Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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3

Einige Tage später hatte Mathieu eines Morgens zu lange bei seiner Frau verweilt und schritt, es war nahe an neun Uhr, eilig durch den kleinen Garten, der sein Wohnhäuschen von dem Fabrikhof trennte, als er mit Constance und Maurice zusammentraf, die, in Pelze gekleidet, im Begriffe waren, in der kalten Morgenluft des schönen Wintertages einen Spaziergang zu unternehmen.

Beauchêne, der sie, kraftbewußt und siegesgewiß wie immer, barhaupt bis zum Gitter begleitete, rief mit lauter Stimme: »Und laß mir ihn ordentlich marschieren, den Kerl! Er soll frische Luft schöpfen! Es geht nichts über Luft und gutes Essen, um einem Kraft zu geben.«

Mathieu war stehen geblieben. »Ist er wieder krank?«

»O nein!« beeilte sich die Mutter zu antworten, die ebenfalls eine frohe Miene zeigte, vielleicht weil sie unbewußt das Bedürfnis empfand, gewisse Befürchtungen vor sich selbst zu verbergen. »Aber der Doktor will, daß er sich Bewegung macht, und es ist heute morgen so schön, daß wir uns nun auf den Weg machen. Die scharfe Kälte ist sehr unangenehm.«

»Geht nicht über die Kais,« rief ihnen Beauchêne noch nach, geht über die Esplanade. – Ah, er wird schon marschieren lernen, wenn er einmal Soldat ist!«

Und als er mit Mathieu in die Fabrik zurückkehrte, fügte er mit seiner triumphierenden Sicherheit hinzu: »Er ist ja stark wie ein Baum, der Bursche. Aber was wollen Sie? Die Frauen sind immer ängstlich. Ich für meinen Teil bin ganz ruhig, wie Sie sehen.«

Dann mit lautem Lachen: »Wenn man nur einen hat, so behält man ihn.«

Diesen Vormittag versetzte ein wütender Zank, der in der Frauenwerkstätte zwischen den beiden Schwestern Norine und Euphrasie ausbrach, die ganze Fabrik in Aufruhr. Norine, die sich im sechsten Monat der Schwangerschaft befand, hatte bis jetzt ihren Zustand zu verbergen vermocht, indem sie sich bis zum Ersticken schnürte, denn sie fürchtete, von ihrem Vater geschlagen und aus der Fabrik gejagt zu werden. Aber ihre Schwester, die mit ihr schlief, wußte notwendigerweise von ihrem Geheimnis, und in ihrer Bosheit und Niedrigkeit, in der haßerfüllten Eifersucht, mit der sie sie stets verfolgte, scheute sie nicht davor zurück, bissige Anspielungen laut werden zu lassen, die Norine mit der zitternden Angst erfüllten, daß sie eines Tages alles verraten könnte. Morgens und abends weinte das schöne Mädchen bittere Tränen, daß sie so töricht gewesen war, sich von einem Manne verführen zu lassen, der sie wegwarf, und gegen den sie sich nicht einmal zu rühren wagte, und daß sie nun der Gnade ihrer Schwester, dieses häßlichen, neidischen, boshaften und herzlosen Mädchens, ausgeliefert war. Und der Skandal, den sie so sehr fürchtete, den sie hatte kommen fühlen, unabwendbar, brach diesen Morgen über sie herein, um eine Dummheit, um ein Nichts.

In dem weiten Arbeitsraum knirschten die Schleifmaschinen, die fünfzig und etliche Poliererinnen beugten sich über ihre Arbeitstische, als laute Stimmen sie den Kopf erheben ließen. Euphrasie hatte, zuerst mit halber Stimme, Norine beschuldigt, ihr ein Stück Glaspapier genommen zu haben.

»Ich sage dir, es lag da, und ich habe dich die Hand ausstrecken gesehen. Da ich es jetzt nicht mehr finde, mußt du es genommen haben.«

Norine zuckte die Achseln und schwieg. Sie hatte nichts genommen. Die andre wurde wütend, erhob die Stimme. »Gestern hast du mir mein Oel genommen. Du bist eine Diebin, ja, eine Diebin, verstehst du?«

Die Nachbarinnen hatten zu kichern angefangen; sie waren an die fortwährenden Zänkereien der Schwestern gewöhnt, und diese bildeten eine Quelle der Unterhaltung für sie; die ältere verlor jetzt die Geduld und geriet ebenfalls in Zorn. »Jetzt fängst du aber an, mir zuwider zu werden. Ich kann nichts dafür, wenn deine Magerkeit dich so unausstehlich macht. Was sollte ich denn mit deinem dummen Papier gemacht haben?«

Ins Herz getroffen, erbleichte Euphrasie. Ihre Magerkeit und Häßlichkeit, im Gegensatz zu der blühenden Fülle ihrer Schwester, war die brennende Wunde, die ihr fortwährende Qualen bereitete. Außer sich vor Wut, schrie sie alles hinaus: »Was du damit gemacht hast? Dir den Bauch gerieben, um ihn womöglich zu verhindern, alle Tage dicker zu werden.«

Ein schallendes Gelächter erhob sich von allen Seiten. Norine war nun ebenfalls bleich geworden. Es war also heraus, alle Welt würde von ihrem Zustand wissen! Und ihrer niederträchtigen Schwester dankte sie dieses nicht wieder gutzumachende Unglück, vor welchem sie seit Wochen zitterte! Sie verlor alle Besinnung und versetzte ihr eine Ohrfeige. Euphrasie sprang augenblicklich auf sie los und zerkratzte ihr das Gesicht mit den Nägeln wie eine wütende Katze. Und es entwickelte sich eine erbitterte Balgerei, die beiden Schwestern fielen miteinander zu Boden, heulend und einander mit den Fäusten bearbeitend, inmitten eines solchen Lärms, daß Beauchêne, Mathieu und Morange, deren Bureaus sich in der Nähe befanden, herbeieilten.

Einige Arbeiterinnen riefen: »Wenn es wirklich wahr ist, so wird sie ihr einen Schaden tun!«

Aber die Mehrzahl unterhielt sich zu gut, um einzugreifen, sie stellten sich feindlich gegen diese Unglückliche, mit jener Schadenfreude von Weibern, die stolz darauf sind, daß sie geschickt genug waren, nicht in dieselbe Lage zu geraten. Sie wollten sich gerne unterhalten, aber Kinder – das fehlte ihnen gerade!

