Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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Fünftes Buch

1

Das Leben in der Fabrik kam unter der großen Trauer langsam wieder in Gang. Vernichtet von dem furchtbaren Schlage, der ihn betroffen hatte, ging Beauchêne nicht mehr fort, blieb die ersten Wochen stets in seinem Hause, wie ausgelöscht, ohne Verlangen. Er schien gebessert, log nicht mehr, schützte keine seiner ewigen Geschäftsreisen vor, um außer dem Hause seinen unmäßigen Gelüsten nach Weibern zu frönen, die mit dem Alter nur um so stärker und gieriger bei ihm aufgetreten waren. Er hatte sich wieder der Arbeit zugewendet, befaßte sich mit seinen Geschäften, ging wieder jeden Morgen in die Werkstätten, unterstützt von Blaise, einem tatkräftigen und ergebenen Gehilfen, auf den er täglich mehr Aufgaben übertrug, die ihm zu schwer wurden. Aber was den engeren Freunden besonders auffiel, das war die Wiederannäherung der Gatten; Constance war aufmerksam um ihren Mann bemüht, Beauchêne verließ seine Frau nicht mehr, beide lebten in schönster Eintracht, zurückgezogen in ihrem verschlossenen Wohnhause, das gleichsam Trauerschmuck trug, und in welches nur Verwandte zugelassen wurden.

Constance empfand, nachdem der erste entsetzliche Schmerz über den plötzlichen Verlust ihres Sohnes vorüber war, das furchtbare Gefühl einer Verstümmelten, der ein Glied amputiert worden ist. Sie war nicht mehr ganz, sie schämte sich, als wäre sie verkleinert, entstellt. In die weinende Klage ihrer beraubten Liebe mischte sich ein verzweifeltes Aufbäumen ihres Stolzes, so furchtbar litt sie unter ihrer Verminderung, daß sie nicht mehr Mutter war, nicht mehr da neben sich den Kronprinzen hatte, der einst das Erbe des Königreiches antreten sollte. Sie, die sich eigensinnig auf diesen einzigen Sohn hatte beschränken wollen, nur damit er der alleinige Herr des Reichtums werde, der einstige allmächtige König! Der sinnlose Tod hatte ihn ihr entrissen, und das Haus schien ihr nicht mehr zu gehören, die Fabrik entglitt ihren Händen, besonders seitdem dieser Blaise sich hier eingenistet hatte, mit seiner Frau und seinem Kinde, diese ganze wuchernde Fruchtbarkeit der alles überschwemmenden Froment. Sie konnte es sich nicht verzeihen, daß sie selbst sie hier aufgenommen und eingerichtet hatte, sie empfand nur noch den einen, glühenden, leidenschaftlichen Wunsch, sich zu verteidigen, ihren Sohn wieder erstehen zu lassen, noch einen Sohn zu haben, um ihr Eigentum, ihren Platz, ihr Königtum wieder zu erobern. Zweifellos hatte sie Maurice vergöttert, sie hatte sogar niemand geliebt als ihn, die kühle Gattin, die die ehelichen Zärtlichkeiten nur eben resigniert über sich ergehen ließ. Aber ihre Mutterliebe, bis nun unauffällig, tief und stumm, flammte nun plötzlich in heftigem Feuer auf, woran ihr ganzes Wesen sich entzündete. Sie war eine betrogene, bestohlene Mutter, eine Mutter, der man ihr Kind genommen hat, die es wieder will, die ein andres will, der nichts den brennenden Durst nach Liebe löschen kann, als bis sie wieder Mutter ist. Für ihr Herz, für ihren Stolz, für ihren Körper ebenso wie für ihren Ehrgeiz, ein Kind, sie mußte ein Kind haben! So kam es, daß sie sich ohne Berechnung, ja aus Instinkt, ihrem Manne wieder genähert hatte.

In der Trauer des abgeschlossenen Hauses und seiner Bewohner erblühte ein neuer Honigmond. Sie unterschlugen nicht mehr, und beide warteten anfangs voll Zuversicht. Constance war kaum einundvierzig Jahre alt. Beauchêne, sechs Jahre älter als sie, trug die Sicherheit eines Kraftmenschen zur Schau, der noch imstande war, die Welt zu bevölkern. Man sah sie nur noch miteinander. Sie gingen zeitig zu Bette. Sechs Monate hindurch führten sie in vollster Eintracht ein zurückgezogenes, geregeltes Leben und setzten allen ihren Willen, alle ihre Kraft an das Gelingen des gemeinsamen Werkes. Aber das erwartete, ersehnte Kind kam nicht. Noch sechs Monate gingen hin, und von da ab schien es, daß das gute Einvernehmen sich trübe, daß Befürchtungen, Vorwürfe, Zornesausbrüche den Frieden des Schlafzimmers störten, denn Beauchêne fing wieder an, auszugehen, um frische Luft zu schöpfen, wie er sagte, während Constance, fieberisch, mit roten Augen, allein zu Hause blieb. Als Mathieu eines Tages seine Schwiegertochter Charlotte besuchte und länger im Garten verweilte, um mit der kleinen Berte zu spielen, die auf seine Kniee geklettert war, sah er zu seiner Überraschung Constance herabkommen, die ihn von den Fenstern des benachbarten Wohnhauses aus gesehen haben mußte. Sie führte ihn unter einem Vorwande hinauf und hielt ihn gegen eine Viertelstunde zurück, ohne sich entschließen zu können, zu sprechen. Plötzlich sagte sie ganz unvermittelt:

»Mein lieber Mathieu, verzeihen Sie, wenn ich Ihnen von einer Sache spreche, die uns nicht anders als peinlich sein kann. Vor nun bald fünfzehn Jahren hat mein Mann, wie ich weiß, ein Kind mit einer Arbeiterin der Fabrik gehabt. Und ich weiß auch, daß Sie ihm den Dienst erwiesen haben, in dieser Angelegenheit sein Vermittler zu sein, und sich mit diesem Mädchen und ihrem Kinde – ein Knabe, nicht wahr? – zu befassen.«

Sie wartete auf Antwort. Aber Mathieu, betroffen, sie so gut unterrichtet zu sehen, ungewiß, warum sie sich nach so vielen Jahren in dieser unglücklichen Sache an ihn wende, machte nur eine Gebärde, in welcher seine Überraschung und Bestürzung sich verrieten.

»Oh,« fuhr sie fort, »ich mache Ihnen keinen Vorwurf, ich bin sogar überzeugt, daß ihre Rolle hierin eine freundschaftliche und selbst liebevolle für mich gewesen ist, da Sie wohl fürchteten, daß ich von irgendeinem Skandal betroffen werden könnte. Und im übrigen können Sie sich wohl denken, daß ich heute keinerlei Anklagen wegen einer so alten Untreue erheben will. Mein einziger Wunsch ist, mich zu unterrichten. Lange habe ich den Denunziationen nicht nachgehen wollen, durch die ich das Geschehene erfuhr. Heute ist die Sache wieder in mir erwacht, läßt mir keine Ruhe, und es ist nur natürlich, daß ich mich an Sie wende, denn ich habe gegen meinen Mann nie ein Wort davon laut werden lassen, ich würde es für unsern Frieden sehr verderblich glauben, wenn ich ihm ein Geständnis und alle Details des nicht wieder gutzumachenden Fehltritts entreißen wollte. Und was mich schließlich zur Entscheidung gebracht hat, das ist die Erinnerung an unsre Begegnung an dem Tage, da ich Madame Angelin zu der Hebamme begleitete und Sie dort mit diesem Mädchen gesehen habe, die wieder ein Kind auf dem Arme hatte. Sie haben sie

426 also wieder gesehen. Sie müssen wissen, was sie tut, ob ihr erstes Kind noch lebt, und in dem Falle, wo es ist, und was es ist.«

Er antwortete noch immer nicht. Das Fieber, das er allmählich sich in ihr entzünden sah, machte ihn behutsam, ließ ihn nach den Beweggründen dieses seltsamen Ansinnens der sonst so stolzen und zurückhaltenden Frau suchen. Was ging da vor? Warum bemühte sie sich, ihn zu Mitteilungen zu bewegen, deren Folgen er nicht voraussehen konnte? Und während sie ihn unverwandt anblickte, ihn mit ihren gierigen Augen zu ergründen trachtete, suchte er nach freundlichen, ausweichenden Worten.

