Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Buch

1

Mathieu erhob sich geräuschlos von seinem kleinen eisernen Klappbette an der Seite des großen Mahagonibettes, in welchem Marianne schlief. Er sah sie an und fand sie mit offenen Augen, lächelnd daliegen.

»Wie, du schläfst nicht mehr? Und ich habe mich nicht gerührt, aus Furcht, dich zu wecken! Weißt du, daß es nahe an neun Uhr ist?«

Es war in Paris, an einem Sonntag, um die Mitte des Januar. Marianne befand sich im achten Monate der Schwangerschaft. In Chantebled war in der ersten Dezemberhälfte abscheuliches Wetter eingetreten: eisige Regen, dann Schnee und grimmige Kälte, so daß Mathieu nach einigem Zögern das liebenswürdige Anerbieten der Beauchêne angenommen hatte, die ihm das alte bescheidene Häuschen in der Rue de la Fédération zur Verfügung stellten, welches der Gründer der Fabrik bewohnt hatte, ehe er das prächtige Wohnhaus am Quai erbaute. Vor kurzem war ein alter Werkmeister gestorben, dem das alte Häuschen, welches noch immer das einfache Mobiliar von damals enthielt, eingeräumt gewesen war. Und das junge Ehepaar hatte sich hier nun seit einem Monat eingerichtet, in der Erkenntnis, daß es ratsamer sein würde, die Entbindung in Paris abzuwarten und dann in den ersten schönen Apriltagen nach Chantebled zurückzukehren.

»Warte,« sagte Mathieu, »ich werde heller machen.«

Er zog eine Gardine auf, und das halbdunkle Zimmer erhellte sich unter dem Schein der gelben Wintersonne.

»Ah, die Sonne, die Sonne! Ein herrlicher Tag! Und ein Sonntag! Heute nachmittag werde ich also endlich dich und die Kinder ein wenig spazieren führen können.«

Sie rief ihn zu sich, nahm seine Hände, als er sich zu ihr an den Bettrand setzte, und sagte heiter:

»Seit zwanzig Minuten schlafe auch ich nicht, wollte mich nicht bewegen, um dich recht in den Sonntag hineinschlafen zu lassen. Sind wir nicht gut, alle zwei, daß wir mit offenen Augen unbeweglich daliegen, um den andern nicht zu stören?«

»Oh, ich war so glücklich in dem Gedanken, daß du dich ein wenig ausruhst! Am Sonntag habe ich jetzt nur eine Freude, hier mit dir beisammen zu sein, den ganzen Tag mit dir und den Kindern zu verbringen.«

Dann rief er, überrascht und selbstvorwurfsvoll:

»Aber, ich habe dich ja noch gar nicht geküßt!«

Sie hatte sich ein wenig auf dem Ellbogen aufgerichtet, und er drückte sie mit kräftiger Umarmung an sich. Aber sie ließ einen leichten Schmerzenslaut hören.

»Oh, mein Schatz, gib acht!«

Er erschöpfte sich in Ausdrücken zärtlicher Verzweiflung.

»Ich habe dir weh getan, ich habe dir weh getan! Was für ein Barbar bin ich, dich so rauh anzufassen! Oh, du mein geliebtes Weib, die mir heilig ist, die ich nur mit Liebkosungen berühren möchte, deren Leiden auf mich zu nehmen ich so glücklich wäre! Ich möchte Feenhände haben, deren Berührung du nicht einmal fühlen solltest, die deine Schmerzen in Freuden verwandeln sollten. Und ich tu' dir weh!«

Sie mußte ihn trösten. »Aber nein, Närrchen, du hast mir ja gar nicht weh getan. Ich hatte nur Angst. Du siehst ja, ich lache.«

Er sah sie an, und sie schien ihm von blühender, unvergleichlicher Schönheit. In dem breiten Sonnenstrahl, der das Bett vergoldete, strahlte sie selbst von Gesundheit, Kraft und Hoffnung. Nie hatte ihr schweres braunes Haar so reich ihren Nacken umgeben, nie hatten ihre großen Augen mit mehr Fröhlichkeit und Tapferkeit gelächelt. Und mit ihrem Gesichte von gesunder, fester Regelmäßigkeit, voll Güte und Liebe, war sie die Fruchtbarkeit selbst, die gute Fee mit blühendem, tadellosem Körper, von edler Hoheit umflossen.

Ein ehrfürchtiges Gefühl überkam ihn, er betete sie an, wie ein Gläubiger, der auf die Schwelle des Mysteriums tritt und seinen Gott gegenwärtig fühlt.

»Wie schön du bist, wie gut du bist, und wie ich dich liebe, teures Weib!«

Mit andächtiger Gebärde enthüllte er ihren Leib; er betrachtete ihn, so weiß, so fein, gerundet wie ein heiliger Dom, aus dem eine Welt hervorkommen sollte. Er beugte sich nieder und küßte ihn, ehrfürchtig, all seine Zärtlichkeit, all seinen Glauben, all seine Hoffnung in diesen Kuß legend. Er blieb so eine Weile, wie ein Betender, seinen Mund mit Sanftheit, mit zärtlichster Vorsicht aufdrückend.

