Emile Zola
Fruchtbarkeit
Emile Zola

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2

Zwei Jahre gingen hin. Und während dieser zwei Jahre bekamen Mathieu und Marianne noch ein Kind, ein Mädchen. Und diesmal vergrößerte sich gleichzeitig mit der Familie auch der Besitz Chantebled wieder um dreißig Hektar Waldgrund auf dem Plateau, bis zu den Feldern von Mareuil, und um dreißig Hektar Heide an den Hängen längs der Eisenbahn bis zum Dorfe Monval. Da der baufällige Pavillon, das ehemalige Jagdrendezvous, längst unzureichend geworden war, hatte sich die Notwendigkeit ergeben, einen ganzen Bauernhof zu errichten, Wirtschaftsgebäude, Scheunen, Wagenschuppen, Pferde- und Rinderställe zu erbauen, um die Frucht, das Gesinde und das Vieh unterzubringen, welches sich bei jeder Vergrößerung mehrte, wie in der blühenden Gemeinschaft einer Arche. Das Leben setzte seinen unaufhaltsamen Eroberungszug fort, die Fruchtbarkeit verbreitete sich unter der Sonne, die Arbeit schuf unausgesetzt, unermüdlich trotz aller Hindernisse und Kümmernisse, füllte die Lücken der Verluste aus, goß zu jeder Stunde neue Kraft, neue Gesundheit und Freude in die Adern der Welt.

Mathieu kam, häufiger als ihm lieb war, in Geschäften nach Paris, sehr oft, um mit Séguin zu unterhandeln oder um Käufe und Verkäufe abzuschließen, Aufträge aller Art zu erteilen. Eines heißen Vormittags im August, als er in die Fabrik gekommen war, um das Modell einer neuen Mähmaschine zu sehen, fand er weder Constance noch Maurice zu Hause; sie waren tags vorher mit Beauchêne ans Meer, an die Küste von Houlgate gefahren, und Beauchêne sollte, nachdem er sie dort untergebracht hatte, am darauffolgenden Montag zurückkehren. Und nachdem Mathieu die Maschine besichtigt hatte, deren Werk ihm nicht gefiel, konnte er nur noch hinaufgehen, um dem guten Morange die Hand zu drücken, der Sommer und Winter in seinem Bureau an seinen Büchern saß.

»Ah, sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie nicht hierher kommen, ohne mir guten Tag zu sagen. Wir kennen uns ja nicht von gestern.«

»Gewiß nicht. Und Sie wissen, daß ich Ihnen aufrichtig zugetan bin.«

Es war ein ruhig gewordener, dem Leben wiedergegebener Morange, der wieder lachen konnte wie in den guten Tagen. Von dem schrecklichen Tode seiner Frau hatte er nur eine vermehrte Gemütsweichheit zurückbehalten, war sehr leicht zu Tränen gerührt, gutherziger und furchtsamer als je. Mit sechsundvierzig Jahren ganz kahl geworden, pflegte er wieder seinen schönen Bart, auf den er stolz war. Und Reine allein hatte das Wunder vollbracht, dieses Kind, das ihm ein neues, glückliches Leben schuf, in der er jedes Jahr, je mehr sie wuchs, desto mehr die so beweinte Tote wiederfand. Nunmehr, mit zwanzig Jahren, war Reine Valérie selbst, wie sie gewesen war, als er sie geheiratet hatte, in all ihrer jungen Schönheit wiedererstanden, wie durch ein Wunder, um ihn mit ihrer Zärtlichkeit zu trösten. Seither war das Gespenst der Toten, der schrecklichen Toten auf dem blutgetränkten armseligen Lager, verschwunden, verdrängt durch diese strahlende Auferstehung voll Liebreiz und Fröhlichkeit, die das Haus erfüllte. Er hatte aufgehört, bei dem leichtesten Geräusch zu zittern, bewahrte von seinen Gewissensbissen nur noch einen dumpfen Druck auf dem Herzen, einen schlummernden Schmerz, der nicht von Entsetzen erweckt wurde. Er war dazu gelangt, Reine mit einer wahnsinnigen, unendlichen Liebe zu lieben, die aus jeder Art Liebe zusammengesetzt war. Seine Jugend kehrte wieder, es schien ihm, als habe er gestern geheiratet, er lebte wieder mit der teuern Frau, die ihm durch die göttliche Verzeihung des Schicksals in ihrer Jungfräulichkeit wiedergegeben war, um ihn aufs neue zu lieben. Und alle diese Leidenschaft galt einem geheiligten Wesen, das er nicht berühren durfte, aus dem er eine unnahbare Göttin machte, vor der er anbetend kniete.

»Wenn Sie liebenswürdig sein wollen,« sagte er, »so essen Sie mit mir. Sie wissen nicht, daß ich seit gestern abend Witwer bin.«

»Wie das, Witwer?«

»Nun ja. Reine befindet sich für drei Wochen in einem Schlosse im Departement Loiret. Die Baronin de Lowicz hat mich gebeten, sie ihr auf einen Besuch zu Freunden mitzugeben. Und ich habe schließlich eingewilligt, als ich sah, wie das liebe Kind vor Begierde brannte, in Wald und Feld herumzuschweifen. Sie, die ich nie weiter geführt habe, als bis nach Versailles, denken Sie einmal! Trotzdem war ich stark versucht, nein zu sagen.« Mathieu lächelte.

»Oh, einem Wunsche Ihrer Tochter zu widerstehen, das sind Sie nicht imstande!«

So war es auch. So wie einst Valérie als unbestrittene Königin im Hause geherrscht hatte, so war nun Reines Wille der allmächtige Einfluß geworden, dem er gehorchte. Hilflos geworden durch den Tod seiner Frau, verloren und ohne Stütze, hatte er seinen Frieden und die Gesundheit wohl vornehmlich dadurch wiedergefunden, daß ihn wieder eine geliebte Gefährtin beherrschte und lenkte, ihn mit dem einzigen Wunsch erfüllte, sich zu unterwerfen und ihr zu gefallen. Er lebte denn auch nur für sie.

