sie ebenso gelitten hatten wie unter der Auflehnung eines ihrer Kinder gegen ihren Willen.

Dann geschah es aber, daß Grégoire, der nach dem Wunsche Thérèses seinen Wohnsitz in der Mühle aufschlug, sich mit seinem Schwiegervater viel besser vertrug, als man hätte erwarten sollen. Dies ergab sich besonders infolge einer Szene, in welcher Lepailleur ihn schwören lassen wollte, daß er nach seinem Tode niemals an die Leute vom Hofe, seine Brüder und Schwestern, das Stück Heide abtreten werde, das er, Lepailleur, mit dem Starrsinn eines besiegten Bauern bisher unbebaut gelassen hatte. Grégoire schwor nicht, aber er erklärte in heiterem Tone, daß er nicht so dumm sein werde, seine Frau des besten Teiles ihres Erbes zu berauben, denn er gedenke aus diesem Stück Heide in zwei oder drei Jahren den fruchtbarsten Boden der Gegend zu machen. Was ihm gehöre, das gehöre nicht den andern, er werde schon zeigen, daß er sein Stückchen Reich zu verteidigen wissen werde. Und ebenso erging es mit der Mühle, deren altes Werk instand zu setzen er sich vorerst begnügte, um die alten Gewohnheiten des Müllers nicht zu unvermittelt zu ändern, indem er die Dampfmaschine und die Schienenverbindung mit Janville auf später verschob: alle diese Gedanken Mathieus, die nun in seinem jungen, unternehmenden Kopfe zu gären begannen. Ein neuer Grégoire war somit entstanden, ein klug gewordener Brausekopf, der von seiner tollen Jugend nur die Waghalsigkeit in seinen glücklichen Unternehmungen behielt, worin ihm übrigens die entschlossene blonde Thérèse kräftig zur Seite stand. Sie wären beide überglücklich, sich in dieser von Efeu überrankten, romantischen alten Mühle lieben zu können, bis die Zeit gekommen sein würde, sie unbedenklich niederzureißen und die große weiße Dampfmühle mit dem mächtigen neuen Werk an ihre Stelle zu setzen, von der ihr erobernder Ehrgeiz träumte.

Während der Jahre, die folgten, erlebten Mathieu und Marianne noch weitere Trennungen. Es kam nun an die drei Mädchen, Louise, Marguerite und Madeleine, die Reihe, eine nach der andern aus dem elterlichen Neste auszufliegen. Alle drei verheirateten sich in der Gegend. Louise, ein Mädchen voll Gesundheit und Fröhlichkeit, eine rundliche Brünette mit schwerem Haar und großen, lachenden Augen, heiratete den Notar Mazaud aus Janville, einen kleinen, gelassenen, überlegten Mann, der nur mit seinem sparsamen, stillen Lächeln die vollkommene Befriedigung verriet, ein so heiteres Geschöpf zur Frau zu bekommen. Die zartere Madeleine, eine träumerische Schönheit mit goldbraunem Haar, mit dem verfeinerten Geschmack der Musikerin, hatte sodann eine Liebesheirat gemacht, sich nach einem förmlichen Roman mit dem Architekten Herbette vermählt, einem schon berühmten, eleganten, schönen Manne, der bei Monval ein Stückchen Park besaß, wohin er kam, um sich von seinen großen Pariser Arbeiten zu erholen. Und Marguerite, die wenigst Hübsche der drei, die selbst häßlich genannt werden konnte, aber den Reiz unendlicher Herzensgüte besaß, wurde von dem Doktor Chambouvet in Vieux-Bourg gewählt, einem kräftigen, gemüts- und liebevollen Manne, der von seinem Vater die Praxis und ein schönes, großes weißes Haus geerbt hatte, das zu einem Hause der Armen geworden war. Nach der Verheiratung der drei Mädchen blieben nunmehr neben Mathieu und Marianne in dem allmählich leer werdenden Neste nur die zwei Jüngsten, Nicolas und Benjamin.