»Sie sollen sich nur schlagen! Freilich ist sie schwanger, man sah es ja schon längst; um so schlimmer für sie!«

Die drei Männer zerteilten die neugierig Herumstehenden, um die Kämpferinnen zu trennen. Aber die allgemeine Erregung war so stark, das Interesse an dem Streit so überwältigend, daß selbst die Anwesenheit des Chefs sie nicht dämpfen konnte. Man sah ihn nicht, das Geschrei verstärkte sich. Er mußte, um sich Gehör zu verschaffen, die ganze Kraft seiner tiefen Stimme entfalten: »Zum Donnerwetter! Was soll das heißen? Wer hat mir denn diese Megären hergebracht? Wollt ihr wohl eurem Hexensabbat ein Ende machen, oder ich werfe euch allesamt hinaus!«

Mathieu und Morange hatten sich auf die Streitenden geworfen und sie zu trennen versucht; aber erst die donnernde Stimme, die olympische Drohgebärde Beauchênes stellte plötzlich die Ruhe her. Erschrocken und eingeschüchtert wichen die Arbeiterinnen zurück und schlichen sich leise auf ihre Plätze, während Norine und Euphrasie sich keuchend erhoben, die Haare aufgelöst, die Kleider zerrissen, noch so blind vor Raserei, daß sie kaum die Anwesenden erkannten.

»Seid ihr denn verrückt?« fuhr Beauchêne mit seiner ganzen majestätischen Würde fort. »Hat man je zwei Schwestern sich so balgen gesehen wie die Lastträger! Und ihr wählt euch die Werkstätte dazu aus, ihr benutzt die Arbeitsstunden, um euch in den Haaren zu liegen! Was gibt es denn? Was habt ihr denn?«

In diesem Augenblick trat Vater Moineaud, den irgendeine gefällige Seele geholt haben mußte, um ihm zu sagen, daß seine Töchter sich oben zerfleischten, mit seiner gewöhnlichen gelassenen und unbeweglichen Miene ein; fünfundzwanzig Jahre harter Arbeit hatte den alten Arbeiter stumpf gemacht. Aber niemand bemerkte ihn, und Euphrasie, die ihm den Rücken zukehrte, schrie, von einem neuen Anfall sinnloser Wut erfaßt, in der Furcht vor Strafe und bestrebt sich zu entlasten, Norine ins Gesicht: »Ja, ich habe gesagt, daß du mir mein Papier genommen hast, und es ist wahr, daß du es genommen hast, und es ist wahr, daß du dir damit den Bauch reiben mußt, wenn du nicht dicker werden willst!«

Ersticktes Gelächter lief neuerdings durch die Reihen der Arbeiterinnen. Dann entstand ein tiefes Schweigen. Norine schwanger! Diese plötzliche Enthüllung erschütterte Mathieu so sehr, erfüllte ihn mit einem solchen Verdachte, daß er den Blick auf Beauchêne heftete. Aber dieser hatte den Stoß empfangen, ohne zu wanken, war nur ganz leicht erbebt unter der peinlichen Ueberraschung, daß hier unter so unerwarteten Umständen eine Tatsache hinausgeschrien wurde, die früher oder später ohnehin hätte an den Tag kommen müssen. Er bewahrte seine Haltung und nahm eine sehr würdevolle Miene an, während Euphrasie fortfuhr, ihre betäubte Schwester herabzuwürdigen.

»Das ist ein Skandal, ein unerhörter Skandal!« beeilte sich Beauchêne wieder zu sagen, indem er abermals die Stimme erhob. »Mademoiselle Euphrasie, Sie werden jetzt schweigen, ich dulde kein Wort mehr!«

Er sprach ein wenig unsicher, denn ihn mochte wohl die Furcht beschleichen, daß das wütende Mädchen die Geschichte kenne und sie vielleicht, in der Raserei, in der sie war, hier laut erzählen werde. Aber die Aeltere mißtraute ihrer Schwester zu sehr, um ihr ihre Geheimnisse anzuvertrauen. Er erriet dies, als er dem Blick des unglücklichen, weinenden Mädchens begegnete, dem Blick eines armen, hilflosen, demütigen Geschöpfes, das ihm alles versprach, wenn er sie nicht verlassen wolle. Er gewann wieder die imposante Haltung des allmächtigen Herrn, während Euphrasie mit ihrer Stimme sagte:

»Oh, Monsieur Beauchêne, ich habe nichts mehr zu sagen. Ich konnte das nur nicht länger für mich behalten, und wenn es der Vater nun erfährt, so liegt mir nichts daran.«

Der Vater war hinter ihr stehen geblieben und hatte die ganze häßliche Geschichte mitangehört. Es war ihm sehr verdrießlich, daß man ihn geholt hatte. Er war ein Mann, der Zank und Lärm nicht liebte; er war müde der Quälereien dieser armseligen Welt, war zu der Erkenntnis gelangt, daß es ihm, mochte er noch so sehr arbeiten, nie gelingen würde, das Elend dieses Lebens zu besiegen. Er hatte sich daher in das Unvermeidliche gefunden, wußte ganz gut, daß die Söhne und Töchter meist schlecht wurden, trachtete nur, sich einen ruhigen Winkel zu verschaffen, in dem er die Augen zudrückte. Und jetzt zwang man ihn, böse zu werden. Als er jedoch sah, daß es kein Ausweichen mehr gebe, trat er sehr eindrucksvoll auf, empfand wirkliche Empörung bei dem Gedanken, so vor aller Welt entehrt worden zu sein. Er stürzte sich auf Norine mit erhobener Faust, mit bebender Stimme.

»Es ist also wahr, du sagst nicht nein? Ha, die Elende, ich bringe sie um!«

Aufs neue legten sich Mathieu und Morange ins Mittel und hielten den Vater zurück, der dann ausrief: »Sie soll gehen, sie soll sofort gehen, oder es geschieht ein Unglück! Und sie soll nie wieder den Fuß in mein Haus setzen; wenn ich sie heute Abend finde, werfe ich sie zum Fenster hinaus!«

Norine flüchtete vernichtet vor den väterlichen Verwünschungen. Sie steckte hastig ihre schönen Haare auf, faßte die Fetzen ihrer Bluse zusammen und eilte zur Tür, hinaus unter dem eisigen Schweigen der Werkstätte.