»Sie wird verheiratet zu Ihnen zurückkehren,« sagte Mathieu mit einiger Bosheit, denn er kannte die Gefühle des Vaters in dieser Hinsicht.

Moranges Gesicht verdüsterte sich, er wurde unruhig.

»Ich hoffe, nein, ich habe es der Baronin ans Herz gelegt. Reine ist noch ein Kind, und sie besitzt noch nicht das Vermögen, das ich ihr geben will, damit sie einen Mann bekommt, der ihrer würdig ist. Ich arbeite daran, eines Tages wird es sich zeigen ... Nein, nein! Sie liebt mich zu sehr, sie wird mir nicht den Schmerz antun, sich zu verheiraten, ohne daß ich es ihr erlaube. Und sie weiß, daß der Augenblick noch nicht gekommen ist, daß ich diesmal daran sterben würde, wenn mein Traum sich nicht erfüllen sollte, all das Glück, das ich mir mit meiner armen Frau versprochen hatte, an meiner teuern Tochter zu erleben ... Und wenn Sie wüßten, wie glücklich wir in unserm kleinen Neste sind! Freilich lasse ich sie den ganzen Tag allein, aber Sie müßten unsre Freude sehen, wenn wir uns des Abends wieder haben! Sie ist noch so unschuldig, sie hat noch nicht nötig, sich zu verheiraten, da die Vorbereitungen noch nicht getroffen sind, und da wir keine Eile haben.«

Er lächelte wieder und fuhr fort:

»Kommen Sie doch zu mir zum Essen! Wir werden von ihr plaudern, ich werde Ihnen meine kleinen Geheimnisse anvertrauen, was ich erträume und was ich plane; dann werde ich Ihnen ihre letzte Photographie zeigen, die noch nicht acht Tage alt ist. Es wäre so hübsch von Ihnen, wenn Sie mir Gesellschaft leisteten, während sie nicht da ist, und wir als Junggesellen miteinander essen würden! Wir werden ein Bukett an ihren Platz stellen. Wie? Schlagen Sie ein, und holen Sie mich Mittag ab.«

Mathieu konnte ihm diese Freude nicht machen.

»Nein, es ist leider unmöglich, ich habe heute zuviel Besorgungen. Aber übermorgen muß ich wieder nach Paris kommen. Wenn dieser Tag Ihnen genehm ist, verspreche ich Ihnen, mit Ihnen zu essen.«

Morange war einverstanden, sie schüttelten sich wohlgemut die Hände, Mathieu ging seinen Geschäften nach und aß schließlich in einem kleinen Restaurant in der Avenue de Clichy zu Mittag, in dessen Nähe eine Besorgung ihn lange aufgehalten hatte. Als er dann die Rue d'Amsterdam hinabging, um einen Bankier in der Rue Caumartin aufzusuchen, wollte er, an der Kreuzung der Rue de Londres angelangt, den Weg abkürzen, indem er durch die Passage Tivoli ging, die auf die Rue Saint-Lazare in zwei schmalen Torbogen mündet, welche gleichsam den Wagen die Durchfahrt verwehren. Die Passage ist daher auch wenig belebt, wird fast nur von Fußgängern benutzt, von den Bewohnern der Nachbarschaft oder von erfahrenen Parisern, die jede Seitengasse der großen Stadt kennen; er selbst erinnerte sich nicht, seit Jahren hier durchgekommen zu sein. Neugierig blickte er auf diesen vergessenen Winkel des alten Paris, auf das feuchte Gäßchen, das selbst an sonnenhellen Tagen düster bleibt, auf die armseligen Häuser mit den schimmeligen Fronten, auf die engen, finsteren Läden, auf all diesen anwidernden, altaufgehäuften Schmutz, als eine unerwartete Begegnung ihn in starres Staunen versetzte. Verwundert, hier, mit den Rädern im Rinnstein, einen höchst eleganten, mit einem prächtigen Pferde bespannten Wagen warten zu finden, sah er plötzlich aus einem der schmutzigsten Häuser zwei Frauen heraustreten, rasch einsteigen und verschwinden; und er erkannte trotz der Schleier Sérafine, begleitet von Reine. Einen Augenblick war er ungewiß in bezug auf Sérafine, die er seit Monaten nicht gesehen hatte, so schien sie ihm seltsam, verändert; aber er konnte sich nicht in bezug auf Reine täuschen, die ihr liebenswürdiges, sanftes, heiteres Gesichtchen ihm zugewendet hatte, ohne ihn zu bemerken. Der Wagen verlor sich bereits in der Flut von Gefährten, welche die Rue Saint-Lazare erfüllten, als er noch immer erstarrt, betäubt auf demselben Platze stand. Wie, dieses schöne Mädchen, die ihr Vater auf einem Schlosse bei Orléans glaubte, hatte also Paris nicht verlassen? Und hierher, in diesen schmutzigen Winkel führte die Baronin sie verstohlener Weise, anstatt mit ihr unter den hundertjährigen Bäumen irgendeines großen Parkes spazierenzugehen? Sein Herz hatte sich schrecklich zusammengezogen unter der Ahnung irgendeines entsetzlichen Geheimnisses. Er betrachtete das zweistöckige, verdächtig aussehende Haus, das den Schmutz der Armut, den Stempel der Gemeinheit zeigte. Ohne Zweifel ein Haus für Zusammenkünfte, aber welch schändlicher Art, und für welche unnennbare Ausschweifungen! Dann wurde das Verlangen, mehr zu erfahren, zu mächtig in ihm, er wagte sich in den dunkeln und übelriechenden Torweg und gelangte in einen grünlichen Hof gleich dem Boden einer Zisterne, ohne einen Portier getroffen zu haben, an den er sich hätte wenden können. Keine Seele, kein Laut. Ratlos kehrte er um, als der Anblick eines Messingschildes an einer Tür mit der Inschrift: »Klinik von Doktor Sarraille« ihn wie ein erhellender Blitzstrahl durchfuhr. Er erinnerte sich des Assistenten Gaudes, mit dem ordinären, stierartigen Gesichte; er erinnerte sich besonders einiger Worte des Doktors Boutan, der den Mann kannte. Was war's also? Eine Krankheit vielleicht, die man verbarg, eine im tiefsten Geheimnis veranstaltete Konsultation? Und er entfernte sich bebend, ohne es zu wagen, seinen Argwohn auszudenken. Eine schreckliche Aehnlichkeit fiel ihm aufs Herz, dieselbe Widerlichkeit hier, Passage Tivoli, bei Sarraille, wie dort, Rue du Rocher, bei der Rouche, derselbe übelriechende Torweg, derselbe feuchtklebrige Hof, dieselbe Höhle des Verbrechens und der Schande. Ach, wie er aufatmete, unter der heißen Augustsonne in den breiten Pariser Straßen seiner Arbeit, seinem Lebenswerke nachgehen zu können!