»Tut es dir da weh. Geliebte? Da? Da? Ach, ich wollte, daß ich es wüßte und alles gut machen könnte!«

Dann fuhr er bleich und erbebend auf, denn er hatte einen kleinen Stoß gegen seine Lippen gefühlt. Sie lachte wieder, faßte ihn und zog seinen Kopf neben den ihrigen auf das Polster. Dann sagte sie ganz leise in sein Ohr:

»Du hast ihn gespürt, wie, und er hat dir angst gemacht, du Närrchen? Ja, er zappelt schon gehörig, er pocht an, um herauszukommen. Sag mir, was hat er dir gesagt?«

»Er hat mir gesagt, daß du mich liebst, wie ich dich liebe. Und daß alle Glücklichen der Welt nicht so glücklich sind wie ich.«

Sie blieben eine Weile in Umarmung, unter dem goldenen Glanz der Sonne, der sie umgab. Dann richtete er ihr die Polster zurecht, zog ihr die Decke hinauf, litt es unbedingt nicht, daß sie aufstehe, ehe er das Zimmer in Ordnung gebracht habe. Er nahm sein kleines Bett auseinander, faltete die Bettdecken, legte die Matratzen zusammen und versorgte alles in dem eisernen Käfig, den er sodann mit einer Decke umhüllte. Vergebens bat sie ihn, das alles zu lassen, da Zoë, das Dienstmädchen, das sie vom Lande mitgenommen hatten, das besorgen konnte. Er beharrte darauf, sagte, daß das Mädchen ihn irritiere, daß er viel lieber allein bleibe, um sie zu bedienen, um alles zu tun, was zu tun nötig sei. Er war es, der darauf bestanden hatte, in dem Eisenbett zu schlafen und ihr das große Bett allein zu überlassen, um sie nicht zu belästigen. Und jetzt beschäftigte er sich mit dem Aufräumen, verteidigte eifersüchtig die Tür des Zimmers, um die geliebte Frau für sich allein zu haben, glücklich, bis zu den niedrigsten Dienstleistungen herabzusteigen, sich nie genug tuend in dem Kultus, mit dem er sie umgab.

»Ich bitte dich, bleibe noch ein wenig im Bett, solange die Kinder noch nicht wach sind. Das wird dir wohl tun.«

Er fühlte einen Kälteschauer und bemerkte nun, daß es kalt im Zimmer war, machte sich Vorwürfe, daß er nicht sogleich daran gedacht habe, Feuer anzuzünden. Scheite und Kleinholz lagen in einer Ecke. »Wie dumm ich bin, ich lasse dich frieren, anstatt zu allererst einzuheizen.«

Er kniete vor dem Kamin nieder, während sie ausrief: »Was für ein Einfall jetzt wieder! Laß doch, rufe Zoë!«

»Nein, nein, sie kann nicht Feuer machen, und ich habe Freude daran.«

Er lachte triumphierend, als das Feuer hell aufflammte, das Zimmer mit neuer Behaglichkeit erfüllend. Jetzt sei das Zimmer ein wahres Paradies, sagte er. Aber er war mit dem Waschen und Ankleiden fertig, als die nahe dem Bette befindliche Wand des Nebengemaches von Faustschlägen erdröhnte.

»Ah, die Rangen!« sagte er heiter. »Jetzt sind sie auf. Bah, es ist heute Sonntag, lassen wir sie hereinkommen.«

Seit einigen Augenblicken drang aus dem Nebenzimmer ein Lärm wie von einem in Aufruhr befindlichen Vogelhause herein, ein Durcheinander hoher Stimmen, Gekicher, hie und da von einem lauten Gelächter unterbrochen. Dann hörte man dumpfe Püffe, offenbar von herumgeschleuderten Polstern und Federndecken, während zwei kleine Fäuste fortfuhren, die Scheidewand zu bearbeiten.

»Ja, ja,« sagte die Mutter unruhig, »antworte ihnen, laß sie hereinkommen, sie werden sonst alles zugrunde richten.«

Der Vater pochte nun seinerseits mit der Faust. Darauf erfolgte auf der andern Seite ein Ausbruch von Jubel, lautes Triumphgeschrei. Der Vater hatte kaum Zeit, die Tür zu öffnen, als man im Gang Fußgetrampel und ein Durcheinander heller Stimmen hörte. Es war die kleine Truppe, die im Sturmschritt herankam. Alle vier hatten sie lange weiße Hemden, die bis auf ihre nackten kleinen Füße herabreichten, sie liefen um die Wette und lachten und schrien, ihre braunen Haare flogen, ihre Augen leuchteten in den erhitzten Gesichtchen. Ambroise, obgleich der jüngere, kaum fünf Jahre alt, kam als erster, er war der unternehmendste, der keckste. Nach ihm kamen die Zwillinge, Blaise und Denis, stolz auf ihre sieben Jahre, schon etwas gesetzter, besonders der letztere, der den andern lesen lehrte, während Blaise, schüchtern und ein wenig feige, der Träumer der Schar war. Und zwischen sich führten sie, jeder bei einer Hand, die kleine Rose, einem kleinen Engel gleich die im Vorwärtsstürmen dahin und dorthin gezerrt wurde, die sich aber mit ihren zwei Jahren und zwei Monaten tapfer aufrecht hielt.

»Weißt du, Mama,« schrie Ambroise sogleich, »mir ist nicht sehr warm. Mach mir ein bißchen Platz«

Mit einem Satz war er im Bett, schlüpfte unter die Decke und drängte sich dicht an die Mutter, so daß nichts von ihm sichtbar war als das von braunen Ringeln umgebene lachende Gesicht. Bei diesem Anblick stießen die beiden älteren ein Kriegsgeheul aus, erstürmten und besetzten ihrerseits den eroberten Platz.

»Mach ein bißchen Platz, mach ein bißchen Platz! Hier, Mama! Da, Mama!«

Und unten blieb nur Rose, empört, außer sich. Vergebens hatte sie zu folgen versucht, sie war zurückgerutscht und hatte sich auf den Boden gesetzt.

»Ich auch, Mama! Ich auch, Mama!«

Sie krallte sich mit ihren beiden Fäustchen in das Leintuch und zog mit aller Macht, bis man ihr hinaufhalf; die Mutter nahm sie in die Arme, und sie hatte nun den besten Platz. Zuerst hatte der Vater Angst bekommen, hatte gefürchtet, daß die wilde Erobererbande der Mutter Schaden zufügen würde. Aber sie beruhigte ihn, indem sie laut in das Lachen der Kinder einstimmte. Nein, nein, sie taten ihr gar nicht weh, sie brachten ihr nur beglückende Liebkosungen. Und er betrachtete nun mit Entzücken das liebenswürdige und reizende Bild dieser Mutter, mit Rose an ihrer Brust, Ambroise halb verborgen an ihrer Hüfte und Blaise und Denis hinter ihren Schultern. Es war ein förmliches Nest, rosige Schnäbelchen, die von allen Seiten hervorlugten, zerzauste feine Haare wie die Federn, während sie selbst, von milchiger Weiße und Frische, glorreich in ihrer Fruchtbarkeit triumphierte, vibrierend von dem Leben, das neuerlich in ihr sproßte, bereit, wieder einmal zu gebären.