In dem Maße jedoch, als die lieben Kleinen ausgeflogen waren, wuchsen andre Kleine aus ihnen hervor, die zahlreichen Heiraten vermehrten ihre Nachkommenschaft in immer reicherem Maße. In der Fabrik, wo er herrschte, hatte Denis, in nahezu acht Jahren, drei Kinder bekommen, zwei Knaben, Lucien und Paul, und ein Mädchen, Hortense. Während er siegreich seinen Platz in der großen Handelswelt eroberte, hatte Ambroise Zeit gefunden, seinem Léonce einen kleinen Bruder zu geben, Charles, und zwei kleine Schwestern, Pauline und Sophie. Auf dem Hofe hatte Gervais bereits zwei Knaben, Léon und Henri, während Claire, eifriger am Werke, obgleich die Jüngere, drei Kinder zählte, einen Knaben, Joseph, und zwei Mädchen, Lucie und Angèle. Dann war Grégoire, in der Mühle, der einen kräftigen Jungen hatte, Robert. Dann die Jüngstverheirateten, Louise, mit einem Mädchen von zwei Jahren, Colette, Madeleine mit einem Sohne von sechs Monaten, Hilaire, endlich Marguerite, die nahe vor der Entbindung stand, und deren Kind Sebastien heißen sollte, wenn es ein Knabe, Christine, wenn es ein Mädchen war. Nach allen Seiten sandte die Familieneiche ihre Aeste aus, der Baum verzweigte sich, verdichtete sich, Sprossen folgten auf Sprossen, und noch war Mathieu nicht sechzig Jahre alt und Marianne nicht siebenundfünfzig, beide noch blühend in Gesundheit, Kraft und Fröhlichkeit, frisch erhalten durch die Freude, dieses Stück Menschheit, das aus ihnen entsprossen war, immerfort wachsen, den ganzen Boden rings um sie bedecken zu sehen, wie ein Wald, der aus einem einzigen Baume entstanden ist.

Aber das große Fest, das in diesem Zeitabschnitte die Glorie Chantebleds bildete, war, neun Monate nach der Heirat ihrer Enkelin Berthe, die Geburt eines Kindes dieser letzteren, eines Töchterchens, Angeline, der ersten Urenkelin Mathieus und Mariannes. In diesem rosigen Kindchen lebte Blaise, der noch immer Betrauerte, wieder auf, sie ähnelte ihm von ihrer Geburt ab so sehr, daß Charlotte, schon Großmutter mit zweiundvierzig Jahren, darüber weinte. Madame Desvignes war sechs Monate vorher gestorben, war sanft und still dahingegangen, so wie sie gelebt, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, die nur darin bestanden zu haben schien, nach dem Zusammenbruch ihres Vermögens ihre Töchter zu verheiraten. Gleichwohl war sie es gewesen, die, ehe sie aus der Welt ging, für ihre Enkelin Berthe den Mann gewählt hatte, Philippe Havard, einen jungen Ingenieur, der vor kurzem zum zweiten Direktor einer im Staatsbesitze befindlichen Fabrik bei Mareuil ernannt worden war. Die junge Frau kam in Chantebled nieder, und am Tage des ersten Ausganges der Wöchnerin vereinigte sich wieder einmal die ganze Familie, um Urgroßvater und Urgroßmutter jubelnd zu feiern.

»Nun wohl,« sagte Marianne fröhlich an der Wiege, »wenn die Jungen ausfliegen, so kommen wieder neue nach, und das Nest wird also nie leer werden!«

»Nie, nie!« sagte Mathieu zärtlich, stolz auf diesen fortgesetzten Sieg über die Einsamkeit und den Tod. »Wir werden nie allein bleiben!«

Allein es folgte wieder eine Trennung, die sie viel Tränen kostete. Nicolas, der Vorjüngste, näherte sich dem zwanzigsten Jahre, ohne sich noch entschieden zu haben, welche Richtung er an diesem Kreuzweg des Lebens einschlagen sollte. Er war ein kräftiger, braunhaariger junger Mann mit einem heiteren, offenen Gesichte. Als Knabe hatte er alle Reisebeschreibungen begierig gelesen, von Abenteuern in fernen Ländern geträumt, dabei war er ein ausdauernder, abgehärteter Junge, der von weiten Streifzügen mit Blasen an den Füßen heimkehrte, ohne eine Klage laut werden zu lassen. Außerdem besaß er einen außerordentlichen Spar- und Ordnungssinn, hielt seine kleinen Besitztümer stets sauber eingereiht in seiner Lade und sah geringschätzig auf die Nachlässigkeit seiner Schwestern herab. Als er heranwuchs, war er nachdenklich geworden, als suche er rings um sich vergeblich Verwendung für seinen zweifachen Drang, neue Länder zu entdecken und dort sein Leben in kräftiger Ordnung aufzubauen. Einer der Jüngstgcborenen einer zahlreichen Familie, fand er nicht genug freien Spielraum für die Betätigung seiner Kraft und seines Willens. Seine Brüder und Schwestern hatten, ehe noch an ihn die Reihe gekommen, alle umliegenden Gebiete besetzt, so daß er zu ersticken, von Hunger bedroht zu sein glaubte, nach dem weiten Feld suchte, das er bebauen und dem er sein Brot abgewinnen konnte. Wo kein Raum mehr war, da waren auch keine Lebensmittel mehr, und er wußte zuerst nicht, wohin er gehen sollte, er zögerte und tastete monatelang. Sein frühes Lachen klang nach wie vor durchs Haus, er belästigte weder Vater noch Mutter mit der Sorge um seine Zukunft, denn er fühlte bereits die Kraft in sich, sie sich selber zu schaffen.