Es war eine Geschichte der notwendigen, der unausweichlichen Konsequenzen. Reine, in der Sucht nach Geld, in Vergnügungsgier erzogen, war für ein Leben des Luxus aufgewachsen, dessen fortwährende Verzögerung das hübsche Mädchen mit Heißhunger erfüllte. Solange ihre Mutter lebte, hatte sie sie von nichts anderm träumen hören, als von Toiletten, Wagen, unaufhörlichen Genüssen; und dann, mit ihrem Vater alleingeblieben, hatte sie fortgefahren, die gleiche Sehnsucht zu nähren. Das Schlimmste war dann noch, daß sie nicht mehr überwacht wurde, ganze Tage allein, bloß in Gesellschaft eines Dienstmädchens blieb, der Musik und des Lesens bald überdrüssig wurde, ihre Zeit auf dem Balkon verbrachte, um auszuschauen, ob der erträumte Prinz noch immer nicht mit Gold beladen komme, um sie aus ihrer Mittelmäßigkeit zu erlösen, sie dem königlichen Leben unaufhörlichen Vergnügens zuzuführen, das ihre Eltern ihr fest versprochen hatten. Nichts andres existierte für sie, sie wartete ungeduldig, daß der Traum in Erfüllung gehe, vorzeitig körperlich reif geworden, von einer heißen Sinnlichkeit erregt, deren Verlangen durch die langen Stunden trägen Harrens noch verschärft wurde. Nur Sérafine holte sie manchmal ab, fuhr mit ihr durch die Alleen des Bois de Boulogne, besuchte mit ihr die jungen Mädchen gestatteten Schaustellungen, anfangs lediglich belustigt von dem Entzücken dieses Kindes, in welchem sie die Genußgier sich regen fühlte, von der sie selbst durchglüht war. Dann geschah es, als das Kind heranwuchs und zum Weib wurde, daß die Baronin, ohne gerade die böse Absicht zu haben, sie zu verderben, sie zu weniger harmlosen Unterhaltungen, zu weniger unschuldigen Darstellungen führte, wodurch sie schließlich ganz wissend wurde. Dann ging es rasch abwärts, es entwickelte sich eine immer engere Intimität zwischen den beiden, die sie ihren Altersunterschied vergessen ließ, die zu so rückhaltloser Vertraulichkeit führte, daß sie einander nichts mehr verbargen. Beide der Anbetung des Genusses hingegeben, vereinigten sie sich in demselben leidenschaftlichen Kultus. Von allen Skrupeln befreit, gab die ältere der jüngeren nunmehr nur die Ratschläge ihrer eignen Erfahrung: den Skandal zu fliehen, ihre Stellung in der Welt unversehrt zu erhalten, niemals ihr Leben einzubekennen, und besonders das Kind zu vermeiden, welches das schlimmste der Bekenntnisse, das unheilbare Unglück ist. Und länger als ein Jahr hindurch kam nun das junge Mädchen häufig zwischen fünf und sieben Uhr zu ihrer Freundin zum Tee in das diskrete Appartement in der Rue de Marignan, wo sie mit liebenswürdigen Herren verkehrte, ohne daß der so gefürchtete Unfall sich ereignete, so geschickt war sie schon darin, nur soviel ihrer selbst zu geben, als sie für den Genuß einer Stunde geben mußte, und den Folgen vorzubeugen.