»Ah, wie gut, wie warm!« sagte Ambroise, der sich sehr behaglich fühlte.

Denis, der Kluge, begann nun zu erklären, warum man so viel Lärm gemacht habe.

»Blaise hat gesagt, er sieht eine Spinne, und da hat er sich gefürchtet.«

Sein Bruder protestierte eifrig.

»Das ist nicht wahr! Ich habe eine Spinne gesehen. Da habe ich mein Polster nach ihr geworfen, um sie umzubringen.«

»Ich auch, ich auch!« stammelte Rose, ausgelassen lachend. »So, mein Polster, da, da!«

Alle lachten wieder bis zur Atemlosigkeit, fanden die Sache ungeheuer unterhaltend. Die Wahrheit war also offenbar, daß sie sich mit Polstern beworfen hatten, unter dem Vorwande, eine Spinne zu töten, welche Blaise allein gesehen haben wollte, was das Ding ein wenig zweifelhaft machte. Und das ganze Nest war so erfüllt von Gesundheit und Lebensfrische, die Mutter und die Kinder so blühend und rosig im Lichte der hellen Sonne, daß der Vater dem zärtlichen Drange nicht widerstehen konnte, sie alle zusammen in seine Arme zu schließen und sie zu küssen, wohin seine Lippen gerade gerieten, was einen neuen Ausbruch von Geschrei und Gelächter hervorrief.

»Heute ist's lustig, heute ist's lustig!«

»Nun muß ich aber doch wohl aufstehen,« sagte die Mutter, nachdem es ihr endlich gelungen war, sich ein wenig zu befreien. »Das Faulsein ist nicht so gut für mich. Und dann müssen die Kleinen da gewaschen und angekleidet werden.«

Die Toilette wurde vor dem großen flammenden Feuer gemacht. Es war nahe an zehn Uhr, als die Familie, mit mehr als einer Stunde Verspätung, in das Speisezimmer hinabging, wo im Kachelofen ein lustiges Feuer brannte, während die zum Frühstück bestimmte Milch auf dem Tische dampfte. Das Erdgeschoß des Hauses bestand aus einem Speisezimmer und einem Salon zur Rechten des Vorhauses, und aus einem Arbeitszimmer und der Küche zur Linken. Und das Speisezimmer, welches wie das Schlafzimmer auf die Rue de la Fédération ging, war erfüllt vom fröhlichen Licht der steigenden Sonne.

Die Kinder saßen schon auf ihren Plätzen, die Nasen in ihren Tassen, als die Klingel ertönte. Doktor Boutan trat ein. Dies verursachte einen neuen Ausbruch lärmender Fröhlichkeit bei den Kindern, denn das gute runde Gesicht des Doktors war ihnen lieb und vertraut. Er hatte ihnen allen in die Welt geholfen, und sie behandelten ihn als guten Kameraden, mit dem man sich Freiheiten erlauben durfte. Sie stießen auch gleich all ihre Sessel zurück, um sich auf ihn zu stürzen, als die Mutter sie abwehrte. »Wollt ihr wohl den Doktor in Ruhe lassen?«

Dann heiter: »Guten Morgen, Doktor. Dank für die schöne Sonne, denn sicherlich haben Sie sie bestellt, damit ich nachmittags spazieren gehen kann.«

»Natürlich habe ich das. Ich bin eben gekommen, um zu sehen, wie Ihnen das Rezept anschlägt.«

Er nahm mit fröhlicher Miene nahe am Tische Platz, und Mathieu, der ihm warm die Hand gedrückt hatte, erklärte ihm, daß sie in den Tag hinein geschlafen hätten.

»Vortrefflich, Ihre Frau soll sich nur ausruhen, sie soll sich aber auch so viel Bewegung wie möglich machen. Ich bemerke übrigens, daß es ihr nicht an Appetit fehlt. Wenn ich meine Patienten bei Tische finde, bin ich nicht mehr Arzt, sondern ein zu Besuch gekommener Freund.«

Marianne drohte ihm scherzhaft Mit dem Finger.

»Doktor, Sie machen mich gar zu stark, schreiben mir eine Gesundheit zu, die mich demütigt. Sie werden mich zwingen, Ihnen Leiden zu gestehen, von denen ich nichts sage, um niemand zu beunruhigen. So habe ich zum Beispiel diese Nacht einige schreckliche Stunden gehabt, reißende Schmerzen, als ob ich zerstückelt würde.«

»Ist das wahr?« fragte Mathieu, ganz bleich. »Du hast Schmerzen gehabt, während ich schlief?«

Der Doktor, ernst geworden, nickte mit dem Kopfe.

»Beklagen Sie sich nicht, Madame, Sie haben nur Ihren, ich will nicht sagen notwendigen, aber unvermeidlichen Teil von Leiden. Sie gehören zu meinen glücklichen, meinen starken, meinen tapferen Patientinnen, und ich habe wenig so schöne Schwangerschaften wie die Ihrigen. Nun, was wollen Sie? Ohne Leiden geht es nun einmal nicht ab.«

»Oh,« rief sie, »ich will gern leiden, ich necke Sie nur, das ist alles!«

Und leiser, wie zu sich selbst: »Leiden, das ist sogar gut. Würde ich so lieben, wenn ich nicht litte?«

Der Lärm, den die Kinder mit ihren Löffeln machten, übertönte diese Worte. Es trat eine Pause im Gespräch ein, und es war der Doktor, der infolge einer Ideenverbindung, die er nicht aussprach, wieder das Wort ergriff:

»Ich höre, daß Sie Donnerstag bei den Séguin zu Mittag essen. Ach, die arme kleine Frau! Sehen Sie, das ist eine, deren Schwangerschaft schrecklich ist!«

Mit einer Geste gab er das ganze Drama zu verstehen, die Verblüffung und Bestürzung, in welche diese unerwartete Schwangerschaft das Ehepaar versetzt hatte, die Verzweiflung der Frau, die eifersüchtigen Wutausbrüche des Mannes, ihr trotz alledem fortgesetztes Leben der eleganten Vergnügungen inmitten ihrer Zwistigkeiten, und der beklagenswerte Zustand, in dem die Frau nun auf einer Chaiselongue lag, während er, ohne sich um sie zu kümmern, sein Junggesellenleben wieder aufnahm.