Dann sagte Beauchêne großmütig: »Nun, mein lieber Moineaud, beruhigen Sie sich, seien Sie fest. Nach einem solchen Skandal kann ich freilich Norine nicht behalten, die durch ihren Zustand übrigens ohnehin gezwungen gewesen wäre, aus der Arbeit zu treten. Aber Sie wissen, wie sehr wir Sie alle achten. Das, was geschehen ist, hindert nicht, daß Sie trotz alledem ein sehr guter Arbeiter und ein sehr braver Mann sind.«

Moineaud war sehr gerührt. »Gewiß, Monsieur Beauchêne. Aber es ist doch schwer, eine solche schmutzige Geschichte zu ertragen.«

Der Chef wurde immer edelmütiger. »Bah, es ist nicht Ihre Schuld, Sie können nichts dafür. Hier, da haben Sie meine Hand!«

Und Beauchêne drückte Moineaud die Hand, der sehr geschmeichelt, zu Tränen gerührt, die Werkstätte verließ. Euphrasie hatte triumphierend ihren Platz wieder eingenommen. Und alle Arbeiterinnen, denen beim geringsten Lärm mit sofortiger Entlassung gedroht worden war, saßen in tiefem Schweigen über ihre kleinen Schleifmaschinen gebeugt.

Mathieu war ganz betäubt; er behielt natürlich seine Gedanken für sich, aber zahlreiche Fragen stürmten auf ihn ein, die er sich nicht zu beantworten wagte. Er hatte mit wachsendem Erstaunen Beauchêne angesehen, der sich nun majestätisch zurückzog, als strenger Chef, der mit energischer Hand die Ordnung wiederhergestellt hatte. Und als er, um in sein Bureau zu gelangen, das Zimmer Moranges durchschnitt, wartete seiner eine neue Ueberraschung: der Buchhalter hatte sich mit tief unglücklicher Miene auf seinen Sessel sinken lassen und schien nur mit Mühe die Tränen zurückzuhalten.

»Was haben Sie denn, lieber Freund?«

Während der widerlichen Szene in der Frauenwerkstätte hatte Morange kein Wort gesprochen; aber seine Blässe, seine zitternden Hände verrieten den tiefen Anteil, den er daran nahm.

»Ach, mein Lieber,« sagte er endlich mit schwacher Stimme, »Sie haben keinen Begriff davon, wie diese Geschichten mich aufregen. Mir zittern die Hände und Füße davon.«

Da erinnerte sich Mathieu der vertraulichen Mitteilung, die Valérie in ihrer Verzweiflung seiner Frau gemacht, und welche diese ihm noch desselben Abends wiedererzählt hatte. Der arme Mann, den die Furcht vor einem zweiten Kinde so zu Boden schmetterte, tat ihm herzlich leid; und obgleich er nicht zu begreifen vermochte, wie man unter einer so frohen und lebensverheißenden Hoffnung so leiden konnte, wollte er ihm Trost zusprechen.

»Ja, ich weiß, meine Frau hat mir erzählt, was die Ihrige ihr anvertraut hat. Sie haben also keinen Zweifel mehr, es ist gewiß?«

»Ach, mein Lieber, leider ganz gewiß! Das ist unser Ruin, denn wie kann ich jetzt wagen, den Posten hier aufzugeben, um einen geringer bezahlten in der Nationalkreditbank anzunehmen und dort dem Glück die Hand zu bieten? Wir sind nun für immer ins Elend geworfen, wie meine arme Frau sagt. Sie weint vom Morgen bis zum Abend. Heute früh habe ich sie wieder in Tränen zurückgelassen, und das bricht mir das Herz. Ich hätte mich schließlich dareingefunden, aber sie hat mich ihr zuliebe so ehrgeizig gemacht, und sie hat so großes Vertrauen in mich gesetzt, daß es mir schreckliche Qualen bereitet, ihr nicht all den Luxus und die Freuden bieten zu können, nach denen sie sich sehnt. Und dann unsre kleine Reine. Wie sollen wir ihr nun eine große Mitgift geben und sie gut verheiraten können, dieses liebe, kluge, entzückende Kind, das eines Prinzen würdig wäre? Ich versichere Ihnen, ich verbringe die Nächte schlaflos, und meine Frau wiederholt mir immer Dinge, die mir im Kopf herumgehehen, so daß ich nicht mehr weiß, ob ich lebe.«

Und der arme weichherzige, zärtliche, willensschwache Mann machte eine verzweifelte Gebärde, welche die ganze Seelenvernichtung ausdrückte, in die der verbohrte Ehrgeiz seiner Frau, ihr leidenschaftliches Hindrängen zum Reichtum ihn gestürzt hatte.

»Bah, es wird sich alles geben,« sagte Mathieu tröstend, »Sie werden das Kleine schließlich vergöttern.«

Mit entsetzter Miene rief Morange: »Nein, nein, sagen Sie das nicht! Gott, wenn Valérie Sie hörte, so würde sie glauben, daß Sie ihr Unglück bringen. Sie will nicht zugeben, daß es komme.«

Und die Stimme dämpfend, als ob ihn jemand hören könnte, setzte er mit einem Schauder hinzu: »Wissen Sie, ich habe manchmal schreckliche Angst. Sie ist imstande, ein Unglück anzurichten in ihrer Verzweiflung.«

Er hielt inne, er fürchtete, schon zu viel gesagt zu haben. Seit dem Morgen, seit den Tränen und Erörterungen dieser Nacht, die er und seine Frau in dem finsteren Alkoven disputierend verbracht hatten, verfolgte ihn dieser fürchterliche Gedanke. War nicht auch er schon entschlossen?

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Mathieu.

»Nichts; Frauenverrücktheiten. – Jawohl, mein lieber Freund, Sie sehen vor sich den unglücklichsten Mann auf dieser Erde. Die Leute, die auf den Straßen Steine klopfen, flößen mir Neid ein.«

Zwei dicke Tränen rannen über seine Wangen. Ein peinliches Schweigen folgte. Er beruhigte sich ein wenig und begann wieder von Norine zu sprechen, ohne sie zu nennen.