Aber das Unvermeidliche geschah. Eines Tages hatte Reine die Ueberzeugung, daß sie schwanger sei. Wie hatte das Unglück geschehen können? Sie selbst hätte es nicht sagen können, sie begriff die augenblickliche Selbstvergessenheit nicht, erinnerte sich in der schreckensvollen Betäubung des nächsten Tages an nichts mehr. Sie sah ihren Vater, ihren Vater, der sie vergötterte, zerschmettert unter dieser schrecklichen Schande, schluchzend, sterbend. Keine Ehrenrettung war möglich, der Mann hatte Frau und Kinder, ein hoher Beamter, der in diskreten Häusern verkehrte; und im übrigen stammen solche Schwangerschaften, unter solchen Verhältnissen, von niemand. Als Reine weinend, verzweifelt, sich ihrer Freundin Sérafine entdeckte, hätte diese im ersten Aufbrausen einer jähzornigen Königin, die ein alberner Zufall in ihrem Vergnügen stört, sie beinahe geschlagen. Dann aber gab ihr die drohende Gefahr, selbst mitkompromittiert zu werden, ihre so lange in der Welt bewahrte Scheinstellung vernichtet zu sehen, ihre ganze ruhige Kühnheit wieder. Sie küßte und tröstete das verzweifelte Mädchen, schwor ihr zu, sie nicht zu verlassen, sie siegreich aus dem Unheil herauszuführen. Sie hatte sogleich an eine künstliche Fehlgeburt gedacht, wartete noch einige Tage, und sprach Reine dann von diesem Hilfsmittel, ohne aber mehr zu erreichen, als sie in eine neue Krise des Entsetzens und der Tränen zu stürzen. Lange Zeit hatte Reine geglaubt, daß ihre Mutter im Wochenbette gestorben sei, so wie man es ihr erzählt hatte; und erst durch die Indiskretion Sérafinens selbst hatte sie im Laufe ihrer intimen Vertraulichkeit endlich die Wahrheit erfahren, den verbrecherischen Eingriff, den Tod in einer schmutzigen Höhle; so daß sie nun, von abergläubischer Furcht erfaßt, in höchste Erregung geriet und schrie, sie werde gewiß sterben wie ihre Mutter, wenn sie sich zu denselben Manipulationen hergebe. Im übrigen fand Sérafine bei reiflicherem Nachdenken, daß eine Hebamme zu gewagt, zu gefährlich sei; man mußte sich ihr ganz ausliefern, und die, deren sie sich einst selbst bediente, hatte auf sie einen Eindruck von drohender Habgier und Gemeinheit gemacht, dessen sie sich noch jetzt schaudernd erinnerte. Da keimte ein andrer Gedanke in ihrem Kopfe, ein stolzerer und kühnerer Plan: daß ihre junge Freundin die Gelegenheit benutzen solle, um sich gleich ihr operieren zu lassen, wodurch sie mit einem Schlage aus ihrer jetzigen schlimmen Lage befreit und für immer vor der Gefahr der Mutterschaft gesichert würde. Sie sprach diesen Gedanken vorsichtig gegen sie aus, erzählte ihr, daß sie von Chirurgen gehört habe, die an das Vorhandensein einer Neubildung geglaubt hatten und erst bei der Operation ihres Irrtums gewahr wurden. Warum sollten sie sich nicht an einen solchen Arzt wenden? Um so mehr, als die Operation ganz gefahrlos sei; sie führte sich selbst als Beispiel an, pries die Sicherheit, deren sie sich jetzt erfreute, erzählte von ihren schamlosen Schwelgereien, von all dieser tollen Sinnenlust, deren zerstörenden Einfluß sie sich noch nicht eingestand: ein plötzliches Welkwerden, das ihre stolze Schönheit bereits mit einigen Runzeln beeinträchtigte. Als sie sah, daß Reine erschüttert war, sprach sie ihr von ihrem Vater, hielt ihr vor, daß sie in dem Falle bei ihm bleiben könne, da er sich so gegen den Gedanken sträube, sie zu verheiraten, und da auch sie es vorziehe, frei, ohne Bande und Pflichten zu leben. Sei es denn nichts, nach Gefallen, nach der Laune des Augenblicks zu lieben, sich dem Manne zu geben, nach dem sie verlange, in der Sicherheit, niemals Mutter zu werden, sich immer wieder zurücknehmen zu können? Sie werde unumschränkte Herrin ihres Lebens bleiben, sie werde jede Trunkenheit kennen lernen und auskosten können, ohne Furcht und ohne Reue. Sie habe lediglich geschickt genug zu sein, das Geheimnis ihrer Freuden zu bewahren, eine kleine erlaubte Verstellung, die dem zärtlichen und schwachen Morange gegenüber, der seine Tage im Bureau verbrachte, leicht durchzuführen sei. Und als sie sah, daß es ihr gelungen war, sie zu beruhigen, sie zu überzeugen, umarmte sie sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit, nannte sie ihr liebes Kind, entzückt von dieser neuen, so jungen und schönen Proselytin.

Nun handelte es sich nur darum, den Chirurgen zu finden, der sich zu der Operation herbeilassen würde. Sie dachte keinen Augenblick an Gaude; dieser war ein zu großer Herr, um sich mit solchen Dingen abzugeben. Aber sofort hatte sie ihren Mann gefunden, Sarraille, den Schüler Gaudes, den, der dem Meister bei ihrer Operation assistiert hatte. Sie kannte ihn recht gut, hatte in der Zeit ihrer Rekonvaleszenz seine Geständnisse empfangen, wußte, daß er über seine Häßlichkeit wütete, über diese plumpe und fahle Maske, mit dem spärlichen Barte, den starren, an den Schläfen klebenden Haaren, welche, wie er mit Verbitterung sagte, ihn verhinderte, jemals bei den Frauen, seinen Patientinnen, Erfolg zu haben. Seine Existenz war dadurch verfehlt, die Zukunft war ihm verriegelt, er trieb dem Verfall, vielleicht dem Kerker zu. Einziger Sohn eines armen Bauern, hatte er während seines Studiums wie ein herrenloser, um Futter bettelnder Hund leben müssen, war gezwungen gewesen, ganze Nächte mit mechanischer Arbeit zu verbringen, um seine Kollegiengelder bezahlen zu können. Und nun, nach den Jahren des Spitaldienstes, war er, trotz der Protektion Gaudes, der an seinem düsteren Ehrgeiz Gefallen fand, wieder dem Nichts anheimgefallen. Ohne jede feste Praxis, hatte er, um nur leben zu können, diese zweideutige Klinik in der Passage Tivoli eröffnet, wo er von den Brosamen andrer vegetierte, von unangenehmen Fällen, die man ihm zu überlassen für gut fand. Das schlimmste war, daß ein wütender Erfolghunger an ihm fraß, daß er sich nicht in sein Schicksal finden konnte, immer gierig auf irgendeine Gelegenheit lauerte, trotz allem davon träumte, die Welt und ihre Genüsse zu erobern, bereit, sie als waghalsiger Spieler auch mit seinem Leben zu bezahlen. So fand also Sérafine in ihm gerade den Mann, den sie brauchte. Sie fand es angezeigt, ihm eine Geschichte zu erzählen, da sie es für unnötig hielt, sein Gewissen auf eine zu harte Probe zu stellen, indem sie ihn zum offnen, eingestandenen Mitschuldigen machte. Reine war ihre Nichte, die von ihrer Familie aus der Provinz zu ihr geschickt worden war, damit sie einen Arzt über ihr seltsames Leiden konsultiere, schreckliche Schmerzen im Unterleib, obgleich sie sich allem Anscheine nach einer vortrefflichen Gesundheit erfreue. Sie verabredete sich mit ihm, ließ alles übrige erraten, bot tausend Franken Honorar, so daß Sarraille nach der ersten Untersuchung auf eine Neubildung diagnostizierte. Es fanden weitere Besuche statt. Reine tat, als habe sie immer stärkere Schmerzen, schrie bei der leisesten Berührung laut auf. Endlich wurde entschieden, daß als einziges radikales Heilmittel die Operation bleibe. Sie einigten sich, daß die Operation in der Klinik des Doktors selbst stattfinden solle, wo die Rekonvaleszenz sodann zwei bis drei Wochen in Anspruch nehmen würde. Sérafine hatte hierauf die Fabel von den drei Wochen der Erholung, des Lebens in freier Natur auf einem Schlosse erfunden, wohin sie ihre junge Freundin mitnehmen wolle, und an dem Tage, wo Mathieu ihnen begegnete, als sie von Sarraille kamen, hatten sie alles für den nächsten Tag festgesetzt. An diesem Abend schrieb Reine bei der Baronin, die sie einstweilen beherbergte, an ihren Vater einen sehr zärtlichen Brief voll fröhlicher Einzelheiten, die durch ihre gefällige Hand dort in dem fernen Dorf nächst dem Schlosse zur Post gegeben werden sollte.