»Ja,« erwiderte Marianne, »sie hat uns so dringend eingeladen, daß wir nicht haben abschlagen können. Ich glaube allerdings, es ist nur eine Einbildung, ein Verlangen, mit mir zu sprechen, um zu hören, wie ich es mache, um stark und beweglich zu sein.«

Ein plötzlicher Gedanke gab Boutan seine Heiterkeit wieder.

»Wissen Sie, daß Sie sich beide auf demselben Punkte befinden, sie erwartet das Ereignis wie Sie gegen den ersten März. Trachten Sie also, am Donnerstag sich zu verständigen; wählen Sie mir nicht etwa denselben Tag, denn ich kann nicht bei beiden zu gleicher Zeit sein.«

»Und unsre Cousine Constance?« fragte scherzend Mathieu, »ist sie nicht auch mit dabei, damit die Garnitur vollständig ist?«

»O nein, nein, die ist nicht dabei. Sie wissen, daß sie sich zugeschworen hat, nie mehr dabei zu sein, und die weiß sich so einzurichten, daß sie ihr Wort hält. Ich wünsche, daß es ihr wohlbekommt.«

Er hatte sich erhoben und wollte sich verabschieden, als der Ueberfall, der ihm gedroht hatte, ausgeführt wurde. Ohne daß jemand es merkte, hatten die Kinder ihre Plätze verlassen und sich zum Angriff bereitet, nachdem sie sich mit den Augen verständigt hatten. In einem Nu hatte der gute Doktor die beiden Aeltesten auf den Schultern, der Jüngere umklammerte seine Taille, während die Kleine an seinen Beinen hinaufzuklettern versuchte.

»Hopp, hopp, hü! Mach die Eisenbahn! Hü, hü!«

Sie zerrten ihn, sie stießen ihn unter unaufhörlichem Lachen, Zwitschern und Schreien. Die Eltern eilten ihm entrüstet und scheltend zu Hilfe. Aber er beruhigte sie.

»Lassen Sie sie, lassen Sie sie nur, sie sagen mir adieu, die lieben Kleinen. Da es nun einmal, wie unser Freund Beauchêne mir vorwirft, ein wenig auch meine Schuld ist, daß sie zur Welt gekommen sind, so muß ich sie auch wohl ein wenig aushalten. – Sehen Sie, was mir besonders an Ihren Kindern gefällt, das ist, daß sie gesund sind, wie die Mama, die sie geboren hat. Für jetzt verlangen Sie nicht mehr von ihnen.«

Nachdem er sie unter vielen Küssen wieder auf den Boden gesetzt hatte, nahm er beide Hände der Mutter und sagte ihr, daß alles vortrefflich gehe, daß er ruhig Abschied nehme, daß sie nur wie bisher fortfahren solle. Und als der Vater ihn bis ins Vorhaus begleitete, hörte man sie noch draußen scherzen und lachen.

Sogleich nach dem zweiten Frühstück sagte Mathieu, daß sie nun spazierengehen wollten, damit Marianne sich des hellen Sonnenscheins erfreue. Die Kinder waren angekleidet worden, ehe man sich zu Tisch setzte, und es war kaum ein Uhr vorüber, als die ganze Familie um die Ecke der Rue de la Fédération biegend, sich auf dem Quai befand.

Dieser zwischen dem Champ de Mars und den dichtbevölkerten Straßen des Zentrums gelegene Teil des Quartier de Grenelle besitzt einen eigentümlichen Charakter, hervorgerufen durch weite, kahle Ausblicke, durch lange, fast menschenleere, sich rechtwinklig schneidende Straßen, die von endlosen hohen grauen Fabrikmauern eingefaßt sind. Besonders während der Arbeitszeit begegnet man hier fast niemand, man sieht, wenn man den Blick erhebt, nichts als die hohen, dicke Rauchwolken ausstoßenden Schornsteine, welche die Dächer großer Gebäude mit staubigen Fensterscheiben überragen; und wenn irgendein weites Tor geöffnet ist, so blickt man in tiefe, von scharfen Dämpfen durchzogene Höfe, die mit Rollwagen angefüllt sind. Kein andres Geräusch ist hörbar als das scharfe Zischen der Dampfstrahlen, das dumpfe Dröhnen der Maschinen, das donnernde Getöse von Eisenwerk, welches auf das Pflaster geworfen wird. Aber am Sonntag stehen die Fabriken still, das ganze Viertel verfällt in Todesschlaf, und es bleibt nichts als an Sommertagen eine flammende Sonne, welche die Steine des Pflasters glühend macht, und an Wintertagen ein eisiger Wind, der den Schnee durch die Einsamkeit der Straßen fegt. Man sagt, daß die Bevölkerung von Grenelle die schlechteste in Paris sei, die armseligste, die lasterhafteste, der Aufenthalt zahlreicher zügelloser Fabrikmädchen, von Prostituierten niedrigster Sorte, welche die Nachbarschaft der Militärschule anzieht und die ein Gefolge gemeinsten Pöbels mitbringen. Und wie als Gegensatz steigt gegenüber, am andern Ufer der Seine, das lachende bürgerliche Viertel von Passy empor, die reichen aristokratischen Viertel der Invalides und des Faubourg Saint-Germain erstrecken sich seitwärts, von prächtigen Avenuen durchzogen; so daß die Beauchênesche Fabrik, wie ihr Eigentümer oft lachend sagte, »à cheval« stand, dem Elend den Rücken zukehrend, mit der Front gegen alle Schönheiten und Freuden dieser Welt gewendet.