»Und dieses Mädchen, ich bitte Sie! Auch eine, die es nötig hatte, ein Kind zu bekommen! Es scheint einem wie ein Fluch – gerade die, die keines wollen, kriegen eines. Jetzt ist sie auf die Straße gestoßen, ohne Geld, ohne Brot, ohne Arbeit, ohne jemand, der ihr hilft, und mit einem kleinen Wesen, das zur Welt kommen wird. Ich hätte weinen mögen, wie ich sie vorhin sah, das arme Ding! Und der Chef wirft sie auch noch hinaus. Wahrlich, es gibt keine Gerechtigkeit!«

Mathieu ward von einem Gedanken erfaßt. »Vielleicht wird der Vater des Kindes ihr schließlich doch zu Hilfe kommen.«

»Glauben Sie?« versetzte der Buchhalter mit einem traurigen, vielsagenden Lächeln. »Ich will nichts sagen, ich habe mich nicht darein zu mengen. Aber man hat natürlich seine Augen, man kommt oft unwillkürlich auf Dinge, von denen man lieber nichts gewußt hätte. – Alles das ist so häßlich. Der Fehler liegt nur an der Natur, die es schlecht eingerichtet hat: sogleich ein Kind, wegen einer Minute des Genusses, die man schwach genug war, sich nicht versagen zu können. Wahrlich, das macht einem das Leben zur Last.«

Und mit der Gebärde eines aller Illusionen beraubten Philosophen wandte sich Morange traurig wieder seiner Arbeit zu, während Mathieu endlich in sein Bureau zurücklehrte.

Einige Stunden später, am Nachmittag, als er sich hier allein befand, in den Entwurf einer neuen Sämaschine vertieft, schrak er auf, als er hinter sich ein leises Husten vernahm. Es war ein Mädchen von etwa zwölf Jahren, die geräuschlos eingetreten sein und die Tür leise hinter sich geschlossen haben mußte, und die nun vielleicht schon lange hier stand, ohne es zu wagen, ihn anzusprechen.

»Wer bist du? Was willst du?«

Sie geriet nicht in Verwirrung und antwortete mit einem diskreten Lächeln: »Meine Mutter schickt mich herauf, ich möchte Ihnen sagen, ob Sie wohl so gut sein wollten, auf einen Augenblick hinunterzukommen.«

»Aber wer bist du?«

»Ich bin die kleine Cécile.«

»Cécile Moineaud?«

»Ja, Monsieur.«

Mathieu begriff. Es handelte sich offenbar um die unglückliche Geschichte mit Norine.

»Und wo erwartet mich denn deine Mutter?«

»Sie erwartet Sie drunten, in einer Straße, dort drüben. Und sie hat gesagt, ich solle Ihnen sagen, wenn Sie nicht kämen, so wäre das ein großes Unglück für alle.«

Er betrachtete das Kind, wie sie da vor ihm stand, groß und aufgeschossen für ihr Alter, mit farblosen Haaren, die Züge schon verwischt und risigniert wie die ihrer Mutter, bebend in ihrem dünnen Kleidchen und dem Tuch, das sie überm Kopfe trug. Ein tiefes Mitleid überkam ihn; er sagte dem Mädchen, sie solle vorausgehen, und sie glitt in den Korridor hinaus und die Treppen hinab mit der Geschmeidigkeit eines Wiesels, mit all der schlauen Vorsicht, die sie angewendet haben mußte, um hereinzukommen. Am Tore der Fabrik bemerkte er ein andres Mädchen, kaum acht Jahre alt, welche gewartet hatte, und nun nach einem Blick des Einverständnisses vorausging.

»Wer ist denn das wieder?«

»Das ist meine kleine Schwester Irma.«

»Was hat sie am Tor getan? Warum seid ihr nicht zusammen heraufgekommen?«

»Sie blieb drunten, um zu sehen, ob man uns nicht beobachtet. Wir kennen uns in der Fabrik gut aus, und die Mutter sagt, daß wir nicht dumm sind.«

Dann lief sie zu Irma hin – die hübsch und blond wie Norine war, aber schwach und kränklich aussehend –, nachdem sie noch gesagt hatte: »Es ist nicht notwendig, daß man uns zusammengehen sieht. Sie brauchen uns nur zu folgen, Monsieur.«

Er folgte ihnen. Sie gingen zwanzig Meter vor ihm in der unbekümmerten Weise nichtsnutziger Mädchen, die die Schule schwänzen. Es war gleichwohl kein Tag, um im Freien herumzustreichen, denn die Sonne war verborgen, ein eisiger Wind blies durch die langen, geraden und öden Straßen und trieb die feinen Schneekörner vor sich her, mit denen sie bedeckt waren. Während solcher strengen Winterkälte verfiel dieses Arbeiterviertel in trübselige Erstarrung. Von beiden Seiten der langen Gassen längs der endlosen grauen Mauern hörte man nichts als das regelmäßige Zischen der Dampfrohre, wie ein unaufhörliches Keuchen der Anstrengung und des Leidens. Und in dieser trostlosen Oede, an der Ecke zweier Straßen, wie um die Kommenden schon von weitem sehen zu können, warteten die beiden Frauen, Mutter und Tochter, auf dem Trottoir, in dem eisigen Wind, der sie durchblies, beide vor Kälte zitternd, die Mutter in schwarzer Haube, die Tochter mit einem roten Wolltuche auf dem Kopfe.

Als Norine Mathieu erblickte, begann sie zu weinen. Ihr sonst so frisches und hübsches, milchweißes Gesicht, das gewöhnlich einen so fröhlichen und dreisten Ausdruck trug, war von Tränen entstellt. Sie übertrieb auch wohl ein wenig ihre Verzweiflung, um sich interessant zu machen.

»Ach, Monsieur,« rief die Mutter in klagendem Tone, »wie gut von Ihnen, daß Sie gekommen sind! Sie sind unsre einzige Hoffnung.«

Ehe sie weitersprach, wendete sie sich an die beiden Kleinen, Irma und Cécile, die sich bereits neben ihrer großen Schwester aufgepflanzt hatten, ganz erregt von diesem Abenteuer und vor Neugierde brennend, was es zu hören geben würde.

»Ihr zwei, ihr lauft voraus, die eine in diese Straße und die andre in diese, und stellt euch dort auf und paßt auf, ob jemand kommt.«

Aber die Kinder rührten sich nicht, ohne daß übrigens die Mutter sich weiter um sie bekümmerte. Sie blieben mit leuchtenden Augen stehen, begierig horchend.