Als Mathieu am zweitnächsten Tage, seinem Versprechen getreu, Morange um Mittag in seiner Wohnung auf dem Boulevard de Grenelle aufsuchte, fand er ihn in kindlich-heiterer Stimmung.

»Ah, Sie sind pünktlich, aber Sie werden ein wenig warten müssen, denn das Mädchen hat sich mit der Mayonnaise verspätet. Kommen Sie einstweilen in den Salon.«

Es war noch immer derselbe Salon, mit seiner perlgrauen, goldgeblumten Tapete, seinen weißlackierten Möbeln im Stile Ludwig XIV., und seinem Piano aus Palisander, der Salon, in welchem ihn einst, vor vielen Jahren, Valérie empfangen hatte. Die Einrichtungsstücke waren verstaubt, man fühlte die Vernachlässigung eines unbenutzten Raumes, den fast nie jemand betrat.

»Die Wohnung ist freilich für uns zwei zu groß,« erklärte Morange, »aber es hätte mir das Herz bluten gemacht, wenn ich sie hätte verlassen müssen. Dann haben wir hier auch schon so unsre kleinen Gewohnheiten. Reine wohnt in ihrem Schlafzimmer. Sehen Sie es einmal an, wie hübsch es ist, wie geschmackvoll sie alles angeordnet hat. Ich werde Ihnen auch ein Paar Vasen zeigen, die ich ihr geschenkt habe.«

Das blaßblaue Zimmer mit der Einrichtung in Pitchpine-Imitation hatte sich gleichfalls nicht verändert. Die zwei Vasen aus emailliertem, geschliffenem Glas waren sehr schön. Außerdem gab es da eine außerordentliche Menge hübscher Dinge, Geschenke aller Art, Überraschungen, mit denen der Vater die Tochter überhäuft hatte. Er ging auf den Fußspitzen wie in einem Heiligtume, sprach leise mit dem frommen Lächeln eines Gläubigen der einen Profanen in den Tempel der Gottheit einführt. Dann führte er ihn mit geheimnisvoller Miene an das andre Ende der Wohnung, in sein eignes Zimmer, wo er seit dem Tode seiner Frau nichts geändert hatte, dieselben Zypressenholzmöbel, dieselben gelben Tapeten gleich Reliquien bewahrte. Nur waren die Wände, die Tische, der Kaminsims bedeckt mit Photographien, eine überreiche Sammlung aller Porträts, die er von der Mutter hatte zusammentragen können, vermehrt durch die zahllosen Bilder der Tochter, die von Kindheit auf in Abständen von sechs zu sechs Monaten von ihr aufgenommen worden waren.

»Kommen Sie, ich habe Ihnen ja versprochen. Ihnen das letzte Bild Reines zu zeigen. Da sehen Sie es.«

Und er führte ihn vor eine Art kleiner Kapelle, welche pietätvoll auf einem Tische gegenüber dem Fenster errichtet war. Die schönsten Bilder waren hier in symmetrischer Weise angeordnet und umgaben zwei, die den Mittelpunkt bildeten: das letzte Bild der Tochter und eines von der Mutter, welches sie im selben Alter zeigte, Seite an Seite, schön und lächelnd, wie Zwillingsschwestern.

Tränen waren ins Moranges Augen aufgestiegen, und er stammelte voll zärtlicher Begeisterung: »Wie? Was sagen Sie? Hat mir meine kleine Reine nicht meine teure, so beweinte Valérie wieder ersetzt? Ich versichere Ihnen, daß es dieselbe Frau ist. Sie sehen selbst, daß ich nicht träume, daß die eine in der andern auferstanden ist, mit denselben Augen, demselben Munde, denselben Haaren. Und wie schön ist sie! ... Ich verweile hier oft stundenlang, das ist mein Hausaltar.«

Mathieu, selbst zu Tränen gerührt von solcher Anbetung, fühlte eine eisige Kälte sein Herz beschleichen, angesichts dieser zwei Bilder, dieser zwei einander so ähnlichen Frauen, deren eine tot war, während die andre dort irgendwo an einem unbekannten Orte sich befand, an dessen Unheimlichkeit er seit vorgestern unaufhörlich denken mußte. Aber das Dienstmädchen kündigte nun an, daß der Hummer und die Mayonnaise aufgetragen seien, und Morange führte ihn frohgemut in das Speisezimmer, dessen Fenster er weit offen ließ, damit sie über den Balkon hinweg der schönen Aussicht sich erfreuen könnten. Es waren nur zwei Gedecke aufgelegt. Aber an dem gewohnten Platze Reines befand sich ein großes Bouquet weißer Rosen.