Mathieu liebte die Avenuen, die, mit schönen Bäumen bepflanzt, vom Champ de Mars und der Esplanade des Invalides in breiten Straßenzügen voll Luft und Sonnenschein auslaufen. Es gibt in Paris keinen ruhigeren Winkel, wo man sich freier und angenehmer ergehen könnte, wo man von mehr traumhafter Stimmung und mehr Größe umgeben wäre. Aber vor allem liebte er den Kai, diesen Quai d'Orsay, so lang und so wechselnd, der an der Rue du Bac, mitten in der Stadt, beginnt, am Palais Bourbon, an der Esplanade, am Champ de Mars vorbeiführt, um erst am Boulevard de Grenelle, im düsteren Lande der Fabriken, zu endigen. Und welche majestätische Verbreiterung, welch herrliche hundertjährige Bäume an der Biegung der Seine, von der Tabakfabrik bis zu dem neuen Garten um den Eiffelturm! Der Fluß zieht in graziösem Bogen hin. Die Avenue erstreckt sich unter den schönsten Bäumen der Welt. Man wandelt hier wirklich in einem köstlichen Frieden, dem das große Paris all seine Macht und seinen Reiz beigemengt zu haben scheint.

Bis dahin wollte Mathieu seine liebe Patientin und sein kleines Volk führen. Aber es war eine gewagte Sache, es bedurfte des Muts, um sie zu unternehmen. Roses kleine Füßchen besonders erweckten unruhige Zweifel. Man vertraute die Kleine Ambroise an, der, obgleich der Jüngere, schon ein entschlossener kleiner Bursche war. Die beiden eröffneten den Zug. Dann kamen Blaise und Denis, die Zwillinge. Vater und Mutter machten den Beschluß. Das gab ein ganzes Pensionat auf dem Trottoir. Anfangs ging alles vortrefflich, man ging natürlich im Schneckenschritt. schlenderte gemächlich unter der hellen warmen Sonne. Der schöne Winternachmittag war von erquickender Klarheit, im Schatten sehr kalt, goldig und weich an den Stellen, die unter den breiten Strahlen des Tagesgestirns lagen. In den Straßen gab es daher auch viel Leute, das sonntägliche und müßige Paris, das der kleinste Sonnenstrahl in Mengen auf die Spazierwege lockt. So daß selbst Rose, munter, erregt, sich fest zusammennahm, um allen diesen Leuten zu zeigen, daß sie schon ein großes Mädchen sei. Man ging am Champ de Mars vorbei, ohne daß sie noch daran gedacht hätte, sich tragen zu lassen. Die drei Jungen setzten ihre Füße kräftig auf das gefrorene, hallende Pflaster. Es war ein prächtiger Spaziergang.

Am Arme Mathieus wankte indessen Marianne ein wenig. Sie trug ein grünes Tuchkleid, dessen weite Bluse ihre Taille verbarg. Aber da sie schon sehr stark war, so wußte sie wohl, daß man es sah, lächelte darüber mit sanfter Anmut, während sie langsam, wiegend, dahinschritt. Und sie war wirklich von rührendem Reiz, so schön, in lächelnder Würde, noch anziehender geworden durch diese Mattigkeit, diese Lässigkeit des Körpers, der durch seine Entstellung geheiligt war. Vorübergehende, von ihrer Schönheit frappiert, drehten sich um und folgten ihr mit den Augen. Die Anzahl derer vermehrte sich, denen sie auffiel, die sich mit den Ellbogen anstießen, um einander auf sie aufmerksam zu machen. Was die Lage verschlimmerte, das war das Pensionat vor ihr. Vier Kinder schon, eine ganze Schar, und das fünfte unterwegs! Das schien manchen komisch, reizte sie zum Lachen. Manche ärgerten sich sogar, ließen sich anmerken, daß ein solcher Leichtsinn, auf öffentlicher Straße ausgestellt, ein schlechtes Beispiel gebe. Hinter dem Ehepaar gab es dann Erstaunen, Heiterkeit, Mitleid. Die arme kleine Frau, so hübsch, so jung, und bald fünf Kinder! Der Mann sah gleichwohl nicht wie ein roher Mensch aus. Und Mathieu und Marianne begriffen recht wohl, fuhren fort, sich anzulächeln, voll tapferer Unbußfertigkeit, zeigten stolz, ohne sich zu schämen, im vollen Lichte des Tages ihre glückliche Fruchtbarkeit, in der ruhigen Ueberzeugung, daß sie die Kraft und die Gesundheit und die Schönheit waren.

Als man unter den mächtigen, winterkahlen Bäumen angelangt war, mußte man Rose für eine Weile auf eine Bank setzen, auf welche glücklicherweise die Sonne noch schien. Diese begann sich indes schon zu neigen, es wurde kalt, man mußte sich ein wenig beeilen, heimzukehren. Aber es war trotzdem sehr angenehm in der kalten Luft, die die Haut des Gesichts stach, unter dem klaren, blaßgelben Himmel, der sich allmählich rosig färbte. Die Knaben stampften kräftiger mit den Füßen, und die Kleine, die lebhaft angeregt war, weinte nicht. Es war drei Uhr, als die Eltern berauscht von der freien Luft, erquickt von dem Spaziergang, ihr kleines Pensionat um die Ecke der Rue de la Fédération steuerten. Auch hier blieben die Leute stehen und sahen ihnen nach, aber gute Leute offenbar, denn sie lachten die schönen Kinder an, nicht ohne heiter-verständnisvolle Blicke auf diesen Vater und diese Mutter zu werfen, die so eifrig am Werke waren.