»Sie setzen mich sehr in Verlegenheit. Und übrigens weiß ich nichts, was für Sie von Interesse sein könnte. Was sollte es Ihrem Manne, was sollte es gar Ihnen nützen, diese ferne Vergangenheit aufzurühren? Glauben Sie mir, vergessen Sie, was man Ihnen gesagt hat, Sie sind ja eine so kluge und überlegende Frau...«

Sie unterbrach ihn, erfaßte seine Hände und hielt sie mit warmem, bebendem Griff umschlossen. Nie hatte sie sonst eine so leidenschaftlich selbstvergessene Gebärde gekannt.

»Ich versichere Ihnen nochmals, daß niemand etwas von mir zu fürchten hat, weder mein Mann noch dieses Mädchen, noch das Kind. Begreifen Sie doch, daß mich nur der Gedanke daran quält, daß ich darunter leide, daß ich nichts weiß – ja, es scheint mir, daß ich ruhiger sein werde, wenn ich alles weiß. Um meinetwillen nur frage ich Sie aus, um meiner Ruhe willen... Ach, wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten!«

Er fing an, manches zu erraten, sie hatte nicht nötig, ihm alles zu sagen. Schon die Wiederannäherung der Gatten hatte ihn ahnen lassen, wie die Sachen standen, er konnte sich vorstellen, von welch heißem Wunsche sie nach dem Tode Maurices erfüllt waren, ihn zu ersetzen, welche Anstrengungen sie machten, um noch einen Sohn zu haben. Und seit einem Jahre, da der Sohn nicht kam, hatte er ihre Enttäuschung beobachten können, ihren zunehmenden Kummer, endlich den Zorn, die Bitterkeit und den Hader, die aus ihrer Unfruchtbarkeit erwuchsen. Und jetzt war er bei der gealterten Gattin Zeuge, wie sie von diesem seltsamen Eifersuchtsanfall ergriffen wurde, wie der Gedanke an dieses Kind sie verfolgte, das sie von ihrem Gatten jetzt nicht haben konnte, und das dieses Mädchen einst von ihm gehabt hatte. Das Weib zählte nicht mehr, sie wußte, daß dieses Mädchen ebenso schön, jugendfrisch, blühenden Körpers gewesen, wie sie selbst gelb, vertrocknet und vorzeitig erkalteten Blutes; und die verletzte Liebe fand kein Wort der Empörung. Einzig die Mutter litt in ihr, nur dem Kinde galt die Eifersucht ihres gequälten Herzens. Sie konnte es nicht aus ihrer Erinnerung verbannen, es kehrte immer wieder wie ein Hohn, wie eine Beleidigung, so oft sie sich der Nutzlosigkeit ihres Harrens, des Zusammenbruchs einer neuen Hoffnung bewußt wurde. Und von Monat zu Monat wurde die Enttäuschung bitterer, dachte sie in steigender Erregung an das Kind der andern, sie verlangte danach, sie verzehrte sich in Fragen, wo es lebe, was aus ihm geworden sei, ob es gesund sei, ob es ihrem Manne ähnlich sehe.

»Ich versichere Ihnen, mein lieber Mathieu,« fuhr sie fort, daß Sie ein gutes Werk tun, wenn Sie mir antworten. Lebt es? Sagen Sie mir nur, ob es lebt. Aber sagen Sie mir die Wahrheit! Wenn es gestorben wäre, so glaube ich, daß ich ruhiger würde. Und doch, Gott weiß, daß ich ihm nichts Böses wünsche!«

Da sagte ihr denn Mathieu, den sie nachgerade sehr dauerte, die einfache Wahrheit.

»Da Sie also im Namen Ihrer Seelenruhe darauf bestehen, und da dies ganz unter uns bleiben soll, ohne daß der Frieden Ihrer Ehe dadurch gestört wird, so will ich Ihnen in Gottes Namen sagen, was ich weiß; aber ich wiederhole, was ich weiß, ist sehr wenig. Das Kind wurde vor meinen Augen dem Findelhaus übergeben. Seither hat die Mutter nie nach dem Kinde gefragt und daher auch nichts von ihm erfahren. Ich brauche nicht hinzufügen, daß Ihr Gemahl sich ebenfalls in vollkommener Unwissenheit befindet, denn er hat sich stets geweigert, sich um dieses Kind zu kümmern. Ob es also noch lebt, wo es sich befindet, das kann ich Ihnen nicht sagen. Man müßte umfassende Nachforschungen anstellen. Wenn Sie aber meine Ansicht wollen, so geht sie dahin, daß große Wahrscheinlichkeit besteht, daß es tot ist, so groß ist die Sterblichkeit unter diesen armen kleinen Geschöpfen.«

Sie sah ihn durchdringend an. »Sie sagen mir die ganze Wahrheit, verbergen mir nichts?«

Und da er es ihr nochmals beteuerte, sagte sie:

»Ja, ja, ich vertraue Ihnen... Es wäre tot, das ist also ihre Meinung? Ach, zu denken, daß so viele dieser Kinder sterben, während es Frauen gibt, die so glücklich wären, eines zu retten, eines zu besitzen!... Nun, wenn es auch nicht Gewißheit ist, so ist es doch eine Auskunft. Ich danke Ihnen.«

Während der folgenden Monate war Mathieu mehrere Male wieder mit Constance allein; aber sie kam nie mehr auf diesen Gegenstand zurück. Sie schien wieder nichts wissen, sich zwingen zu wollen, zu vergessen. Gleichwohl ahnte er, daß ihre Gedanken sich davon nicht losmachen konnten, und es war auch nicht schwer zu bemerken, daß das Verhältnis der Eheleute sich immer mehr verschlimmerte, je mehr sie die Hoffnung verloren, ein Kind zu bekommen, welche Hoffnung allein sie einander wieder genähert hatte. Wenn sie auch vor der Welt noch den Anschein guten Einvernehmens aufrechterhielten, so sprachen doch deutliche Anzeichen für die allmähliche Entfremdung, für den abermaligen Bruch, der von Woche zu Woche weiter klaffte. Beauchêne hatte sein Leben außer dem Hause fast vollständig wieder aufgenommen, je mehr er sich gegen die ihm so wenig Vergnügen bietenden ehelichen Pflichten auflehnte, die um so unangenehmer waren, als sie vollkommen erfolglos blieben. Constance ergab sich trotz allem nicht, hielt ihn noch immer mit der Zähigkeit einer Kämpferin: in den Blicken, mit denen sie ihn umfaßte, verriet sich die verzweifelte Entschlossenheit, ihn nicht anders aus den Händen zu lassen als tot. War es denn möglich, waren sie bei der Unfruchtbarkeit der Angelin angelangt? Sollte sich alles das erfüllen, was sie geahnt, gefürchtet hatte, sollte ihre Ehe derselben entsetzlichen Leere anheimfallen, in der sie ihre Freundin und deren Mann zugrunde gehen sah? Der Gedanke an diese Unfruchtbarkeit war ihr unerträglich, schien ihr eine Schmach, ein Schandfleck, ein Gebrechen. Sie wies ihn weit von sich, was ihre Person betraf. Ihr Mann vielleicht, denn er hatte seine Kraft in einem ausschweifenden Leben vergeudet. Und es kam die Stunde, wo der eheliche Streit wütend ausbrach, wo sie, in dem endlich überquellenden Zorne über ihre vergeblichen Umarmungen, sich gegenseitig der Unfruchtbarkeit beschuldigten, die ihr Kummer war.

Beauchêne sagte, daß es hierfür eine Behandlung gebe. Aber an wen sich wenden? Als er Boutan nannte, weigerte sich Constance zuerst, denn sie fürchtete ihn, sie fürchtete, daß er über sie triumphieren werde, die seine Theorien so lange bekämpft hatte. Dann willigte sie ein, weil ihre Prüderie sich vorerst nicht entschließen konnte, sich von einem andern Arzt untersuchen zu lassen als von dem Geburtshelfer, der sie kannte.

Als Boutan kam, fand er die Gatten in dem kleinen gelben Salon, den er sehr gut aus der Zeit kannte, da er so häufig zu dem kränklichen kleinen Maurice gekommen war. Nachdem die Türen sorgfältig geschlossen worden waren, wollte Beauchêne sogleich einen scherzhaften Ton anschlagen, um über die Verlegenheit der ersten Erklärungen hinwegzukommen. Er führte den Arzt zu seiner Frau hin, die sehr bleich und sehr ernst dastand.