»Setzen Sie sich hierher an ihre Rechte,« sagte er mit seinem guten Lächeln. »Wir sind dennoch drei.«

So blieb er fröhlich bis zum Dessert. Nach dem Hummer brachte das Mädchen Kotelettes, dann Artischoken. Und er, der sonst wenig sprach, zeigte sich außerordentlich mitteilsam, als wollte er seinem Gaste beweisen, daß er ein kluger, scharfsichtiger und dabei vorsichtiger Mann sei, den das Schicksal schließlich doch einmal entschädigen werde. Er griff auf die einstigen Theorien seiner Frau zurück, erklärte, daß er sehr recht gehabt habe, sich nicht mit Kindern zu beladen, daß sein Glück darin bestehe, nur für seine kleine Reine sorgen zu können. Wenn er sein Leben wieder beginnen sollte, würde er sich wieder nur sie wünschen. Ohne den schrecklichen Verlust, der ihn so lange zu Boden gedrückt habe, wäre er in die Nationalkreditbank eingetreten und besäße heute vielleicht Millionen. Aber es sei nichts verloren, weil er eben nur eine Tochter habe; und er erzählte seine Träume, von der Mitgift, die er ihr aufsammle, dem ihrer würdigen Gatten, den er ihr verschaffen wolle, von der vornehmen gesellschaftlichen Stellung, die sie dann einnehmen sollte, und der höheren Sphäre, in die endlich auch er mit ihr aufsteigen würde, wenn sie es nicht etwa vorzöge, nicht zu heiraten, was das Paradies für beide wäre, denn der heimliche Gedanke, sie für sich zu behalten, hatte ihn mit großen Plänen erfüllt, die er nun verriet. Er folgte ihrem Willen in allen Dingen, er sah sie ehrgeizig wie ihre Mutter, heißhungrig nach einem luxuriösen Leben, nach Annehmlichkeiten und Genüssen, und da hatte er den Entschluß gefaßt, an der Börse zu spielen, einen Hauptstreich auszuführen, dann sich zurückzuziehen, sich ein Landhaus zu kaufen und einen Wagen zu halten. Dümmeren Leuten als er war es gelungen. Er wartete nur eine gute Gelegenheit ab.

»Sie mögen sagen, was Sie wollen, lieber Freund, es ist doch nichts besser als das einzige Kind, um alle Vorteile auf seiner Seite zu haben. Ein einziges teures Wesen im Herzen, und die Arme frei, um ihm ein Vermögen zu erwerben!«

Als das Mädchen den Kaffee brachte, rief er freudig aus: »Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß ich von Reine bereits einen Brief bekommen habe, einen so zärtlichen, so glücklichen Brief, worin sie mir alle möglichen lustigen Einzelheiten über ihre Ankunft gibt, über einen großen Spaziergang, den sie gleich am ersten Tag unternommen hat... Heute früh habe ich ihn erhalten.«

Während er in seiner Tasche suchte, fühlte Mathieu abermals den Eishauch von jenem unbekannten Orte über sich hinwehen. Seit vorgestern trachtete er, sich zu beruhigen, der Begegnung in der Passage Tivoli eine möglichst harmlose Deutung zu geben. Dieses fröhliche Mahl mit dem wackeren Manne trug vollends dazu bei, seine Befürchtungen einschlummern zu lassen. Aber diese Lüge, dieser zweifellos in Paris geschriebene Brief, erweckte mit einem Schlage wieder sein angstvolles Mitleid mit dem Vater, der so liebevoll, so glücklich war, während dort, an jenem Orte, das Schicksal der Tochter sich erfüllte.

»Das liebe Kind!« fuhr Morange fort, den Brief überlesend, »sie ist mit Liebenswürdigkeiten überschüttet worden, sie hat ein schönes rotes Zimmer bekommen, mit einem großen Bett, in dem sie sich verliert. Das Bettzeug ist gestickt, denken Sie nur, und Parfümfläschchen auf dem Waschtisch, und Teppiche überall. Oh, es sind sehr reiche Leute, eine Familie von bestem Adel, wie mir die Baronin erzählt ... Weiter. Die Baronin hat das liebe Kind gleich in den Park geführt, wo sie zwei Stunden inmitten der herrlichsten Blumen spazierengegangen sind. Es gibt da Alleen mit hundertjährigen Bäumen, so hoch wie Kirchengiebel, und große Bassins mit Schwänen, und Glashäuser mit seltenen, wunderbar duftenden Pflanzen ... Wissen Sie, ich bin nicht eitel, aber es macht einem doch Vergnügen, seine Tochter als Gast in einem solchen Schlosse zu wissen. Sie soll sich nur unterhalten, mein Liebling, und soll recht glücklich sein!«

Er vergaß darüber, seinen Kaffee zu trinken. Plötzlich öffnete sich die Tür, und eine außerordentliche, so unerwartete Erscheinung bot sich ihren Blicken, daß ein langes Stillschweigen entstand. Die Baronin war eingetreten.

Morange betrachtete sie erstarrt und verständnislos.

»Wie? Sie sind es? Reine ist da, Sie bringen sie zurück?«

Mechanisch hatte er sich erhoben, um ins Vorzimmer hinauszusehen, in dem Glauben, daß seine Tochter draußen zurückgeblieben sei, um ihren Hut abzulegen. Er kam zurück und wiederholte: »Sie bringen Reine zurück? Wo ist sie?«

Sérafine, sehr blaß, beeilte sich nicht zu antworten; sie sah jedoch sehr entschlossen aus, ihre hohe Gestalt stolz aufgerichtet, bereit, den ärgsten Gefahren die Stirn zu bieten und sie zu überwinden. Sie hatte Mathieu eine eiskalte, aber nicht zitternde Hand gereicht und schien glücklich über seine Anwesenheit. Endlich sprach sie, sehr ruhig:

»Ja, ich bringe sie Ihnen zurück. Sie ist von einem plötzlichen Unwohlsein befallen worden, und ich habe es für besser gehalten, sie zurückzubringen. Sie ist bei mir.«

»Ah,«,sagte er nur, betäubt. »Sie ist ein wenig ermüdet von der Reise, sie erwartet Sie.«

Er fuhr fort, sie mit weitoffenen Augen anzustarren, von dieser Erzählung verwirrt, ohne anscheinend ihre Unwahrscheinlichkeit zu bemerken, ohne selbst nur daran zu denken, zu fragen, warum sie seine Tochter, wenn sie leidend sei, nicht gleich direkt nach Hause geführt habe.

»Sie kommen also, mich abzuholen?«

»Jawohl, beeilen Sie sich.«

»Gut, lassen Sie mich meinen Hut nehmen und dem Mädchen Auftrag geben, das Zimmer herzurichten.«

Und er ging hinaus, noch nicht sehr beunruhigt, noch so verdutzt, daß er einzig darauf bedacht war, seinen Hut und seine Handschuhe zu holen, um nicht auf sich warten zu lassen.