»Sie kennen das Unglück, das uns betroffen hat, Monsieur,« fuhr die Moineaude fort. »Als ob wir nicht schon genug Kummer hätten! Was soll aus uns werden, allmächtiger Gott!«

Sie fing nun auch zu weinen an, die Tränen erstickten ihre Stimme. Mathieu, der sie seit nahezu einem Jahre nicht gesehen hatte, fand sie sehr gealtert, eine alte Frau trotz ihrer knappen dreiundvierzig Jahre, verwüstet durch ihre aufeinanderfolgenden Schwangerschaften, während welcher sie sich zu Tode arbeitete, und von denen sie frühzeitig, ohne Rücksicht auf sich selbst aufstand, ohne irgendwelche Pflege, mit verminderten Haaren und Zähnen. Wenn sie als geduldige Seele sich stumpf in ihr Los ergab, so gewährte es ihr doch eine gewisse Erleichterung, ihr Unglück zur Schau zu stellen; und für einen Augenblick vergaß sie das Schicksal, von dem ihre älteste Tochter heimgesucht worden, und das das Maß voll machte, um alle die Schläge aufzuzählen, die sie in den letzten sechs Monaten betroffen hatten.

»Freilich hat man endlich unsern Viktor in die Fabrik genommen, als er sechzehn Jahre alt war. Und das war uns eine Erleichterung, denn wenn ihrer acht in einem Hause sind, so macht einer mehr, der verdient, schon einen großen Unterschied. Aber es bleiben noch immer drei, die nicht arbeiten, diese zwei da und mein letzter, der kleine Alfred, auf den ich so gern verzichtet hätte. Obendrein ist er auch viel krank, ich hätte ihn neulich fast verloren, was vielleicht für ihn und für uns besser gewesen wäre. Nicht zu rechnen, daß auch Irma, die Kleine, die Sie da sehen, nicht sehr stark ist; und die Medizinen sind so teuer! Ich spreche nicht von dem Tode Eugènes, unsres Aeltesten, der in den Kolonien gedient hat. Sie haben ihn ja gekannt, als er in der Fabrik war und ehe er Soldat wurde. Neulich hat uns ein amtliches Papier die Nachricht gebracht, daß er an Dysenterie gestorben ist. Es lohnt sich wohl, Kinder zu haben, damit man sie einem tötet, ohne daß man sie noch einmal umarmen kann, ohne daß man auch nur weiß, wo sie begraben sind!«

Ein Aufschluchzen Norines brachte sie zu der augenblicklichen Situation zurück.

»Ja, ja, ich komme schon darauf. Ach ja, das Kinderkriegen, damit ist es glücklicherweise bei mir vorbei! Ich habe mein Teil davon gehabt, und das einzige Glück, das ich, die ich so früh gealtert bin, erwartete, war, nicht mehr Weib zu sein.«

Der Wind wehte eisig, die Kälte war so scharf, daß Mathieu seinen Schnurrbart sich mit Reif belegen fühlte. Er wollte zur Sache kommen. »Ihre Kleinen werden sich erkälten. Sagen Sie mir also, was Sie wünschen.« »Ach, es ist wegen des Unglücks Norines, wie Sie wissen. Es hat uns weiter nichts gefehlt als diese Schande! Sie hat mir alles erzählt, sie hat niemand als mich, die ihr ein wenig beisteht; denn ich frage Sie, was würde es uns nützen, wenn ich mit dem Stock über sie herfallen wollte? – Und was soll nun aus ihr werden, wo Moineaud sie hinausgejagt hat und droht, sie umzubringen, wenn er sie bei uns findet? Er ist nicht bösartig, Moineaud, aber man kann wirklich nicht von ihm verlangen, daß er vor der Welt eine solche Schande auf sich nimmt. Die Kinder, nicht wahr, die kriegt man, ohne daß man daran denkt, dann wachsen sie heran, und man liebt sie trotz alledem; und mit den Buben, da macht man sich nichts daraus, geh, wohin du willst, tu, was du willst, sobald sie nur einmal aus dem Neste sind; aber bei den Mädchen, da wird es einem zu arg, wenn man sieht, daß sie schlecht werden. Moineaud ist sehr erzürnt, er hat davon gesprochen, alles zusammenzuschlagen, und das ist nur natürlich.«

Mathieu nickte mit dem Kopfe. Es war die herkömmliche Geschichte der vielköpfigen Arbeiterfamilien: der Vater, ein gutmütiger Mensch im Grunde, kümmert sich nicht viel um das übervolle Nest; die Mutter, mit Arbeit überhäuft, kann sich mit den Kleinen nicht befassen; dann schlechte Aufführung, der Zorn der Eltern, wenn das Vergehen zutage kommt; und das Ende von allem die Zerstörung der Familiengemeinsamkeit, die Ueberlieferung eines Stückes sozialen Lebens an den Schmutz und das Verderben.

Ungeduldig darüber, daß die Mission, mit der sie ihre Mutter betraut, so lange nicht zum Ziel kam, weinte Norine lauter und sagte zwischen zwei Schluchzern: »Sage doch Herrn Froment, daß ich dir alles erzählt habe.«

Die Moineaude mußte endlich an den schrecklichen Gegenstand heran. Sie dämpfte ihre Stimme. »Ja, Monsieur, Norine hat mir gesagt, daß Sie der einzige wären, der etwas für uns tun kann, weil Sie sie eines Tages mit dem Vater ihres Kindes gesehen haben und daher in der Lage wären, zu bezeugen, daß sie nicht lügt. Sie begreifen, warum Moineaud nicht in die Sache hineingemengt werden darf. Wir werden ihm nie den Namen sagen; und wenn er ihn je erfahren sollte, so wäre ich die erste, die ihn bitten würde, so zu tun, als ob er nichts wüßte; so viele Jahre ist er jetzt in der Fabrik, und es wäre das Ende von allem, wenn er sie verlassen müßte. Sie sehen also wohl, daß wir keinen Lärm machen wollen. Weder ich noch meine Tochter werden eine Geschichte erzählen, weil wir nichts dabei zu gewinnen hätten. Trotz alledem kann aber Norine nicht auf der Straße bleiben, der Vater ihres Kindes wird nicht so herzlos sein, sie da zu lassen. Und wir wenden uns an Sie, Monsieur, um Sie zu bitten, mit ihm zu sprechen und die Hilfe von ihm zu erbitten, die er gewiß einem verlaufenen Hunde nicht versagen würde, wenn er ihn bei einem solchen Wetter auf der Straße fände.«

Sie sprach mit der zitternden Demut der armen Frau, ihr Elend hatte sie so zu Boden gedrückt, daß sie selbst nicht an ihre Kühnheit glauben konnte, daß sie es wagte, die mächtige Persönlichkeit anzuklagen, von der das Schicksal aller der Ihrigen abhing. Plötzlich bemerkte sie die beiden Kleinen, Irma und Cécile, die mit gespanntem Interesse horchten, und fuhr auf sie los.