»Doktor, da ist eine Dame, die wieder eine Neuvermählte werden will. Sie will ein Kind, und Sie müssen ihr sagen, wie man das macht.«

Der gute Doktor ging willig auf den Scherz ein. Er zeigte wie immer sein rundes, wohlwollendes Gesicht, seinen gütigen Blick, ohne im geringsten den Anschein zu haben, über eine Katastrophe zu triumphieren, die er lange vorausgesehen hatte. Er erwiderte mit fröhlichem Lachen:

»Ein Kind, vortrefflich! Aber Sie wissen ebensogut als ich, wie man das anstellt.«

»Wahrlich nein, Doktor!« erwiderte Beauchêne in seinem leichtfertigen Tone. »Oder aber wir haben es vergessen, denn seit nun bald einem Jahre tun wir alles Nötige, um eins zu kriegen, und das liebe Kleine beharrt eigensinnig darauf, nicht zu kommen.«

Und in der eiteln Sucht, aus der Niederlage den guten Ruf seiner Manneskraft zu retten, war er so unvorsichtig, hinzuzufügen:

»Ich glaube, es muß etwas bei der Mama aus den Fugen geraten sein, und wir wenden uns nun an Sie, damit Die danach sehen und es wieder in Ordnung bringen.«

Verletzt von der Wendung, die er der Sache gab, ergriff Constance, die bisher geschwiegen hatte, mit geröteten Wangen und in zornigem Tone das Wort. »Mit welchem Rechte beschuldigst du mich? Verstehst du etwas davon? Doktor, nach meiner Ansicht ist es der Vater, den Sie untersuchen und behandeln sollten.«

»Verzeihe, mein Kind, ich wollte dir nicht weh tun.«

»Weh tun! Du lieber Gott, was liegt daran. Ich weine jetzt ganze Tage lang. Aber ich will nicht, daß du damit beginnst, mir die Schuld an unserm Kummer zuzuschieben. Und da du mich dazu herausforderst, so muß ich wohl den Doktor aufklären, damit er wenigstens weiß, woran er mit dir ist.«

Vergebens versuchte Beauchêne sie zu beruhigen. Sie geriet in immer heftigere Erregung, verlor alle Selbstbeherrschung.

»Glaubst du, daß ich erst seit heute weiß, was für ein Gatte du gewesen bist, was für ein Gatte du noch immer bist? Ah, mein Lieber, ich war immer genau über deine abscheuliche Lebensweise unterrichtet!«

Er wollte sie am Sprechen hindern, wollte ihre Hände ergreifen, die heftige Szene fürchtend, die er kommen fühlte.

»Schweig doch! Das ist ja unsinnig! Was soll das alles?«

»Rühr mich nicht an, du flößest mir Abscheu ein! ... Weil etwa der Doktor da ist? Aber du hast es ja selbst gesagt, ein Arzt ist ein Beichtvater, man sagt ihm alles, man zeigt ihm alles. Und glaubst du etwa, daß nicht auch er deine saubere Aufführung kennt? Alle Welt kennt sie ja! Wenn ich denke, daß du zwanzig Jahre lang an meine Blindheit, an meine Dummheit hast glauben können! Und das, weil ich schwieg!«

Sie hatte sich vor ihn hingestellt, ihre kleine schwarze Gestalt bebte vor Wut. In der Tat, sie hatte zwanzig Jahre die Heldenkraft gehabt, zu schweigen. Nicht nur hatte sie sich nie vor der Welt Verdacht oder Empörung anmerken lassen, nie die Haltung der verlassenen, gereizten Frau angenommen; sondern sie hatte sich auch in der Verschwiegenheit des ehelichen Schlafzimmers jeden Vorwurfs, jeden Wechsels ihrer Laune enthalten. Ihr Stolz, ihr Selbstgefühl hatten sie so aufrechterhalten, stumm und verachtungsvoll. Und dann, was lag ihr an dem unwürdigen Vater, den sie nicht liebte, dessen zu derbe Liebkosungen sie verletzten und abstießen? Hatte sie nicht ihren Sohn, den Gott, zu dem sie sich geflüchtet hatte, der ihr Leben, ihr Glück, ihr Triumph geworden war? Sie wäre gestorben, ohne sich herabzulassen, sich zu beklagen; und damit sie ihr langes Stillschweigen breche, mußte der Arm des Schicksals sie treffen, ihr das Kind entreißen, das ihr die Kraft gegeben hatte, alles zu ertragen, und sie gebrochen, steuerlos, allen Stürmen zur willenlosen Beute zurücklassen. Da zerschellte dieses Stillschweigen, und alles kam zum Vorschein, der Zusammenbruch schleuderte die Geheimnisse von zwanzig Jahren an die Oberfläche, ihre Verachtung, ihren Ekel, alles, was sie so lange verborgen und was sie so lange zum Ersticken erfüllt hatte.

»Ja, mein Lieber, ich wußte, daß du den Weibern nachliefst, sofort, nicht drei Monate nach unsrer Verheiratung. Oh, es war nicht von Bedeutung, bloß so kleine Seitensprünge, solche, die die klugen Frauen dulden. Aber gar bald ist es ärger geworden, du hast angefangen schamlos zu lügen, eine Lüge hat dich immer zu einer neuen gezwungen. Und du bist auf die Straße geraten, an die niedrigsten Dirnen, du bist nachts zu mir zurückgekehrt, während ich schlief, manchmal betrunken, nach den gemeinsten Lastern duftend ... Sage nicht nein, versuche nicht auch jetzt noch zu lügen! Du siehst, daß ich alles weiß!«

Sie ging auf ihn zu, so daß er zurückweichen mußte, ließ ihm nicht Zeit, auch nur ein Wort einzuwerfen.

»Dieses Kind also, das du mir nicht mehr verschaffen kannst, du bist hingegangen und hast es andern verschafft, allen den Dirnen, die sich dazu hergegeben haben. Die Erstbeste, die Vorübergehende, konnte eines haben, wenn ihr danach gelüstete. Du hast das in den Wind gestreut, zu deinem Vergnügen, und wenn etwas daraus hervorwuchs, in Gottes Namen! Du mußt deren ja überall haben, solcher Kinder! Wo sind sie? Wo sind sie, frage ich?... Was, du lachst, du hast kein Kind gehabt? Und das von dieser Norine, dieser Arbeiterin, die du niedrig genug warst, hier aufzugabeln, neben mir, in deiner Fabrik? Hast du nicht für ihre Wochen bezahlt, hast du das Kind nicht ins Findelhaus bringen lassen? Bemühe dich nicht, weiter zu lügen, du siehst, daß ich alles weiß? Wo ist es also, dieses? Wo ist es, sag es doch!«

Beauchêne scherzte nicht mehr, er war bleich geworden, seine Lippen bebten. Er hatte zuerst mit einem Blicke den Beistand Doktor Boutans angerufen, der sich jedoch begnügt hatte, sich abwartend niederzusetzen. Wie vielen solchen Szenen, und noch brutaleren und gefährlicheren, hatte der Doktor schon beigewohnt, als natürlicher Vertrauter der geheimen Dramen, die aus den Unterschlagungen folgen! Er hatte es sich daher auch zur Regel gemacht, den Zorn der Leute reden zu lassen, da er aus Erfahrung wußte, daß dies die einzige Gelegenheit sei, die Wahrheit von ihnen zu erfahren, denn sie logen immer, wenn sie kalten Blutes waren.

»Meine liebe Constance,« sagte endlich Beauchêne, den schmerzlich Getroffenen spielend, »du hast wirklich kein Erbarmen, willst du uns denn beide verderben? Wenn ich Fehler begangen habe, so glaube mir, daß ich sie bitter bereue. Aber du darfst mir doch nicht alles aufbürden, unser ganzes Unglück nur mir allein zuschreiben. Du wirfst mir vor, daß ich außer Haus gegangen bin; hast du mich nicht gehen lassen? Es ist ein wenig auch deine Schuld.«

»Wie, meine Schuld?«

»Gewiß. Du gestehst es selbst, du hast die Augen zugedrückt, du hast meine Verirrung geduldet. Konntest du mich nicht zurückhalten? Wer sagt dir, daß Ermahnungen, Zärtlichkeiten deinerseits mich nicht gebessert hätten? ... Siehst du, der Mann, der zu Hause nicht die liebenswürdige, hingebende Frau findet, die ihm zum Leben nötig ist, besonders wenn er ein liebebedürftiger Mensch ist wie ich, hat manchmal einige Entschuldigung für sich, wenn er auf Abwege gerät. Es ist deine Schuld.«

»Meine Schuld! Habe ich mich dir je verweigert?«

»Oh, es gibt eine Art, sich zu verweigern, indem man sich gibt. Das läßt sich nicht nachweisen, das muß man fühlen... Und wenn du mich schon zwingst, rücksichtslos zu sein, es steht einer Frau schlecht an, ihrem Mann seine Geliebten vorzuwerfen, wenn sie es nicht verstanden hat, das zu tun, was nötig war, um ihn für sich allein zu behalten. Ich bin kein Heiliger. Du hättest mich fesseln, mich in Anspruch nehmen, es so einrichten sollen, daß ich nicht dazu gelange, an ein andres Vergnügen zu denken.«

Sie hörte empört, außer sich, zu.