Sowie er fort war, reckte Sérafine, die ihm mit den Augen gefolgt war, wieder ihre stolze Brust heraus, wie eine Kriegerin, die vor dem harten Kampfe, den sie voraussieht, tief Atem holt. In ihrem bleichen Gesichte, unter ihren flammend roten Haaren brannten ihre goldflimmernden Augen in düsterer Glut. Sie begegneten denen Mathieus; beide betrachteten einander schweigend, sie mit wilder Entschlossenheit, er bleicher als sie, unter einem furchtbaren Argwohn erbebend.

»Was ist's?« fragte er endlich.

»Ein schreckliches Unglück, mein Freund! Sie ist tot!«

Er erstickte einen Schrei, er faltete die Hände mit einer Gebärde entsetzten Mitleids.

»Tot! Tot, dort bei Sarraille, in jener Höhle!«

Sie erzitterte nun ihrerseits, schrie beinahe auf vor Ueberraschung und Furcht.

»Sie wissen das? Wer hat Ihnen das gesagt, wer hat uns verraten?«

Aber sogleich faßte sie sich, richtete sich wieder in die Höhe, gestand alles mit leiser, hastiger Stimme:

»Sie werden sehen, ob ich feige bin. Ich verstecke mich nicht, da ich selbst gekommen bin, den Vater abzuholen ... Es ist wahr, als sie schwanger war, habe ich den Plan der Operation gefaßt, um sie von diesem Kinde und von allen andern zu befreien. Warum hätte es bei ihr nicht gelingen sollen, da ich selbst so gut dabei weggekommen bin? Es bedurfte des unerwartetsten, des sinnlosesten unglücklichen Zufalls, daß die Feder einer Pinzette in der Nacht nachgab, während die Wärterin schlief, so daß man das arme Kind heute früh in einem Meer von Blut tot fand. Sie war so lebensvoll, so schön! Ich hatte sie sehr lieb, sehr lieb...«

Ihre Stimme brach, sie mußte innehalten, während schwere Tränen den Goldglanz ihrer Augen verlöschten, der sonst darin flimmerte. Nie hatte Mathieu sie so weinen sehen, ihre Tränen überwältigten ihn vollends, den die nun ganz enthüllte Wahrheit mit namenlosem Entsetzen erfüllte.

»Ich habe sie eben noch geküßt,« fuhr sie fort, »so weiß, so kalt lag sie da, und dann bin ich direkt hierhergefahren. Es muß ein Ende gemacht werden, dieser arme Mann muß alles erfahren, und ich weiß, daß nur ich es ihm sagen kann. Oh, ich nehme es auf mich; aber da Sie hier sind, kommen Sie doch mit. Er hat Sie lieb, wir werden zwei nicht zu viel sein. Um so mehr, als wir ihn im Wagen auf den schrecklichen Schlag werden vorbereiten müssen.«

Sie schwieg. Morange kam herein. Er hatte offenbar ihr Flüstern gehört, und er sah sie an, von Mißtrauen ergriffen. Dann hatte er auch wohl Zeit gehabt, sich zu fassen, ein wenig zu überlegen, während er seine Handschuhe suchte. Seine Stimme zitterte nun von aufsteigender Angst.

»Sagen Sie,« fragte er, »ihr Unwohlsein ist doch wohl nicht ernst?«

»O nein,« erwiderte Sérafine, die es noch nicht wagte, ihm den ersten Schlag zu versetzen.

»Dann hätten Sie sie doch vom Bahnhof direkt hierher führen sollen. Das wäre einfacher gewesen.«

»Gewiß. Aber sie hat nicht gewollt, aus Furcht, Sie zu erschrecken. Sie sind bereit, eilen wir!«

Morange ging schweren Schrittes hinab, ohne ein weiteres Wort. Sein Hirn hatte nun zu arbeiten angefangen, warf allerlei Einwände auf. Da er vormittags in seinem Bureau war, so hätte Reine sich doch ganz gut nach Hause führen lassen und sich selbst zu Bette begeben können, ohne fürchten zu müssen, ihn zu erschrecken. Seine Unruhe wuchs dermaßen, daß er nicht mehr wagte, eine Frage zu stellen, von dumpfem Grauen vor dem Unbekannten erfaßt, das sich wie ein Abgrund vor ihm öffnete. Als er jedoch sah, daß Mathieu ebenfalls einstieg, wurde er noch bleicher und konnte sich nicht enthalten auszurufen: »Wie? Sie kommen auch mit? Warum denn?«

»Nein, nein, er kommt nicht mit,« beeilte sich die Baronin zu sagen. »Wir werden ihn unterwegs absetzen, er hat in dieser Richtung Geschäfte.«

Indessen, die Zeit drängte, Morange wurde immer unruhiger, immer erregter, immer mehr von der Ahnung der schrecklichen Wahrheit erfaßt. Der Wagen rollte rasch dahin, war bereits nahe daran, die Brücke zu passieren, und Sérafine dachte daran, daß er alsbald bemerken werde, daß sie durch die Avenue d'Antin weiterfuhren, ohne bei ihr anzuhalten, sie mußte sich also entschließen, mit der Erzählung ihrer Geschichte zu beginnen, sie kam auf die Krankheit Reines zurück, deutete allgemach an, daß das liebe Kind vermutlich ein ernstes Leiden habe, welches wahrscheinlich eine Operation nötig machen werde. Er hörte ihr zu, sah sie an, mit qualvollem Gesichtsausdrucke, mit stieren Augen. Dann, als der Wagen die Champs-Elysées passierte, sah er auf einmal, daß man ihn nicht zu der Baronin brachte, und ein schreckliches Schluchzen zerriß ihm angesichts dieser plötzlichen Klarheit, der Gewißheit, daß seine Tochter schon operiert sei, da man ihm so von einer Operation sprach. Mathieu hatte seine zuckenden Hände ergriffen und weinte mit ihm, wählend Sérafine mit dem Geständnis begann, ihm sagte, daß die Operation in der Tat schon vorüber sei, und wenn man sie ihm verborgen, diesen Landaufenthalt erfunden habe, so sei es nur geschehen, um ihm jede qualvolle Unruhe zu ersparen. Sie wagte vorzugeben, daß nunmehr alles sicherlich sehr gut gehen werde, wollte ihm noch eine Gnadenfrist lassen, noch einige Radumdrehungen abwarten, ehe sie ihn mit dem letzten Schlage zerschmetterte. Aber er beruhigte sich nicht, blickte sinnlos vor Angst von einem Wagenfenster zum andern, mit dem Gehaben eines eingesperrten wilden Tieres, um zu sehen, welchen Weg, nach welchem unbekannten, entsetzlichen Orte man ihn so führte. Plötzlich, als der Wagen, nachdem er die Rue La Boetie und die Rue de la Pepinière durchfahren hatte, vor dem Bahnhof Saint-Lazare herauskam, erkannte er den steilen Abhang, die schwarzen Häuser der Rue du Rocher, die sich zur Kreuzung der Rue de Rome herabsenkte. Und abermals durchfuhr ihn eine Erleuchtung, die ganze vernichtende Wahrheit schmetterte wie ein Blitzstrahl auf ihn nieder, beim Auftauchen der schauderhaften Erinnerung an seine Frau, wie sie ausgestreckt, tot, dort auf dem elenden, blutgetränkten Bette gelegen hatte.