Ein wenig ermattet heimgekehrt, streckte sich Marianne auf eine Chaiselongue im Salon, wo Zoë ein helles Feuer angemacht hatte, wie Mathieu es beim Fortgehen angeordnet hatte. Und die Kinder, für den Augenblick durch die Müdigkeit still gemacht, saßen um einen kleinen Tisch und hörten Denis zu, der ihnen eine Geschichte vorlas, als ein Besuch angekündigt wurde. Es war Constance, die, mit Maurice von einer Spazierfahrt heimkehrend, vorsprach, um sich nach dem Befinden Mariannens zu erkundigen. Die beiden Frauen sahen sich so kaum alle drei oder vier Tage einmal, obgleich nur ein Garten das Häuschen vom Wohnhause der Beauchêne trennte.

»Sind Sie leidend, liebe Freundin?« fragte sie beim Eintreten, als sie sie so halbliegend fand.

»O nein. Ich habe im Gegenteil eben einen zweistündigen Spaziergang gemacht und ruhe mich aus.«

Mathieu hatte der reichen und stolzen Cousine einen Fauteuil hingerollt, die sich übrigens bestrebte, durchaus liebenswürdig gegen sie zu sein. Nachdem sie Platz genommen hatte, entschuldigte sie sich, daß sie nicht häufiger kommen könne, da ihre Hausfrauenpflichten sie so stark in Anspruch nähmen; während Maurice, in schwarzem Samtanzug, sich dicht an sie drängte, ihr nicht von der Seite wich und von weitem auf die vier Kinder starrte, die ihrerseits wieder ihn ansahen.

»Nun, Maurice, sagst du deinen kleinen Cousins nicht guten Tag?«

Er mußte sich nun wohl entschließen, zu ihnen hinzugehen. Aber alle fünf blieben befangen. Sie verkehrten nur wenig miteinander, sie hatten sich noch nicht geprügelt, und die kleinen Wilden von Chantebled waren ein wenig bäuerisch gegen diesen kleinen Pariser von feinen Manieren. »Ihre Kleinen sind alle wohl?« fuhr Constance fort, indem sie mit ihren scharfen Augen ihren Sohn mit den andern verglich. »Ihr Ambroise ist gewachsen, und die beiden Aeltesten sind auch sehr stark.«

Zweifellos fiel ihre Prüfung nicht zugunsten Maurices aus, der, obgleich groß und stark aussehend, eine wachsbleiche Gesichtsfarbe hatte, denn sie lachte etwas gezwungen und fügte hinzu: »Aber um ihre kleine Rose beneide ich Sie. Ein kleiner Engel!«

Mathieu lachte und sagte mit einer Lebhaftigkeit, die er sofort bereute: »Oh, das ist ein Neid, der bald gestillt werden kann. Man bekommt diese Engel auf dem Markte, und nicht teuer.«

»Nicht teuer, nicht teuer,« gab sie ernst zurück, »das ist Ihre Ansicht, Sie wissen, daß es nicht die meinige ist. Ein jeder formt sein Glück oder sein Unglück nach seiner Art.«

Und ihr ironischer Blick voll Tadel und selbst Geringschätzung ergänzte ihre Worte. Sie ließ ihn über die vier Kinder hinschweifen, über diese Fülle rosigen, wuchernden Lebens, über diese schon wieder schwangere Frau, über diesen aufgeschwollenen Leib, dem abermals Leben entspringen sollte. Sie war davon verletzt, abgestoßen, geärgert, wie von einer Unanständigkeit, wie von einem Vergehen gegen alles, was sie hochhielt, das Ebenmaß, die Klugheit, die Ordnung. Als sie von dieser neuen Schwangerschaft hörte, hatte sie ihre Mißbilligung nicht verhehlt; sie entschloß sich wohl, fortan nichts mehr zu sagen, aber sie wollte auch nicht, daß man sie angreife, daß man sie mit ihrer gewollten Unfruchtbarkeit necke. Wenn sie keine Tochter hatte, so war es, weil sie keine haben wollte.

Um einer unangenehmen Wendung des Gespräches vorzubeugen, beeilte sich Marianne, die über das drollige Wort ihres Mannes lächeln mußte, ein andres Thema anzuschlagen, indem sie nach Beauchêne fragte. »Warum haben Sie Alexandre nicht mitgebracht? Es ist nun acht Tage, seitdem er zuletzt bei mir war.«

»Aber,« fiel Mathieu rasch ein, »ich habe dir ja gesagt, daß er gestern abend auf die Jagd gegangen ist. Er hat wahrscheinlich auf der andern Seite von Chantebled, in Puymoreau, übernachtet, um gleich beim Morgengrauen auf die Pirsche zu gehen, und er wird wohl nicht vor morgen zurückkehren.« »Ah, richtig, ich erinnere mich. Ein schöner Tag, um zu pirschen.«

Dies war wiederum ein gefährlicher Gesprächsgegenstand, und Marianne bereute es bereits, daß sie ihn aufgeworfen hatte, denn man wußte nie genau, wo Beauchêne sein mochte, wenn er angeblich auf der Jagd war. Der Vorwand einer morgendlichen Pirsche war sehr bequem, wenn er die Nacht auswärts verbringen wollte, und er hatte ihn nun schon so oft gebraucht, daß Constance sicherlich wissen mußte, was es damit für eine Bewandnis hatte. Aber vor diesem so innig zusammenhaltenden Ehepaar, vor dieser Frau, deren Gatte nicht mehr ausging, seitdem sie schwanger war, und sie immerfort mit seiner zarten Sorgfalt umgab, wollte sie tapfer sein, sich ganz ruhig stellen.

»Ich bin es, die ihn drängt, hinauszugehen, sich auszugeben. Er ist sehr vollblütig und bedarf viel frischer Luft, die Jagd ist sehr gut für ihn.«

In diesem Augenblicke ertönte abermals die Klingel und kündigte einen neuen Besuch an. Es war Valérie, die mit ihrer Tochter Reine eintrat. Sie errötete, als sie Madame Beauchêne sah, so tiefen Eindruck machte diese reiche Frau auf sie, die ihr als Muster vorschwebte, welches sie nachzuahmen sich bemühte. Aber Constance benutzte die Unterbrechung, die durch die Neuangekommenen verursacht wurde, um sich zu erheben und zu sagen, sie könne leider nicht länger bleiben. Eine Freundin erwarte sie wahrscheinlich zu Hause.