»Das ist ja gemein, was du mir da sagst! Weil du also nicht genug Vergnügen bei deiner Frau fandest, bist du hingegangen und hast es bei allen Straßendirnen gesucht? Und was für ein Vergnügen? Weiß ich es denn, habe ich nicht meine Pflicht erfüllt? Mache es mir doch zum Vorwurf, daß ich anständig war, daß ich nicht schamlos war, daß ich nicht eine jener Elenden war, die aus dir den herabgekommenen, verdummten und impotenten Menschen gemacht haben, der du geworden bist!«

Er unterbrach sie mit einer heftigen Gebärde; ihre Bezeichnungen trafen ihn wie Peitschenhiebe, er war auf dem Punkte, alles herauszusagen, sich den Widerwillen vom Herzen zu reden, den ihm ihre Magerkeit, ihre trockene Haut, ihr bleierner Teint stets verursacht hatten. Eine solche Frau, »diese Besenstange«, so ungeschickt in der Liebe, so kalt, daß sie sich in seinen Armen nie erwärmt hatte, ohne Lächeln, ohne Glückseligkeit, hatte sie das Recht, ihm alle diese Vorwürfe ins Gesicht zu schleudern?

»Nun, schlage mich jetzt noch,« rief sie, »das würde allem die Krone aufsetzen! ... Und wenn es dir nicht recht war, wenn du es anders wolltest, warum hast du es mir nicht gesagt? Wir wollten kein Kind, so waren wir wohl gezwungen, die nötige Vorsicht anzuwenden. Im übrigen hast du mich unterrichtet, ich habe nie etwas andres getan, als was du mir gesagt hast. Du wirst nicht behaupten wollen, daß du ein Kind wolltest?«

»Nein, und doch ließe sich viel hierüber sagen.«

»Wie? Du wolltest ein Kind?«

»Wenn ich auch keines wollte, so war ich doch jedenfalls nicht fortwährend auf der Hut, habe nicht jede kleinste Liebkosung überwacht, nicht überängstlich nur an die möglichen Folgen eines Vergessens gedacht. Unter solchen Verhältnissen ist es besser, einander den Rücken zu kehren ... Erinnere dich doch, meine Liebe, ich bitte dich! Hätte ich mich nicht zwanzigmal gehen lassen, wenn du mich nicht zurückgehalten hättest?«

Diese Behauptung machte sie vollends toll.

»Du lügst, du lügst abermals! Oh, ich verstehe, du willst glauben machen, daß ich, ich allein schuld daran bin, daß wir heute keinen zweiten Sohn haben, der den leeren Platz unsers armen Maurice einnehmen könnte! Ja, du bist feige genug, mir die ganze Verantwortung aufbürden zu wollen!... Mein Gott! Unser armer Maurice! Ist nicht das, daß wir ihn reich, glücklich, triumphierend sehen wollten, der einzige Grund, daß wir heute so schweren Kummer leiden? Wenn wir gesündigt haben, so war es aus Übermaß an Liebe, aus Vergötterung. Und du hast immer so gedacht wie ich und so gehandelt wie ich!«

Er gab nicht nach, er fühlte sich stark, da er diesmal nicht log.

»Wie du, nein! Ich wiederhole dir, daß du bloß nicht den Gendarmen hättest machen dürfen, und es wäre geschehen. Und überdies weiß ich, daß du Kniffe gebrauchtest, daß du noch deine eignen Vorsichtsmaßregeln anwendetest.«

»Ich! Ich!«

»Jawohl! Du hast es mir sogar einmal zu verstehen gegeben. Du mißtrautest mir und hattest dich für den Fall einer plötzlichen Torheit meinerseits vorgesehen ... Kurz, ich weiß, was Frauen hierin zu leisten imstande sind, ich bin nicht von gestern.«

Sie hatte sich aufgerichtet, sie suchte nach einem Worte, womit sie ihn zerschmettern könnte. Aber ihr Herz krampfte sich zusammen, sie mußte sich sagen, daß er diesmal die Wahrheit sprach, sie erinnerte sich, wie sie, ohne es ihm zu sagen, in einem Übermaß von Vorsicht jeder möglichen Schwangerschaft den Weg versperrt hatte, auf den Rat einer Freundin hin, deren Mann für zahlreiche Kinder schwärmte und die deren keine wollte. Diese Erinnerung überwältigte sie nun, erfüllte sie mit schneidender, wahnsinniger Reue, wenn sie denken mußte, daß sie damals vielleicht hätte ein zweites Kind haben können; und sie hatte es getötet, und nun war sie dafür gestraft, allein auf der Welt, zerrissenen Herzens, ihre Mutterschaft zertreten und vernichtet! Zu stolz, um sich zu einem Zugeständnis herbeizulassen, fing sie an zu zittern, zu stammeln.

»Du machst mich wahnsinnig! Sie sehen, Doktor, daß unser Haus nun eine Hölle ist. Entschuldigen Sie mich, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!«

Sie eilte hinaus, sie schlug die Tür hinter sich zu, und man hörte, wie sie sich in ihr Zimmer einschloß, zweimal den Schlüssel umdrehend.

Nach einem Stillschweigen näherte sich Beauchêne, der im Zimmer auf und ab gegangen war, dem Arzt, und sagte, die Achsel zuckend:

»Sie sind alle gleich, das konnte nicht anders enden. Ich hatte unrecht, da zu bleiben, ich hätte fortgehen und bei der Konsultation nicht anwesend sein sollen ... Sie müssen nun schon wiederkommen, mein lieber Doktor. Sie werden mit ihr allein sein, das wird besser sein.« Dann fügte er in seinem selbstzufriedenen Lebemannstone, den er bereits wiedergefunden hatte, hinzu:

»Sie ist überzeugt, daß ich der Schuldtragende bin, und sie hat Sie hauptsächlich rufen lassen, damit Sie ihr recht geben. Ich trage ihr nichts nach, und ich bitte Sie sogar, ihr zuzustimmen, wenn sie das beruhigen und den Frieden im Hause ein wenig wiederherstellen kann. Aber unter uns, und Sie wissen es besser als ich, sie ist die Kranke.«

Das war in der Tat Boutans Ansicht. Er erkannte den Fall vollständig, er sah deren unaufhörlich in seiner Praxis. Gleichwohl fragte er Beauchêne aus, obschon er der Geständnisse des unterschlagenden Gatten nicht bedurfte. Die Unterschlagungen blieben die zerstörenden Einflüsse, selbst wenn sie in den sittsamen bürgerlichen Alkoven einen gewissermaßen normalen Charakter annahmen. Durch ihre Häufigkeit, durch die Erschütterungen, denen sie den Organismus aussetzten, führen sie die schrecklichsten Zerstörungen und chronische Zusammenziehungen herbei. Der Arzt vermutete eine solche, besonders seitdem er Constance an einer lokalen Entzündung behandelt hatte. Und die Unfruchtbarkeit mußte die unheilbare Folge sein.