Auf dem Hofe gab es keinen Raum für Nicolas, da Gervais und Claire den Platz ganz ausfüllten. In der Fabrik genügte Denis, herrschte als tüchtiger, arbeitsamer Chef, ohne daß irgend etwas einen Jüngeren berechtigte, eine Teilung zu begehren. In der Mühle hatte Grégoire eben erst festen Fuß gefaßt, und sein Reich war noch so klein, daß er nichts davon abtreten konnte. Es blieb nur noch Ambroise, dessen Angebot, ihn zu sich zu nehmen, er für einige Monate annahm, bloß zum Versuche, um sich mit dem Getriebe des Großhandels vertraut zu machen. Das Vermögen Ambroises wuchs ins Große, seitdem der alte Onkel du Hordel gestorben war und ihm sein Kommissionshaus vermacht hatte, dessen neuer Herr seine Geschäfte von Jahr zu Jahr mehr über alle Gebiete der Erde ausbreitete. Durch seinen glücklichen Unternehmungsgeist, durch seinen weiten Blick, der alle Ländergrenzen überflog, bereicherte er sich immer mehr an den Erträgnissen der ganzen Welt. Und Nicolas, der sich in den weiten Magazinen Ambroises wieder beengt fühlte, wo die Reichtümer ferner Länder, den verschiedensten Himmelsstrichen entstammt, aufgestapelt waren, entdeckte endlich seinen Beruf. Eine ferne Stimme rief ihn dahin, in jene gewaltigen, unbekannten, unbebauten Gebiete, die noch zu bevölkern, urbar zu machen, mit dem Samen künftiger Ernten zu besäen waren.

Zwei Monate lang sagte Nicolas nichts von dem Entschlüsse, den er nun in sich reifen ließ. Er war eine verschlossene Natur, wie alle tatkräftigen Menschen, die überlegen, ehe sie handeln. Fortgehen mußte er, da es am heimatlichen Herde für ihn weder Raum noch Sonne gab; aber allein fortgehen, hieß dies nicht unvollständig, unfruchtbar fortgehen, für die große Aufgabe, eine neue Erde zu bebauen und zu bevölkern? Er kannte in Janville ein junges Mädchen von neunzehn Jahren, Lisbeth Moreau, groß, kräftig, deren blühende Gesundheit und ernster Arbeitsfleiß sein Herz gewonnen hatten. Gleich ihm fühlte sie sich beengt in dem Winkel, in den das Schicksal sie einschloß, lechzte sie nach der freien Luft der Ferne. Als Waise der Fürsorge einer Tante anheimgefallen, die im Orte einen Kramladen hielt, hatte sie sich bis nun aus Liebe zu dieser in den kleinen, finsteren Laden eingeschlossen. Aber die Tante war vor kurzem gestorben und hatte ihr etwa zehntausend Franken hinterlassen. Und es war ihre Sehnsucht, alles zu verkaufen, fortzugehen, endlich zu leben. Eines Abends im Oktober wurden Nicolas und Lisbeth einig, nachdem sie einander gesagt hatten, was sie noch zu niemand gesagt hatten. Sie legten entschlossen ihre Hände ineinander, sie vereinigten sich fürs Leben, für die schwere Aufgabe, eine neue Welt und eine neue Familie zu schaffen, auf irgendeinem Teil der Erde, in der unbekannten Ferne, von der sie noch nichts wußten. Es war eine prächtige Verlobung zweier Herzen voll Tapferkeit und Zuversicht.