»Lassen Sie uns wenigstens Maurice hier,« bat Mathieu. »Reine ist nun auch da, sie werden alle sechs miteinander spielen, und ich bringe ihn Ihnen zurück, nachdem er bei uns gevespert hat.«

Maurice hatte sich wieder an seine Mutter gedrängt, und diese sagte: »O nein, o nein! Sie wissen, daß er eine Kur durchmacht, und ich lasse ihn nie außer dem Hause essen. Guten Tag, ich gehe nun. Ich wollte nur hören, wie es Ihnen geht. Auf Wiedersehen!«

Sie ging mit dem Knaben fort, nachdem sie Valérie mit einem vertraulichen und herablassenden Händedruck bedacht hatte, ohne eine Wort mit ihr zu wechseln, was diese außerordentlich vornehm fand. Reine hatte Maurice zugelächelt, den sie ein wenig kannte. Sie sah heute allerliebst aus, in einem blauen Tuchkleide, mit lachendem Gesicht unter ihren dicken schwarzen Haaren, und sah ihrer Mutter so ähnlich, daß sie wie ihre jüngere Schwester erschien.

Marianne rief sie entzückt zu sich. »Gib mir einen Kuß! Nein, was das für ein hübsches Mädchen ist! Wie groß und schön sie wird! Wie alt ist sie denn?«

»Bald dreizehn Jahre,« sagte Valérie.

Sie hatte sich auf dem eben von Constance verlassenen Sitz niedergelassen, und Mathieu bemerkte, daß ihre Augen einen sorgenvollen Ausdruck hatten. Nachdem sie gesagt hatte, daß auch sie gekommen sei, um sich nach dem Befinden Mariannens zu erkundigen, und nachdem sie mit freudigem Erstaunen das gute Aussehen der Kinder und der Mutter gepriesen hatte, schwieg sie, düster geworden, irgendeinem geheimen Kummer nachhängend, während sie Marianne zuhörte, die ihr dankte, glücklich darüber, daß alle diese Leute sich ihrer erinnerten. Mathieu dachte sodann, es werde der Besucherin vielleicht erwünscht sein, wenn er sie mit seiner Frau allein lasse.

»Liebe kleine Reine, kommen Sie doch mit den Kindern ins Speisezimmer. Wir wollen uns mit dem Vesperbrot befassen und den Tisch decken. Das wird lustig sein.«

Dieser Vorschlag entfesselte betäubenden Jubel. Das Buch war vergessen, der Tisch wurde beiseitegestoßen, und die drei Knaben entführten Reine in tollem Galopp, während Rose zuerst nach vorn auf ihre Hände fiel und ihnen dann schreiend und wie eine kleine Katze springend folgte.

Sobald sie allein mit Marianne war, seufzte Valérie.

»Ach, liebe Freundin, wie glücklich sind Sie, daß Sie so nach Ihrem Gefallen schöne Kinder haben können! Das ist ein Glück, das mir versagt ist.«

Die junge Frau sah sie erstaunt an. »Wie das? Es scheint mir doch, daß Ihnen das ganz freisteht, und daß mein Fall auch der Ihrige ist?«

»Oh, ganz und gar nicht, liebe Freundin! Sie haben einfache Bedürfnisse, Ihr Leben ist nicht so eingerichtet wie das meinige. Sie wissen, ein jeder stellt sein Leben auf eine gewisse Grundlage, wir haben alles für uns und für Reine zurechtgelegt, und es wäre eine Katastrophe, wenn wir das alles nun umstürzen müßten.«

Und mit einem plötzlichen Verzweiflungsausbruch: »Wenn ich schwanger wäre, wie Sie, wenn ich dessen gewiß wäre, oh, ich weiß nicht, was ich täte, ich würde verrückt werden!« Trotz aller Anstrengung, sich zu beherrschen, stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und sie bedeckte ihr Gesicht mit ihren zitternden Händen.

Mehr und mehr erstaunt, erhob sich Marianne, nahm zärtlich ihre Hände, sprach gute Worte zu ihr, um sie zu beruhigen. Und dann empfing sie endlich ihre Beichte, erfuhr, daß sie seit drei Monaten Ursache habe, sich schwanger zu glauben. Zuerst hatte sie sich damit zu beruhigen versucht, daß sie an eine mögliche Verspätung glaubte; aber seit diesem Monat waren ihre Zweifel zur Gewißheit geworden, und sie litt furchtbare Seelenqualen. Sie erzählte, in welche namenlose Bestürzung diese unerwartete Schwangerschaft sie und ihren Mann versetzt habe, denn sie waren ihrer Vorsicht so sicher gewesen! Er, der arme liebe Mann, der sie vergötterte, hätte sich eher die Hand abgeschnitten, als ihr in dieser Hinsicht zuwiderzuhandeln. Sie ihrerseits war stets auf der Hut und gebrauchte alle Vorsicht. Es war daher unfaßbar, niemals hätten sie geglaubt, daß so etwas einem Ehepaar geschehen könne, das sich so liebe wie sie, und in diesem Punkte so eines Sinnes sei.