»Ich will mich nicht mehr darein mengen, lassen Sie sich von ihr einen andern Tag bestimmen,« wiederholte Beauchêne, als er ihn hinausgeleitete. »Und heilen Sie sie, das sollte nicht unmöglich sein, denn sie hat recht, wenn sie sagt, daß sie fast ganz unverbraucht ist, daß sie ihrerseits keine Exzesse begangen hat. Sie wissen es übrigens, und ich glaube nicht an Ihre Theorie, daß man immerfort Kinder haben muß, wenn man eines soll haben können, wenn man will. Wenn man nicht ein wenig krumme Wege geht, ist das Leben unmöglich.«

»Was würden Sie,« erwiderte der Doktor, »von einem Manne sagen, der einen Apfelbaum besäße, den er in jedem Frühjahr seiner Blüten beraubte, und der sich dann wunderte, daß keine Äpfel darauf wachsen? Sie haben den Baum mißhandelt, nun ist er unfruchtbar.«

Als Boutan am zweitnächsten Tage Constance untersuchte, fand er eine Diagnose bestätigt, obgleich er sie nur als höchst wahrscheinliche Hypothese aufstellen konnte, denn diese Lebensquellen sind so geheimnisvoll, daß man in ihnen nicht mit voller Sicherheit lesen kann. Er blieb sehr vorsichtig und zurückhaltend in seinem Ausspruche, denn er wollte sie nicht mit einem Schlage in vollkommene Verzweiflung stürzen. Einen Augenblick schien er sogar ihren Anklagen gegen ihren Mann beizustimmen, dessen Ausschweifungen und unsauberen Liebesabenteuer ihn wohl vor der Zeit geschwächt haben mochten. Auf alle Fälle aber sei sie doch gezwungen, ihre einzige Hoffnung auf diesen Mann zu setzen, der immerhin, trotz der Vergeudung seiner Kräfte, noch rüstig sei. Und er gestand schließlich bei ihr eine innere Störung zu, die er behandeln und auch zweifellos heilen würde. Es würde sicherlich lange dauern, sie müsse Geduld haben. Er selbst hoffte anfangs, sich getäuscht zu haben, nur eine Kongestion vor sich zu haben, deren er durch eine ausdauernde Behandlung Herr zu werden hoffte. Als er sich eines Tages das schwerwiegende Wort »Zusammenziehung« entschlüpfen ließ, geriet sie in heftige Bestürzung, und er mußte den Ausdruck widerrufen. Und Monate gingen hin, unter einer Behandlung, die er ihr zweimal wöchentlich angedeihen ließ, unter der peinlichen Befolgung einer Reihe von Vorschriften, unter bangem Harren, das immer wieder mit Enttäuschung endigte, immer heftigere Anfälle entsetzlicher Mutlosigkeit hervorrief. Der Augenblick mußte kommen, wo Constance kein Vertrauen mehr in diesen Arzt setzte, dessen Kunst sie nicht einmal Mutter machen konnte. Sie fand ihn zu sanft, zu vorsichtig in seiner Ordination, zu ängstlich in seinen Mitteln. Dann ahnte sie. daß er sie hinhielt, daß er sie mit immer wieder hinausgeschobenen Versprechungen einlullte, wählend er wohl von der Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen überzeugt war. Und sie entschloß sich, einen andern Versuch zu machen, sie begab sich in die Behandlung Madame Bourdieus, nachdem diese bei ihrem ersten Besuche nach der Untersuchung ausgerufen hatte, daß sie sich verpflichte, sie wieder herzustellen; der Fall Madame Angelins sei ein ganz andrer, dort liege eine durch Mißbrauch und zerstörende Verzögerung hervorgerufene Entartung vor. Dann begann eine neue Kur, neues Warten. Monate hindurch ging sie in die Rue Miromesnil und unterzog sich einer energischen, schmerzhaften Behandlung. Aber nach wie vor kam nichts, die so lange betrogene Natur weigerte sich, ihre Fruchtbarkeit wiederherzustellen, und wieder ergriff sie die Todesangst, daß ihre Mutterschaft tot sei, der fortwährende Wechsel zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit rieb sie auf. Dann verlor sie alle Besinnung, nahm ihre Zuflucht zu Quacksalbern, durchsuchte täglich die Zeitungen nach der Ankündigung irgendeines Mittels, nach der Adresse irgendeines zweideutigen Hauses, wo man aus den unfruchtbaren Frauen ein Gewerbe machte, so wie man in andern auf die fruchtbaren spekulierte. Eines Abends begab sie sich zu der Rouche, die ihrer Spezialität der Totgeborenen den Vertrieb eines unfehlbaren Mittels gegen die Kinderlosigkeit hinzugefügt hatte, die also dergestalt die Kinder unterdrückte oder verschaffte, wie es den Kunden beliebte. Die prüde Frau, die sich geweigert hatte, sich selbst ihrem Geburtshelfer zu zeigen, besuchte nun die Ordinationen von Charlatanen, ließ alle möglichen Ärzte zu sich kommen, hätte sich auf einem öffentlichen Platze entkleidet, wenn sie die feste Überzeugung gehabt hätte, daß ihr dadurch eine Schwangerschaft vom Himmel fallen werde. Sie stand vollständig unter der Herrschaft einer fixen Idee, und die Qual über die Ohnmacht ihres heißen Wollens, über die Nichtbefriedigung ihrer Sehnsucht war so furchtbar, daß ihr Mann sie manchmal für wahnsinnig hielt, wenn er sah, wie sie in die Polster biß, um nicht laut aufzuschreien. Und als sie alles versucht, alles erschöpft hatte, bis auf Badekuren und neuntägige Andachten, bis auf wundertätigen Muttergottesbildern geopferte Wachskerzen, wollte sie sich noch immer nicht ergeben, wartete noch immer starrsinnig auf ein Wunder, wehrte sich verzweifelt, schwor, daß sie das Schicksal gewaltsam zwingen werde.

Beauchêne war dies alles sehr unangenehm. Sie klagte ihn nicht mehr des Unvermögens an, sie bewachte ihn, schloß die Türen, wollte ihn ganz für sich allein, von dem Gedanken verfolgt, daß eine jede Untreue seinerseits ihr nun einen Teil ihrer Hoffnung rauben würde. Und sie tat dies ohne Zärtlichkeit, in harter, befehlender Weise, aus welcher immer dieselbe Verachtung, derselbe Abscheu vor ihm hervorsah. Sie nahm ihn, sie verlangte ihn gleich den ekelerregenden Mixturen, die zu nehmen sie sich herbeiließ, oft so von ihm abgestoßen, daß sie unendlich glücklich gewesen wäre, ihn zu seinen gewohnten Orgien davonzujagen. Sie bereitete ihm auch Folterqualen, indem sie von nichts anderm sprach, als von diesem so heißersehnten und erwarteten Kind, laut ihre Gedanken verfolgte, bis zum Überdruß wiederholte, was sie tat, was sie erhoffte. Und nach jeder Enttäuschung gab es tödlichen Zank, wurde er mit all den alten Vorwürfen überschüttet, wurden ihm seine unbekannten Bastarde ins Gesicht geschleudert; und vor allem konnte sie nicht über den bitteren Hohn des Gegensatzes hinweg zwischen seinen Manneserfolgen bei andern und der Erfolglosigkeit bei ihr. War es möglich, daß sie einander neutralisierten, daß sie nicht für einander geeignet waren? Vielleicht dachte sie einen Augenblick an einen Ehebruch, bloß um des Versuches willen, von dem Gedanken verfolgt, daß dies die einzige Möglichkeit wäre, sich zu überzeugen, ob die Unfruchtbarkeit wirklich auf ihrer Seite sei. Aber sie konnte sich dazu nicht entschließen, ihr ganzes Wesen empörte sich dagegen, ihr Temperament, ihre Erziehung. Und dieser letzte Zweifel, dieser Umstand, der auf immer dunkel bleiben sollte, vergiftete die Wunde ihrer Seele, brachte sie vollends dem Wahnsinn nahe.

Beinahe zwei Jahre lang kämpfte Constance in dieser Weise, als der Gedanke an einen entscheidenden Schritt, den sie unternehmen könnte, ihr neue Hoffnung einflößte. Sie hatte vertrauliche Mitteilungen von Sérafine erhalten, die sich ihrer Familie wieder genähert hatte, denn sie war nun so oft krank, so matt, so gealtert, daß sie gern in andern Häusern verweilte, nur um dem schrecklichen Alleinsein zu Hause zu entgehen. Als sie sie mit entsetzlicher Bitterkeit von den Operationen Gaudes, des berühmten Chirurgen, erzählen hörte, hatte sich Constance gesagt, daß ein Mann, der solche Wunder vollbringen könne, um die Kinder zu unterdrücken, auch imstande sein müsse, sie mit seinen Zauberhänden hervorzurufen. Das Wort Boutans von der Zusammenziehung tönte ihr noch immer in den Ohren, nagte noch immer an ihr, erweckte in ihr den Gedanken an irgendein Hindernis, einen verlegten Weg. Das wäre ja aber ein chirurgisches Leiden, warum sich da nicht an Gaude wenden? Sie wollte ihren Arzt gar nicht vorher befragen, sie wollte direkt zu Gaude gehen, damit jener sie nicht vielleicht entmutige, indem er den Nutzen eines solches Schrittes in Frage zog. Als sie jedoch Sérafine bat, sie zu dem furchtbaren Operateur zu begleiten, weigerte sich diese heftig, erklärte, daß sie ihn nicht sehen könnte, ohne ihm etwas von seiner abscheulichen Haut herunterzureißen, diesem Frauenzerstörer und Freudentöter. Und Constance schien den Plan aufzugeben, befeuerte sich aber im stillen daran, wartete die Stunde des Mutes ab, um allein, in tiefster Heimlichkeit, den Weg zu unternehmen.