»Was macht ihr da, ihr Fratzen? Ich habe euch gesagt, ihr sollt an der Ecke aufpassen. Marsch, fort! Kinder dürfen nicht zuhören, wenn Große miteinander sprechen.«

Die Kinder blieben ruhig auf dem Flecke. Sie unterhielten sich zu gut, sie machten nicht einmal Miene, zu gehorchen, und die Mutter vergaß sie sogleich wieder.

Obgleich sehr gerührt, zögerte Mathieu dennoch. Er wußte nur zu gut, was Beauchêne ihm antworten würde. Er suchte nach Entschuldigungsgründen für eine Weigerung, zu vermitteln.

»Meine liebe Frau, Sie täuschen sich über meinen Einfluß. Ich fürchte so sehr, keinen Erfolg zu erzielen –«

Aber Norine ließ ihn den Satz nicht vollenden. Sie sah, daß sie sich einmengen müsse. Sie weinte nicht mehr, sie wurde allgemach lebhafter.

»Hören Sie, Monsieur, meine Mutter sagt Ihnen nicht alles, was sie sagen sollte. Ich war es nicht, die ihn verfolgt hat, den Herrn, den Sie kennen. Er ist mir nachgelaufen, er hat mir keine Ruhe gelassen, bis er erreicht hatte, was er wollte. Und jetzt stellt er mich da hinaus, als ob er mich nicht einmal kennte! Und doch, wenn ich boshaft wäre, könnte ich ihm große Unannehmlichkeiten verursachen. – Ich schwöre, ehe ich so töricht war, mit ihm zu gehen –«

Sie war im Begriffe, zu lügen und zu sagen, daß sie unberührt gewesen sei, als Beauchêne sie verführte. Aber sie mochte wohl in den Augen Mathieus sehen, daß er unterrichtet war, und hielt es für geraten, in Gegenwart ihrer Mutter nicht länger auf diesem Punkt zu verweilen, denn sie hatte es nicht für notwendig befunden, dieser ihren ersten Fehltritt einzugestehen. Es war die gewöhnliche Geschichte der hübschen Arbeiterinnen, die, auf der Straße und in der Werkstätte aufgewachsen, mit zwölf Jahren verdorben sind, bereits alles wissen, aber sich aus Berechnung bewahren, in der wohlüberlegten Erkenntnis, was sie wert sind. Sie, die unter der Oberfläche ihrer scheinbaren Unbesonnenheit sehr schlau war, hatte lange auf eine nicht zu ungünstige Gelegenheit gewartet. Aber wie so viele andre hatte sie sich eines Tages selbstvergessen einem Kameraden ergeben, der noch desselben Abends davongegangen war. Es war der Wunsch, diese Dummheit gutzumachen, der sie sodann in die Arme des millionenreichen Chefs getrieben hatte, als intelligente Tochter des Pariser Pflasters, die ihrerseits das Verlangen hatte, um eine Stufe zu steigen, von den höheren Genüssen zu kosten, von dem Luxus, den sie in den Schaufenstern der großen Geschäfte mit den Augen verschlang. Nun aber hatte sie in Beauchêne einen Genußmenschen von so rücksichtslosem Egoismus gefunden, von einer so ungeheuren Unempfindlichkeit gegen alles, was nicht sein Interesse oder sein Vergnügen war, daß sie aus der Episode betrogen, in unwürdigster Weise bestohlen hervorging, nachdem sie alles gegeben hatte, was sie besaß, ihre Jugend, ihre blühende Frische, ihren milchweißen Körper, ein wahrer Frühlingsschmaus, und nichts davongetragen hatte, als dieses unglückselige Kind, diese natürliche Folge, vor welcher alle Mädchen in solch betäubter Erstarrung stehen wie vor dem unvorhersehbaren Ereignis eines Blitzschlages.

»Jedenfalls,« fuhr sie leidenschaftlich fort, »wird er nicht zu behaupten wagen, daß das Kind nicht von ihm ist. Das wäre eine unerhörte Lüge. Er braucht sich nur an die Daten zu erinnern, es ist so klar wie die Sonne. Ich habe es mir ausgerechnet, und ich will es ihm beweisen, wenn er will. Sie können mir wohl glauben, Monsieur, daß ich nicht imstande wäre, in einer so ernsten Sache eine Lüge zu sagen. Ich schwöre Ihnen, daß ich mit niemand verkehrt habe, als mit ihm, daß er der Vater des Kindes ist, so wahr meine Mutter hier steht und mir zuhört. Verstehen Sie wohl, ich kann es beschwören, ich würde es beschwören, und wenn ich unter der Guillotine läge! Sagen Sie ihm das, Monsieur, sagen Sie ihm das, und wir wollen sehen, ob er das Herz hat, mich auf der Straße zu lassen!«

Ihr Ton war so aufrichtig, so aus der Seele kommend, daß Mathieu überzeugt war. Offenbar sprach sie die Wahrheit. Jetzt weinte die Mutter, mit kurzen, fortgesetzten Schluchzern; und auch die beiden kleinen Mädchen wurden von der Rührung der Szene überwältigt, brachen in Wehklagen aus, beschmutzten ihre Gesichter mit ihren Tränen. Dieses Elend schnitt Mathieu ins Herz, und er gab nach.

»Mein Gott, ich will ja gern einen Versuch machen, aber ich kann Ihnen für den Erfolg nicht bürgen. Ich werde Sie wissen lassen, was ich habe erreichen können.«

Die Mutter und die Tochter ergriffen seine Hände und wollten sie küssen. Es wurde vereinbart, daß Norine diese Nacht bei einer Freundin schlafen sollte, während über ihr Schicksal entschieden wurde. Und in der menschenleeren Straße, wo man nichts hörte als die Atemstöße der benachbarten Fabriken, blies der unbarmherzige Schneewind eisiger als je, peitschte die vier armseligen Gestalten, die vor Kälte und Kummer unter ihren dünnen, ärmlichen Kleidern zitterten. Sie gingen davon mit geröteten Gesichtern, mit von der Kälte erstarrten Fingern, wie von dem erbarmungslosen Eishauch des Winters weggetragen. Und er sah ihnen nach, wie sie um die Straßenecke bogen, die weinende Mutter mit ihren drei betrübten Kindern.

Während Mathieu in die Fabrik zurückkehrte, bereute er bereits, das Versprechen gegeben und damit vielleicht nur vergebliche Hoffnungen bei den armen Frauen erregt zu haben. Wie sollte er die Sache anfassen? Was sollte er sagen? Und der Zufall wollte, daß er, in sein Bureau tretend, Beauchêne da fand, der ihn erwartete, um eine Auskunft in Bezug auf eine Maschine zu verlangen.