»Da das Malheur nun einmal geschehen ist,« sagte Marianne tröstend, »nun, du lieber Gott, so müssen Sie sich eben darauf einrichten! Es wird trotz alledem willkommen sein, das arme Kleine!«

»Aber es ist unmöglich, unmöglich!« rief Valérie heftig, neuerlich von Zorn und Verzweiflung erfaßt. »Wir können doch nicht unser ganzes Leben lang so in der Mittelmäßigkeit bleiben! Ihr Mann hat Ihnen wohl erzählt, was der meinige ihm im Vertrauen mitgeteilt hat. Sie wissen also wahrscheinlich, daß infolge eines freundlichen Anerbietens Michauds, eines seiner ehemaligen Untergebenen, der heute eine große Stellung in der Nationalkreditbank innehat, mein Mann sich entschlossen hatte, die Fabrik zu verlassen, wo er keine Zukunft hat, und seinerseits in die Bank einzutreten, die ihm große Aussichten bieten würde. Nur müßte er sich vorerst mit einem kleinen Posten mit dreitausendsechshundert Franken Gehalt begnügen, an Stelle der fünftausend, die er in der Fabrik verdient. Und wie wollen Sie, daß wir nun dieses Wagnis auf uns nehmen, uns mit dreihundert Franken monatlich begnügen, angesichts einer bevorstehenden Schwangerschaft, einer Niederkunft, eines zweiten Kindes das wir zu nähren und aufzuziehen hätten? Alle unsre Berechnungen waren gemacht, dieses unglückliche Kind wirft sie über den Haufen, schleudert uns für immer ins Elend zurück!«

»Was für ein Gedankengang!« sagte Marianne mit ihrer lächelnden Ruhe.

»Aber er ist berechtigt, meine Liebe! Es bietet sich einmal eine Gelegenheit, und wenn man diese nicht benutzt, so ist es für immer vorbei. Wenn mein Mann die Fabrik nicht verläßt, im Augenblicke, da sich ihm anderwärts eine glänzende Zukunft bietet, so ist er auf Lebenszeit angenagelt, alle unsre Träume fallen ins Wasser, Reines Mitgift, ein glücklicheres Leben, alles, was wir je erhofft und ersehnt haben. Wie, Sie, eine so kluge Frau, Sie verstehen das nicht?«

»Ach ja, ich verstehe wohl! Aber sehen Sie, mir liegen derlei Berechnungen so fern, daß es mir schwer fällt, ihre Berechtigung zu fühlen. Sie setzen mich in Erstaunen und bereiten mir Schmerz. Die Kinder kommen, man muß sie wohl aufnehmen, und sie sind schließlich doch das Glück und der Reichtum. Es kann nichts Einfacheres geben.«

Valérie protestierte unter neuen Tränen.

»Sagen Sie doch das meinem armen Mann, der voll Scham und Verzweiflung über das ist, was er angestellt hat. Er kann den Gedanken gar nicht fassen! Sehen Sie, heute, Sonntag, wissen Sie, wo er ist? Er sitzt zu Hause und arbeitet, um einige Sous neben seinem Gehalt zu verdienen. – Aber wenn es sein muß, so werde ich Willen und Kraft für ihn haben. Er ist so schwach und so gut!«

Dann schienen Gedanken, die sie nicht aussprach, sie plötzlich wieder zu überwältigen. Sie rang die Hände und stammelte unter heftigem Schluchzen: »Nein, nein! Es ist unmöglich, ich kann nicht, ich darf nicht schwanger sein! Nein, nein, es kann nicht sein, ich will nicht, ich will nicht!«

Sie wand sich unter so heftiger Seelenpein, daß Marianne darauf verzichtete, ihr Vernunftgründe vorzuhalten, und sie liebevoll in ihre Arme nahm, um sie zu trösten, um so mehr, als sie fürchtete, daß ihr Weinen im Nebenzimmer gehört werden würde, aus welchem das fröhliche Lachen der Kinder herüberscholl. Und nachdem sie ihr die Augen getrocknet hatte, führte sie sie dahin.

»Zu Tische, zu Tische!« schrien die Knaben, mit Händen und Füßen trommelnd. Er bot einen hübschen Anblick, dieser für das Vesperbrot vorbereitete Tisch, auf welchem Mathieu unter dem Beistand Reines eben noch vier Kompottschüsseln, welche Kuchen und eingemachte Früchte enthielten, symmetrisch anordnete. Die drei Jungen verzögerten alles, indem sie bei allem helfen wollten, während Rose fortwährend auf dem Punkte war, alles zu zerbrechen. Aber man unterhielt sich so prächtig, und Reine war so allerliebst als kleine Hausfrau! Sie lachte, ohne Zweifel schon nicht mehr ganz harmlos, als Ambroise seiner Mutter zurief, daß sie seine Frau sei, und Rose ihr kleines Kind. Marianne hieß ihn schweigen, als sie sah, daß Valérie wieder ihre Tränen zurückdrängen mußte. Dann setzte man sich zu Tische, und die Kinder aßen mit Heißhunger.

An diesem schönen Sonntagabend, gegen neun Uhr, nachdem die Kinder zu Bett gebracht worden waren, schlossen sich Mathieu und Marianne frohen Herzens in ihr Schlafzimmer ein. Er bestand darauf, daß sie sich sogleich zu Bette lege, er deckte sie zu und rückte ihr die Polster unterm Kopf zurecht. Dann wachte er an ihrer Seite, las ihr bis zehn Uhr vor, da sie um diese Stunde eine Tasse Lindenblütentee nehmen sollte, den er ihr täglich selbst bereitete, indem er wiederholte, daß er des Mädchens nicht bedürfe. Nachdem sie ihre Tasse geleert hatte, wünschte er ihr gute Nacht, indem er ihr zwei brüderliche Küsse auf die Wangen drückte, denn sie war ihm heilig, und sie scherzten beide darüber und nannten sich Monsieur und Madame. Sein kleines Bett war bereit, er entkleidete sich, löschte die Lampe aus und rief ihr zu, sie möge schlafen. Er aber schlief nicht ein, wartete, bis ihr regelmäßiger Atem ihm sagte, daß sie entschlummert sei, dann schloß auch er die Augen. Und wie oft erwachte er, erhob sich geräuschlos, umgab auch ihren Schlaf mit religiösem Kultus!

Marianne, der Mathieu die Morgenstunde einer Königin bereitete, die er in der hellen Wintersonne wie eine Prinzessin aus den Märchen spazieren führte, wurde des Nachts von ihm bedient und verehrt gleich einer Göttin. Es war der höhere und reinere Kultus als der der Jungfrau, der Kultus der Mutter, der geliebten und glorreichen, der schmerzhaften und erhabenen Mutter, in den Leiden, die sie erduldet, um der ewigen Blüte des Lebens willen.


 << zurück weiter >>