Eines Tages, als Sérafine eben von den Beauchêne kam, traf sie mit Mathieu zusammen und bewog ihn, sie nach Hause zu begleiten, so sehr flößte sie ihm Mitleid ein. Es war das Bedürfnis, das sie ihm schon so oft gestanden hatte, das alte Bedürfnis, ihn zum Vertrauten zu machen, ihr Herz zu erleichtern, indem sie ihm ihr namenloses Unglück zeigte, wovon sie zu niemand sonst sprechen konnte. Er, der einstige Geliebte, der Freund seit zwanzig Jahren, würde ihr teilnahmsvoll zuhören.

»Ach, lieber Freund, ich lebe nicht mehr! Verzeihen Sie, wenn Sie hier alles in Unordnung finden,« sagte sie, indem sie ihn in ihre Erdgeschoßwohnung in der Rue de Marignan führte, die einst so heimlich, so wollüstig eingerichtet gewesen.

Er war betroffen, als er eintrat. Zweifellos empfing sie hier nicht mehr die geheimnisvollen Besuche, auf welche die Wohnung berechnet gewesen zu sein schien. Die lustlosen Räume mit ihren schweren Vorhängen, ihren dicken Teppichen waren dem Staub und der Kälte anheimgefallen, schienen wie tot. Und besonders erkannte er kaum den kleinen Lieblingssalon, ohne sichtbare Fenster, lautlos wie ein Grab, in welchem er damals mitten am Tage bei gedämpften Schein der Kerzen in den zwei Kandelabern war empfangen worden. Er hatte seinen sinnverwirrenden Duft mit sich genommen, er erinnerte sich des Anfalls von toller Begierde, die ihn beinahe wieder hierher zurückgeführt hätte. Und dieser Salon war nicht mehr derselbe, ein Fenster ohne Vorhang erhellte ihn mit bleichem Licht, er schien erkaltet, abgenutzt, befand sich in einer abstoßenden Unordnung.

»Ach, lieber Freund,« wiederholte Sérafine, »setzen Sie sich, wie Sie können. Ich habe kein Heim mehr, ich komme hierher nur, um mich in Klagen und Wut zu verzehren.«

Sie zog ihre Handschuhe aus, legte Hut und Schleier ab. Er sah sie, wie sie ihm bereits bei ihren gelegentlichen Begegnungen erschienen war, aber ein wahres Entsetzen faßte ihn, als er sie nun näher betrachtete und sah, welch furchtbarer Verwüstung sie anheimgefallen war. Er rief sich in Erinnerung, wie sie vor wenigen Jahren noch ausgesehen hatte, als sie fünfundreißig Jahre alt war, die dreiste Schönheit ihres Gesichtes, ihre hohe, gebietende Gestalt, ihr flammendes Haar, ihre herausfordernde Brust und Schultern, ihre weiße, runzellose Haut. Welch furchtbarer Gifthauch war über sie hingefahren, daß sie plötzlich so gealtert war, einem Gespenste gleich geworden, als ob der Tod sie schon erfaßt hätte, und er da vor sich das fleischlose Skelett der triumphierenden Frau sähe, die er einst gekannt hatte? Sie war hundert Jahre alt.

»Ja, Sie sehen mich noch immer an. Sie können es nicht glauben. Es geht mir auch so; wenn ich mich in einem Spiegel sehe, habe ich Furcht. Ich habe auch, wie Sie sehen, alle Spiegel verhängt, so sehr zittre ich davor, meinem Gespenst zu begegnen.«

Er hatte sich auf ein niedriges Sofa gesetzt, und sie setzte sich nun an seine Seite und nahm seine Hände zwischen ihre abgemagerten Finger.

»Wie, Sie fürchten nun nicht mehr, daß ich Sie vergewaltige? Ich bin nun eine alte Frau und kann Ihnen alles sagen ... Meine Geschichte kennen Sie ja. Es ist wahr, ich war nicht dazu geschaffen, Gattin oder Mutter zu sein. Ich habe zwei Fehlgeburten gehabt und habe sie nie bedauert. Und mein Mann, den habe ich ebensowenig beweint, das war ein gefährlicher Toller. Sodann als Witwe war ich frei, nach meinem Gefallen zu leben, nicht wahr? Man kann mir keinen Skandal vorwerfen, ich habe meine Stellung in der Gesellschaft bewahrt, ich habe getan, was ich wollte, aber nur hinter verschlossenen Türen. Nur der Liebe, der Schönheit, der Wollust zu leben – das war mein Verlangen, das ich mit aller Kraft, mit heißem Wunsch zu erfüllen strebte. Und auch das muß ich Ihnen eingestehen, ich habe Ihnen die Unwahrheit gesagt, als ich Ihnen erzählte, daß ich krank sei, um die Operation gerechtfertigt erscheinen zu lassen, zu der ich mich angeblich schweren Herzens entschloß. Im übrigen dürften Sie nicht getäuscht worden sein, es war zu offenkundig ... Ja, ich gestehe es! Ich habe der tollen Begierde nachgegeben, Herrin meiner Freuden zu sein, sie zu genießen, wie ich wollte, soviel ich wollte, ohne unaufhörlich von der unsinnigen Furcht vor dem Kinde eingeengt und eingeschüchtert zu werden. Und ich habe mich operieren lassen, um mich neben, über die Natur zu stellen, um meinen Körper zu dem einer Göttin zu machen, die außerhalb des Gesetzes steht. Ich habe nur der Sucht gelebt, bis an die letzten Grenzen menschlichen Genusses zu gelangen, alle Umarmungen auszukosten, ungestraft ... Ich gestehe! Ich gestehe! Und wenn ich auch zehnmal zerschmettert bin, ich würde es morgen wieder tun, wenn ich wieder vor der Wahl stünde, ich würde dem Verlangen nicht widerstehen können, wieder die Unendlichkeit der Lust zu erschöpfen.«

Sie hatte es hinausgeschrien, halb emporgerissen, in einer Art wilder Verzückung. Dann fuhr sie fort, erzählte von ihrem Triumphgefühl nach der Operation, als sie zuerst unter der Reizung des Eingriffes ihre Begierde sich steigern gefühlt hatte. Die Natur war besiegt, die Wollust war verzehnfacht, und sie konnte nun alle Geliebten gefahrlos empfangen. Dann hatte der allmähliche Verfall begonnen, die Anzeichen einer vorzeitigen Greisenhaftigkeit traten eins nach dem andern hervor. Sie war kein Weib mehr, es schien, als habe das amputierte Geschlecht alles mit sich genommen, was ihren Reiz und ihren Stolz gebildet hatte. Da sie weder Gattin noch Mutter sein konnte, wozu die sieghafte Schönheit der Gattinnen und Mütter? Die Haare fielen ihr aus, ihre Zähne wurden gelb und locker. Dazu kam eine zunehmende Schwäche der Augen, und ein fast unaufhörliches Summen in den Ohren machte sie rasend. Aber was sie am meisten entsetzte, das war diese Abmagerung, die sie austrocknete, zum Skelett machte, ihre Haut zusammenrunzelte, sie gelb, hart und spröde wie Pergament werden ließ.

Und in ihrer rasenden Verzweiflung rief sie: »Oh, Sie sehen noch nicht alles, mein Freund; da, sehen Sie her!« Mit ihren beiden Händen riß sie ihr Kleid auf. Ihre Brust und ihre Schultern kamen zum Vorschein, die ganze Verwüstung ihrer Schönheit, der ganze schreckliche Verfall ihres Körpers, der einst so warm, so blühend, so duftend gewesen und nun ausgemergelt, verdorrt war, gleich einer abgefallenen Frucht, die verdirbt. Es war der Ruin ihrer lüsternen Nacktheit, die Vernichtung der Liebe für immer. Und ihre Hände zitterten vor zornerfüllter Scham, als sie sich furchtsam wieder bedeckte, um diese vorzeitige Alterung zu verbergen, gleich einem häßlichen Geschwür, das an ihr fraß.