»Wo waren Sie denn, mein Lieber? Seit einer Viertelstunde lasse ich Sie überall suchen.«

Mathieu wollte einen Vorwand gebrauchen, um sich zu entschuldigen, als ihm plötzlich der Gedanke kam, die Gelegenheit zu ergreifen und den Knoten zu durchhauen, indem er alles sagte. Er führte diesen Entschluß tapfer durch, erzählte, wie die beiden Mädchen ihn geholt hätten, und welches Gespräch er eben mit Norine und ihrer Mutter gehabt habe. »Ich bitte Sie, mein lieber Alexandre,« schloß er, »es mir nicht übel zu nehmen, daß ich mich in diese Sache menge. Die Umstände erscheinen mir ernst genug, als daß ich mich nicht über die Unannehmlichkeit hinwegsetzen sollte, Sie vielleicht ärgern zu müssen. Bei alledem hätte ich Ihnen vielleicht nichts gesagt, wenn Sie mir nicht gewisse vertrauliche Mitteilungen gemacht hätten.«

Beauchêne hatte anfangs betreten zugehört, dann wurde er von einem dumpfen Zorn erfaßt, der ihm in einer roten Blutwelle ins Gesicht stieg. Er erstickte, er ballte die Fäuste, wie um alles zu zerschlagen. Dann tat er, als bemächtige sich seiner unwiderstehliche Heiterkeit, und brach in ein geringschätziges Lachen aus, das einen falschen Klang hatte.

»Aber, mein lieber Freund, das ist ja eine einfache Erpressung. Wozu geben Sie sich da her? Ich habe Sie wahrhaftig nicht für so naiv gehalten, man läßt Sie da eine hübsche Rolle spielen! Also die Mutter und auch selbst die kleinen Schwestern nehmen sich der Sache an? Nun ist es komplett, nun wird die Geschichte komisch! Und man hat Sie wohl mit einem Ultimatum betraut? Ich muß das Kind anerkennen, oder man wird mir Verlegenheiten bereiten, wie? Nein, das ist wirklich monumental!«

Er schritt in dem Raume auf und ab, schreiend und seine Worte mit kurzausgestoßenem Lachen begleitend; die Sache war ihm ungemein peinlich, und besonders ärgerte er sich wütend darüber, daß ein solch lächerlicher Unfall ihm, dem so Erfahrenen, sollte zustoßen können. Er blieb plötzlich stehen und faßte Mathieu an den Aufschlägen seines Rockes.

»Hören Sie einmal, so was kann man doch nicht ernst nehmen! Sagen Sie mir doch nur, ob Sie, der Sie nicht dumm sind, eine solche Vaterschaft annehmen würden? Ein Mädchen, das sich voriges Jahr einem Kellner ergeben hat! Ein Mädchen, das seit der Zeit wohl die schmutzigsten Sachen getrieben hat. Ich habe sie ja nur aufzulesen gebraucht. Man findet die Sorte zu Dutzenden auf der Straße.«

Und da Mathieu ihn unterbrechen wollte, um dem zu widersprechen, um seiner Ueberzeugung Ausdruck zu geben, daß das unglückselige Mädchen nicht lüge, schloß er ihm heftig den Mund.

»Nein, nein, seien Sie still, hören Sie mir zu. Ich bin meiner Sache sicher, verstehen Sie wohl, vollkommen sicher. Und ich verstehe mich darauf, mein Lieber. Das müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich, der ich es zuwege bringe, einen solchen Unfall bei meiner Frau zu verhüten, bei einer Geliebten hineinfiele wie ein Student, der den Rummel nicht kennt. Ich schwöre bei meinem Kopfe, dieses Kleine kann sich einen andern Vater suchen!«

Gleichwohl schien seine Ueberzeugung nicht so felsenfest zu stehen, denn er ließ sich in eine Diskussion der Daten ein. Er verwickelte sich, widersprach sich, sagte offenkundige Lügen. Von einem Rausch der Begierde erfaßt, hatte er sie drei oder vier Monate hindurch noch oft gesehen, bis zu dem Tage, da er, angesichts ihres veränderten Zustandes, einen Widerwillen gegen sie faßte, sie entstellt und unbequem fand, vielleicht auch sich beeilen wollte, mit ihr zu brechen, um sich jeder Verantwortlichkeit zu entziehen. Jetzt setzte er sie herab, sprach von einer flüchtigen Laune, meinte, ihr einziger Reiz habe in ihrer Frische gelegen, tat, als könne er nicht begreifen, wie sein Geschmack sich so habe verirren können.

Und dann kam der Chef, der eitle und despotische Mann in dem gewissenlosen Ausrufe zum Vorschein: »Sich mit einer seiner Arbeiterinnen abgeben, das ginge noch an, obschon es dumm genug ist; aber ein Kind mit ihr zu haben – ah, nein, das wäre zu albern, man würde mir lange Nasen drehen, ich wäre verloren!«

Gleichwohl hatte er die heftigen Beteuerungen schon aufgegeben; und als Mathieu schwieg und ruhig wartete, daß seine erste Erregung sich lege, um neuerdings für die arme Norine zu plaidieren, geriet er in Unruhe; dieses Schweigen bedrückte ihn, er ließ sich atemlos in einen Sessel fallen und fuhr fort:

»Und dann, nehmen wir auch an, daß es so sei, ich will für einen Augenblick zugeben, daß ich mich vergessen hätte. Es ist ja wahr, wenn man gut diniert hat, so weiß man manchmal nicht genau, was man tut. Aber selbst diesen Fall gesetzt, genügt das, damit diese Dirne mir ihr Kind aufhalse? Ein Kind, ja das geht sie allein an, um so schlimmer für sie, wenn sie eins kriegt, das gehört zum Risiko ihres Berufes! Wer steht mir dafür gut, daß sie nicht damals mit zwei oder drei Männern verkehrt hat? Finden Sie sich nun da zurecht! Ganz gewiß weiß sie selber nicht, von wem es ist, dieses hübsche Angebinde. Aber da ich guter Kerl bei der Hand bin, und da sie einen Vorwand hat, um mich in die Sache hineinzubringen, so legt sie sich ihre Geschichte zurecht. Ein reicher Mann, ein Chef, der den Skandal fürchten muß, da kann man ein Vermögen herausschlagen. Erpressung, mein Freund, Erpressung und sonst nichts!«

Tiefes Schweigen folgte. Mathieu hatte seinerseits angefangen, in dem Bureau auf und ab zu gehen, das von einem großen Kachelofen warm geheizt wurde. Er ließ noch einige Zeit verstreichen, ehe er sprach, während durch die bebenden Dielen das nie aussetzende Dröhnen der arbeitenden Maschinen heraufdrang. Dann sagte er, was er zu sagen hatte, in einfachster Weise: seine Ueberzeugung, daß Norine nicht lüge, die Details, die sie ihm gegeben hatte, die Tränen der beiden armen Frauen, die schreckliche Härte, die es wäre, die Unglückliche auf der Straße zu lassen. Angenommen selbst, daß das Kind nicht von ihm sei, so sei sie doch deshalb nicht minder seine Geliebte gewesen, und er könne es nicht verweigern, ihr beizustehen, nun, da sie so entsetzlich verlassen sei.