Dann erst, als alles vorbereitet war, sprach Nicolas, kündigte seinem Vater und seiner Mutter seinen Entschluß an, fortzugehen. Der Abend nahte, ein noch milder Herbstabend, den die ersten Winterschauer durchwehten. Ein großer Schmerz erfaßte Mathieu und Marianne, als sie begriffen hatten. Dieses Mal flog das Junge nicht bloß aus dem Neste aus, um sein eignes Nest auf einem benachbarten Baume desselben Waldes zu bauen; es galt ein Davonfliegen übers Meer, eine Trennung für immer, ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Die andern Kinder sahen sie wieder, aber dieses sagte ihnen für ewig Lebewohl. Ihre Zustimmung sollte ihr Teil des grausamen Opfers sein, ihre schwere Gabe an das Schicksal, der Zehent, den das Leben von ihrer Liebe, ihrem Blute erhob. Der Sieg des unaufhörlich erobernden Lebens forderte von ihnen dieses Stück ihres Fleisches, diesen Überschuß der zahlreichen Familie, die überquoll, sich ausbreitete, die Welt besiedelte. Und was sollten sie antworten, wie es ihm verweigern? Der Sohn, für den nicht vorgesorgt war, ging von dannen, nichts war natürlicher, nichts vernunftgemäßer. Weit weg vom Vaterlande lagen noch unbewohnte große Kontinente, und der Same, den die Winde des Himmels forttragen, kennt keine Ländergrenzen. Auf die Rassen folgt die Menschheit, die unendliche Ausbreitung, das einzige und brüderliche Volk der vollendeten Zeit, da die ganze Erde nur ein Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit sein wird. Aber neben diesem großen Traume der Dichter, der Propheten, hatte Nicolas auch seine praktischen Gründe, die er, klug in seinem Enthusiasmus, entwickelte. Er wollte kein Schmarotzer sein, er wollte fortgehen, um sich eine neue Erde zu erobern und dort sein Brot zu bauen, da das zu eng gewordene Vaterland ihm keinen Platz mehr bot. Aber zugleich trug er dieses Vaterland lebend mit sich, und sein Ziel war, es in der Ferne durch unbegrenzten Zuwachs an Kraft und Reichtum zu vergrößern. Das alte, geheimnisvolle, heute schon aufgedeckte und durchquerte Afrika zog ihn an. Er wollte zuerst nach Senegal gehen und dann wahrscheinlich bis in den Sudan vordringen, in das Herz jungfräulicher Erde, wo er sich ein neues Frankreich erträumte, das mächtige Kolonialreich, das die gealterte Rasse verjüngen sollte, indem es ihr einen neuen Teil der Erde schenkte. Dort wollte er sich durch ausgedehnte Kulturarbeit sein Reich errichten, mit Lisbeth eine neue Dynastie der Froment gründen, ein unter der heißen Sonne mächtig wachsendes Chantebled, bevölkert mit dem Volke seiner Kinder. Und er sprach davon mit so begeistertem Mute, daß Mathieu und Marianne trotz ihres zerrissenen Herzens unter Tränen lächeln mußten.

»Geh, mein Kind, wir können dich nicht zurückhalten. Geh, wohin dich das Leben ruft, wo du es in Gesundheit, Kraft und Freude leben kannst. Alles, was dort drüben aus dir hervorgeht, wird wieder Gesundheit, Kraft und Freude sein, die uns entsprossen sind und worauf wir stolz sein werden. Du hast recht, wir dürfen nicht weinen, dein Abschied muß ein Fest sein, denn die Familie trennt sich nicht, sie breitet sich aus, sie überzieht und besiegt die Welt.« Als jedoch, nachdem Nicolas und Lisbeth geheiratet hatten, der Tag des Abschieds herankam, war er für alle ein Tag schmerzlicher Bewegung. Die Familie hatte sich zu einem letzten Mahle vereinigt, und als das unternehmungskühne junge Paar sich von der mütterlichen Erde losriß, schluchzten alle, obgleich sie sich vorgenommen hatten, tapfer zu sein. Sie zogen leicht an Gepäck und reich an Hoffnung aus, und nahmen außer den zehntausend Franken der Mitgift nur noch weitere zehntausend Franken mit, um die erste Zeit überdauern zu können. Mochten denn Mut und Arbeit ihnen den Erfolg erobern helfen!

Aber besonders Benjamin, der Jüngste, war tief betroffen von dieser Trennung. Er war noch nicht zwölf Jahre alt, ein hübscher, zarter Knabe, den die Eltern sehr verhätschelten, da sie glaubten, er sei von schwacher Gesundheit. Diesen wollten sie ganz für sich behalten, so süß und lieb fanden sie ihn mit seinen weichen, zärtlichen Augen, seinen schönen lockigen Haaren. So war er zu einem sanften und träumerischen Knaben herangewachsen, zärtlich geliebt und von der Mutter verwöhnt, gleichsam dieser starken und arbeitsamen Familie liebenswürdiger Tribut an das Nichtstun.

»Gib mir noch einen Kuß, lieber Nicolas. Wann kommst du wieder?«

»Niemals, mein kleiner Benjamin.«

Das Kind erschauerte. »Niemals, niemals, oh, das ist zu lang! Komm zurück, komm doch zurück, damit ich dich wieder küssen kann.«

»Niemals,« wiederholte Nicolas, selbst ganz bleich. »Niemals, niemals!«

Er hatte den Knaben zu sich heraufgehoben, der nun heftig weinte. Es war für alle eine Minute schneidenden Schmerzes, die Minute des Losreißens, der ewigen Trennung.

»Lebewohl, Benjamin! Lebt wohl, lebt wohl, ihr alle!«

Während Mathieu dem ausziehenden Eroberer einen letzten Segenswunsch mitgab, flüchtete Benjamin trostlos, von Tränen geblendet, zu Marianne. Sie schloß ihn leidenschaftlich in ihre Arme, wie von der Furcht ergriffen, daß auch er sie verlassen könnte. Nur er war ihnen noch im Elternhause zurückgeblieben.


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