»Nun sagen Sie, lieber Freund, was ich tun soll? Selbst meine Hände scheinen nicht mehr mir zu gehören, ich weiß nicht, womit ich sie beschäftigen soll. Ich habe nur ein Verlangen: immer zu schlafen, traumlos zu schlafen. Aber sowie ich in Schlummer verfalle, habe ich schreckliche Träume. Ich verbringe meine Nächte wie meine Tage, indem ich mich von Stuhl zu Stuhl schleppe und mich in einer unaufhörlichen Wut verzehre, die mir das Leben vollends unerträglich macht... Aber alles das ist noch nichts. Das Alter, die Zerstörung meines Körpers würde ich noch hinnehmen. Wenn dieser Gaude nichts andres getan hätte als die Runzeln, das unvermeidliche Welkwerden beschleunigt, so könnte ich es ihm noch verzeihen, indem ich mir sagte, daß man für alles bezahlen muß. Aber was mich rasend macht, das ist, daß er das Gefühl, die Lust in mir getötet hat, das einzige, wofür ich lebte. Und das, mein Freund, ist das Verbrechen, das ist die fürchterlichste der Qualen.«

Sie war aufgestanden und schritt auf und ab, immer rückhaltloser alles heraussagend, so von Seelenleiden gefoltert, daß das Abscheuliche ihrer Geständnisse sich zu einer Art wilden Größe erhob. Sie gab gemeine Einzelheiten, als ob sie nicht zu einem Manne spräche, und er erbebte vor mitleidigem Entsetzen, ohne verletzt zu sein, so sehr zeigte sich in dem wütenden Aufschrei ihrer Ohnmacht das menschliche Elend. Oh, wie sie sie beneidete, die andern Operierten, die, welche, indem sie alles verloren, auch die Begierde verloren hatten, wie jene Euphrasie Moineaud zum Beispiel, die zum Nichts geworden, deren Körper erkaltet war! Sie waren nur noch unbeseelte Dinge, sie konnten leben, wie diese kleine Cécile, diese Jungfrau, die nie etwas gewußt hatte und nie etwas wissen würde. Aber sie Unselige verzehrte sich um das erstorbene Gefühl, sie, in der die überreizte, ungesättigte Begierde noch immer brannte und die sie nun nicht mehr befriedigen konnte. Gab es eine Vorstellung für diese teuflische Folter, nur noch das Nichts zu umarmen, den Genuß leer zu trinken, ihn nie mehr zu erlangen, wie angestrengt, wie rasend man ihn auch verfolge! Erschöpfung, Nervenanfälle, die sie gebrochen ließen, ja – aber Genuß, keinen, keinen mehr! Und gerade nur ihr Verlangen nach unendlichem, nach freiem, straflosem Genuß hatte sie zu dieser unsinnigen Operation getrieben, die nun den Genuß getötet hatte! Die ungeheure Ironie, die darin lag, diese rächende Vergeltung der betrogenen Natur, der Gedanke, daß sie die Wollust gemordet hatte, indem sie sich ihre Weiblichkeit nehmen ließ, versetzten sie in rasende Wut. Sie, großer Gott! Sie, die vorzeitig Sinnliche, die sich mit fünfzehn Jahren hingegeben hatte! Sie, deren Heirat nichts als eine Ausschweifung gewesen! Sie, deren Zügellosigkeit als Witwe so viele Liebhaber verbraucht hatte, bis zu Vorübergehenden auf der Straße! Sie, die unersättliche Genußsüchtige, ohne Gewissen und ohne Scham, mußte so enden, in dem vollkommenen Versagen der Lust! In dem Sturm, der sie ausgedörrt hatte, schien sie eine mächtige Stimme zu hören: »Kein Kind mehr, aber auch keine Sinneslust mehr!« Und sie beweinte diese verlorene Freude, eine ewig Hungrige, eine verschmachtende Herumirrende, hier in diesem nun verstaubten und durchkälteten Salon, in dessen warmem Düster, in dessen berauschenden Düften sie ehemals so viele wollusttrunkene Stunden genossen hatte.

Sie blieb vor Mathieu stehen. »Oh, ich werde noch wahnsinnig darüber!... Man sagt, wir seien schon mehr als zwanzigtausend Kastrierte in Paris. Das müßte eine hübsche Gesellschaft geben. Ich möchte sie alle kennen, ich möchte sie zu Gaude führen; das gäbe eine interessante Konversation, wie?«

Sie ließ sich wieder auf das Sofa an seiner Seite nieder. »Oh, dieser Gaude! Habe ich Ihnen gesagt, daß Constance mich gebeten hat, sie zu ihm zu führen, in der Hoffnung, daß er ihr zu einem Kinde verhelfen werde? Diese arme Constance, ich glaube, sie ist ebenso zerrüttet wie ich, so wütend verbeißt sie sich in das Verlangen, einen Ersatz für ihren Maurice zu bekommen. Sie hat mich zu ihrer Vertrauten gemacht, sie erzählt mir unglaubliche Dinge, nie habe ich, selbst in meinen tollsten Stunden, Paris sinnloser durchlaufen. Diese Begierde, Mutter zu werden, muß wirklich ebenso heftig, ebenso zerstörend sein als die andre, die große Begierde, die meinige! Und doch, ich leide doch noch mehr. Freilich, sie kämpft mit Verzweiflung, sie versucht alles. Aber wenn ich Ihnen erzählte, zu welch entsetzlichen Mitteln ich gegriffen habe auf der Suche nach dem verlorenen Genuß! Ich habe das Gemeinste versucht, ich bin bis zu den abscheulichsten Umarmungen hinabgestiegen. Und nichts, und immer nichts, die Kälte des Todes, selbst unter der Brutalität!... Ein Kind, sie will ein Kind! Das läßt sich ersetzen, man kann sich einen kleinen Hund halten! Aber dieses gebieterische Verlangen nach dem Genuß! Kann man leben ohne Nahrung? Kann man leben ohne die Glut des Genusses? Ja, ich bin die Gefolterte, die Gekreuzigte, es gibt keine Qual neben der meinigen!«

Schluchzen erstickte ihre Stimme. Mathieu hatte ihre Hände erfaßt, um sie zu beruhigen, tief erschüttert von diesem Aufschrei der Verzweiflung, wie er ihn nie schmerzvoller, nie so aus tiefstem Herzen heraus gehört hatte. Und er stand erbebend vor diesem verzerrten Antlitz der Begierde, die unfruchtbar sein will und die daran stirbt.

Sie sprachen noch miteinander, als Sérafine durch einen unerwarteten Besuch in höchstes Erstaunen versetzt wurde. Es war Constance, die endlich ihren Entschluß ausgeführt hatte, zu Gaude zu gehen, und die eben von ihm kam. Nie noch war sie um diese Stunde hierhergekommen. Aber ins Herz getroffen durch das, was der Arzt ihr gesagt hatte, halb von Sinnen, hatte sie sich, auf die Straße getreten, so einsam gefühlt, hatte ein solches Bedürfnis empfunden zu sprechen, sich mitzuteilen, daß sie hierhergelaufen war, ihrer selbst unbewußt, nur von ihrer Leidenschaft beherrscht.