»Sie machen sich schlechter, als Sie sind. Ich bin überzeugt, daß Sie nachdenken und das Erforderliche tun werden. Ein Ehrenmann wie Sie stellt sich nicht kleinlich in einer solchen Sache!«

»Aber wenn ich etwas tue,« rief Beauchêne besiegt und geängstigt, »so wird man es überall herumtragen, daß das Kind von mir ist. Dann wird sie erst recht leichtes Spiel haben, es mir aufzuhalsen.«

Abermals trat Schweigen ein, man hörte das scharfe Zischen eines Dampfrohres im Hofe. Dann fuhr er zögernd, unbehaglich fort: »Droht sie, Lärm zu schlagen? Ich fürchtete schon einen Augenblick, daß sie etwa zu meiner Frau gehen könnte. Das wäre furchtbar unangenehm.«

Mathieu unterdrückte ein Lächeln, er fühlte, daß er gewonnenes Spiel habe.

»Ja, man kann nie wissen. Sie ist gewiß nicht bösartig. Aber wenn man eine Frau zum Aeußersten treibt, ist sie jeder Tollheit fähig. Und dann macht sie ja gar keine Ansprüche, sie hat mir nicht einmal gesagt, was sie verlangt, außer daß sie nicht bei dieser Jahreszeit auf der Straße bleiben kann, da ihr Vater sie hinausgejagt hat. Wenn Sie meinen Rat wollen, so glaube ich, daß man sie morgen bei einer Hebamme in Pension geben sollte. Sie werden vier oder fünf Monate zu zahlen haben, also rund eine Fünfhundertfrankennote. Damit ist die Sache bestens erledigt.« Beauchêne erhob sich mit einer raschen Bewegung und ging ans Fenster. Dann kehrte er zurück: »Sie wissen, daß ich kein schlechtes Herz habe, nicht wahr? und es kommt mir auch wahrlich nicht auf fünfhundert Franken auf oder ab an. Wenn ich in Zorn geraten bin, so ist es, weil der bloße Gedanke, ausgebeutet zu werden, mich wütend macht. Aber im Augenblicke, da es sich um ein Werk der Barmherzigkeit handelt, du lieber Gott, meinetwegen! Unter einer Bedingung jedoch: ich kümmere mich um gar nichts, ich will nicht einmal wissen, was Sie tun werden. Suchen Sie eine Hebamme, mieten Sie das Fräulein ein, wo Sie wollen, ich werde einfach die Rechnung bezahlen. Guten Morgen, guten Abend!«

Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, daß er diese böse Sache los war, die ihm unangenehmer war, als er gestehen mochte. Und er wurde sogleich wieder der überlegene, der schöne und sieghafte Mann, der gewohnt war, alle Schlachten des Lebens zu gewinnen. Er scherzte sogar: diese Norine, er trage ihr im Grunde nichts nach, denn er habe nie im Leben eine Haut wie die ihrige gesehen, ein wahrer Sammet, von rosiger Frische; und sie sei am meisten bestraft durch dieses unglückselige Kind, denn es habe sie bereits bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sodann gab er einen Beweis seiner vollkommenen Geistesfreiheit, indem er die Maschine zu besprechen anfing, wegen deren er gekommen war, und zeigte für die Interessen seiner Unternehmung außerordentlichen Scharfblick und das durchdringendste Verständnis.

Er hatte bereits die Tür hinter sich geschlossen, als er sie nochmals öffnete und wiederholte: »Betonen Sie besonders meine strikte Bedingung! von dem Kinde will ich absolut nichts wissen, auch nicht einmal, ob es gekommen ist. Man soll damit machen, was man will, aber mir nie wieder davon sprechen.«

An diesem Abend gab es bei den Beauchêne eine schreckliche Aufregung. Der kleine Maurice stürzte, als sie sich zu Tische begeben wollten, ohnmächtig zu Boden. Er blieb nahezu eine Viertelstunde besinnungslos; und die bestürzten Eltern schrien, haderten miteinander, klagten sich gegenseitig an, das Kind diesen Morgen bei so strenger Kälte zum Ausgehen gezwungen zu haben; offenbar war es dieser törichte Spaziergang, der ihm eine Erkältung zugezogen hatte, – sie sagten es wenigstens, um ihre Seelenangst zu beruhigen. Constance, als sie ihr regungsloses Kind in den Armen hielt, sah ihn bereits tot. Zum ersten Male überlief sie der furchtbare Schauder, sie sagte sich, daß er sterben könnte. Die Mutter in ihr fühlte ihr Herz zerrissen, empfand einen solchen wahnsinnigen Schmerz, daß ihre heiße Mutterliebe ihr fast eine Offenbarung war. Aber die ehrgeizige Frau, die, welche das Königtum für diesen Sohn erträumte, in ihm den einzigen Erben, den künftigen Herrn eines gewaltigen Vermögens sah, litt ebenfalls entsetzlich. Wenn sie ihn nun verlöre, würde sie also kein Kind mehr haben? Und warum hatte sie nicht noch eins? Was war das für ein törichter Eigensinn, mit allen Mitteln zu verhindern, daß sie noch eins bekomme!

Dieses Bedauern zuckte sie wie ein Blitzstrahl, und sie fühlte sein unheilbares Brennen in ihrem tiefsten Innern. Aber Maurice war wieder zu sich gekommen, er aß sogar mit ziemlichem Appetit. Beauchêne hatte sofort wieder angefangen die Achseln zu zucken und spottete über die unvernünftige Angst der Frauen. Nach wenigen Tagen dachte auch Constance nicht mehr an den Zwischenfall.


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