Kaum in die Tür getreten, fing sie fieberhaft zu sprechen an, ohne sich über die Anwesenheit Mathieus zu wundern, oder sich darum zu kümmern. »Ach, meine Liebe, ich fürchtete schon, Sie nicht zu treffen! Wissen Sie, was er mir gesagt hat, Ihr Doktor Gaude? ›Madame, ich liefere die Kinder nicht auf Bestellung.‹ Und er lachte, und er war stark, und er war schön... Ah, der Abscheuliche!«

»Ich habe es Ihnen vorausgesagt.« erwiderte Sérafine. »Er hat sich über Sie lustig gemacht, ich habe das erwartet. Das Kind auf Bestellung, freilich nicht, da er sie abbestellt!«

Constance, deren Beine versagten, hatte sich aufs Sofa gesetzt, auf den Platz, den ihre Schwägerin verlassen hatte. Dann gab sie alle Einzelheiten ihres Besuches bei Gaude, erzählte, wie sie es dennoch durchgesetzt habe, daß er sie untersuche. Und ihre Verzweiflung kam von der ruhigen Gefühllosigkeit, mit der er ihr gesagt hatte, daß sie nie mehr ein Kind haben werde. Sein Verdammungsurteil war bedingungslos, sie konnte nur noch sich von Charlatanen ausbeuten lassen, die sie mit Lügen hinhalten würden. Für ihn war die Zusammenziehung als Folge von wiederholten und schließlich chronisch gewordenen Entzündungen außer allem Zweifel. Und damit war er fertig, und er hatte eine Art belustigten Erstaunens über den Schmerz gezeigt, in den er sie stürzte, wobei er ihr auch zu verstehen gab, daß eine verspätete Schwangerschaft in ihrem Alter eine Katastrophe bedeute. So viele andre unter seinen Patientinnen wären so glücklich über die frohe Botschaft gewesen! Zu Hunderten hatte er sie kastriert, und er fuhr fort, sie zu Hunderten zu kastrieren, unbekümmert seinen lauten Frohmut bewahrend, der schöne Operateur; der, wie er oft sagte, überzeugt war, daß seine lieben kleinen Messer an dem Reichtum und der Freude der Welt arbeiteten.

»Erlügt, er lügt!« schrie Sérafine wütend. »Er ist ein Mörder, und er hat meine Freuden gemordet!«

»Als ich von ihm fortging,« schloß Constance, »glaubte ich, daß ich die Treppen hinunterfallen werde... Gleichviel! Er hat recht gehabt, brutal zu sein. Jetzt weiß ich wenigstens, daß es aus ist, ganz aus, für immer!«

Und auch sie brach in Schluchzen aus. Lange beweinte Constance ihre Mutterschaft, auf demselben Platze, auf dem Sérafine ihre Freuden beweint hatte, während Mathieu sie nun eine in den Armen der andern sah, die Sittenstrenge und die Sittenlose, die Mutter und die Hetäre, zueinander gedrängt, miteinander verbunden, in derselben Verzweiflung über ihr Unvermögen.

Als Constance ihre Schwägerin verließ, bat sie Mathieu, sie nach Hause zu begleiten. Sie hatte ihren Wagen weggeschickt, sie wollte zu Fuße gehen, um sich ein wenig zu fassen. Und Mathieu sah bald, zu welchem geheimen Zwecke sie diese Gelegenheit ergriffen hatte, um ihn mit sich zu führen.

»Mein lieber Cousin,« sagte sie plötzlich, als sie langsamen Ganges auf den menschenleeren Kais angelangt waren, »verzeihen Sie. wenn ich wieder auf einen peinlichen Gegenstand zurückkomme, aber ich leide zu sehr, dieser letzte Schlag gibt mir den Rest... Das Kind meines Mannes, das Kind, welches er mit jenem Mädchen gehabt hat, verfolgt mich, foltert meinen Verstand und mein Herz. Wollen Sie mir einen großen Dienst erweisen? Stellen Sie die Nachforschungen an, deren Sie mir erwähnt haben, suchen Sie zu erfahren, ob es lebt oder tot ist. Ich glaube, ich werde wieder Frieden haben, wenn ich das weiß.«

Überrascht, war Mathieu auf dem Punkte, ihr zu sagen, daß dieses wiedergefundene Kind ihr nicht das Kind geben würde, welches nicht haben zu können sie so in Verzweiflung stürzte. Er hatte wohl gefühlt, welch schneidenden Schmerz es ihr bereitete, zu sehen, daß Blaise in der Fabrik den Platz Maurices einnahm, besonders seit Beauchêne, zu seinen Orgien zurückkehrend, die Last der Führung auf ihn abwälzte, ihm täglich größere Machtvollkommenheit überließ. Die junge Ehe gedieh, Charlotte hatte wieder ein Kind bekommen, diesmal einen Knaben, – und welche Drohung dereinstiger Besitzergreifung bildete dieser neue, Früchte treibende Stamm, jetzt, da sie, für immer unfruchtbar, nie mehr den rechtmäßigen Erben, den so vergötterten Kronprinzen haben würde, der den fremden Eindringlingen den Weg versperren könnte! – Ohne das seltsame Gefühl ergründen zu wollen, unter dessen Herrschaft sie handelte, dachte er, daß sie ihn vielleicht nur auf die Probe stellen wolle, um zu sehen, ob er nicht mit seinem Sohne Blaise gemeinsame Sache mache, um den Plan der Plünderung durchzuführen. Vielleicht würde er ängstlich werden, sich weigern, irgendwelche Nachforschungen anzustellen. Das brachte ihn zum Entschluß, denn er glaubte fest an den Sieg der Lebenskräfte, ohne daß es berechnender eigennütziger Winkelzüge bedürfte.

»Ich stehe Ihnen zur Verfügung, liebe Cousine. Es genügt mir, daß Sie sich hiervon einige Erleichterung versprechen. Und wenn das Kind lebt, soll ich es Ihnen zuführen?«

»O nein, o nein, das will ich nicht!«

Und mit erstickter Stimme, mit irrer Gebärde fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht, was ich will, ich leide Todesqualen!«

Sie log nicht, sie hatte keinen bestimmten Plan gefaßt in dem Sturm, der in ihr tobte. Dachte sie an diesen möglichen Erben? Würde sie in ihrem Haß gegen den erobernden Fremdling je soweit gehen, ihn aufzunehmen, trotz der Schmach, trotz der Empörung ihres Frauengefühles, ihres wohlanständigen Abscheus gegen die Bastardschaft, die aus niedriger Ausschweifung hervorgegangen war? Gleichwohl, wenn er nicht von ihr war, so war er doch vom Blut ihres Mannes. Und vielleicht hob sie der Gedanke an das zu rettende Reich, an die dem Erben zufallen sollende Fabrik bereits über ihre Vorurteile und ihren Widerwillen hinaus. Aber alles dies wogte noch unklar in ihr durcheinander, ihr ganzes Wesen war noch erfüllt von dem qualvollen Schmerz der Mutter, die kein Kind mehr hat, die nie mehr eines haben wird, und die dahin gelangt ist, das Kind der andern wiederfinden zu wollen, von dem tollen, unklaren Gedanken beherrscht, es ein wenig zu dem ihrigen zu machen. »Soll ich Beauchêne von meinen Nachforschungen unterrichten?« fragte Mathieu.

»Wie Sie wollen. Ja doch, es wird besser sein.«

An diesem Abend noch brach Constance schonungslos mit ihrem Gatten. Sie jagte ihn aus dem Ehebette, sie jagte ihn aus dem Schlafzimmer hinaus. Da sie sah, daß er verloren war, unfähig, die Fabrik ferner zu leiten, da sie nun von ihm kein Kind mehr zu erwarten hatte, konnte sie ihm endlich alle ihre Verachtung, all den Ekel ins Gesicht schleudern, den seine Umarmung ihr seit Jahren eingeflößt hatte. Der Gedanke, von diesem Manne nicht mehr berührt zu werden, war ihr ein so erlösender, daß sie eine Stunde rächenden Genusses hatte, als sie ihm ihren ganzen Abscheu ausdrücken konnte, ihm sagen konnte, wie widerlich er ihr stets mit dem ihm anhaftenden Duft seiner Ausschweifungen gewesen war. Und er wurde eingeschüchtert, er ging fort, um anderwärts zu schlafen, so groß und furchtbar erschien sie ihm mit ihrer kleinen mageren Gestalt, als sie ihm zurief, daß sie ihn nicht mehr zurückhalte, daß er in seinen Morast zurückkehren, dort bleiben, darin ersticken könne. – Die logischen Folgen entwickelten sich, die unvermeidliche Zersetzung nahm ihren Lauf. Zuerst die durch egoistischen Geldstolz notwendig werdenden Unterschlagungen, das geduldete, dem schlecht befriedigten Appetit des Mannes gestattete kleine Laster, dann der allmähliche Niedergang des intelligenten Kopfes, des Arbeiters, der dem Fluch des übermäßigen Genusses erlag, endlich, nach dem Tod des einzigen Sohnes, die Zerreißung der Ehe, die Mutter unfruchtbar geworden, der Vater von ihr hinausgejagt, dem vollständigen Verfalle zutreibend. Und das Leben ging weiter.


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