»Mein Kind ist tot, mein Kind ist tot, man hat sie mir getötet!«

Der Wagen rollte weiter durch das Gedränge der Fahrzeuge und Fußgänger. Er gewann rasch die Rue Saint-Lazare, fuhr durch einen der engen Torbogen der Passage Tivoli, befand sich nun in diesem fast menschenleeren düsteren, feuchten, schmutzigen Gäßchen. Morange gebärdete sich wie wahnsinnig, kämpfte mit Mathieu, der, selbst von Tränen geblendet, ihm beide Hände hielt, während Sérafine, sehr wachsam und beherrscht, ihn beschwor, sich zu beruhigen, ihm den Mund mit ihren schlanken Fingern zuzuhalten, wenn er fortfuhr, zu stöhnen wie ein Elender, den man zur Richtstatt führt. Was wollte er tun? Er wußte es selbst nicht: laut heulen, aus dem Wagen springen, um schneller zu laufen, er wußte nicht wohin. Als der Wagen, die Räder im Rinnstein, vor dem verdächtig aussehenden Hof hielt, hörte er plötzlich auf, sich zu wehren, überließ sich den beiden, die ihn aussteigen ließen und mit sich führten wie einen Gegenstand. Aber in dem dunkeln und übelriechenden Torweg, dessen kalte Luft sich wie ein Leichentuch auf ihn senkte, sprang plötzlich die Erinnerung wieder in ihm auf, trat ihm mit der Macht einer fürchterlichen Erscheinung vor die Seele: das war derselbe Torweg wie dort, mit den rissigen und schimmeligen Mauern; und dann kam derselbe grünliche, übelriechende Hof, gleich dem Boden einer Zisterne. Alles wurde wieder lebendig, das schauderhafte Drama wiederholte sich, noch entsetzlicher als damals. Und welche Umgebung, diese wimmelnde Menge des Bahnhofs Saint-Lazare, dieses unaufhörliche Gedränge der Abreisenden und Ankommenden, dieser weite Platz, in dem sich die ganze Welt mit ihren Fieberdelirien zu ergießen schien, wie um hier ihr unbeschreibliches Wirrsal unterzutauchen! Und hier, zur Rechten und zur Linken, in dem steilen unteren Teil der Rue du Rocher und in diesem unbekannten Winkel der Passage Tivoli, gleichwie in zwei abscheulichen Höhlen, wo alle Schändlichkeiten, bei jedem ankommenden Zug erwartet und erspäht, sich bergen konnten, welch entsetzliche Zufluchtsstätten des Elends und des Verbrechens, diese beiden Mördergruben, die Entbindungsanstalt der Madame Rouche und die Klinik des Doktors Sarraille!

In seinem schmalen Ordinationszimmer, einem dunkeln, spärlich möblierten, von Äthergeruch erfüllten Gemache, warte Sarraille stehend, in schwarzem, abgetragenem Gehrock, mit harten, entschlossenen Augen in seinem plumpen, bleichen Gesichte. Sowie Morange taumelnd hereingekommen war, mit idiotisch stierem Blicke sich rings umsehend, während seine Zähne wie in heftigem Frost aneinanderschlugen, fing er an zu schreien, ohne Unterlaß zu wiederholen: »Wo ist sie? Zeigen Sie sie mir? Ich will sie sehen!«

Vergeblich versuchte Sérafine, unterstützt von Mathieu, ihm zuzureden, ihn mit guten Worten zu betäuben, um noch einige Minuten zu gewinnen, um womöglich den entsetzlichen Schlag des Schauspiels, das ihn erwartete, abzuschwächen. Er stieß sie von sich weg, er ließ nicht ab, immer wieder dieselben Worte zu stammeln, während er mit der Beharrlichkeit eines Tieres, das einen Ausgang sucht, um das Gemach kreiste: »Zeigen Sie sie mir, ich will sie sehen. Wo ist sie?«

Als sodann Saraille glaubte, ebenfalls zu ihm zu sprechen, ihn vorbereiten zu müssen, schien Morange ihn plötzlich zu bemerken und ging wütend auf ihn los, die Fäuste geballt, um ihn zu erschlagen.

»Sie sind also der Arzt, Sie sind es, der sie getötet hat!«

Dann folgte eine schreckliche Szene: der Vater fuchtelte mit den Armen, sprudelte Beschimpfungen, Drohungen hervor, alles, was ihm in den Mund kam, der Ausbruch des Schmerzes und der Raserei eines armen schwachen Menschen, dem man das Herz herausgerissen hat; während der Arzt ihn anfangs entschuldigte, sehr korrekt, sehr würdevoll blieb, bis endlich auch er sich empörte, und ihm zurief, daß man ihn getäuscht habe, daß ihn keine Verantwortung treffe, nach der unwürdigen Komödie, die diese junge Dame gespielt habe. Nicht wieder gutzumachende Worte wurden gesprochen, er verriet alles, die Schwangerschaft, die simulierten Schmerzen, die kritische Lage, in die sie ihn gebracht habe, indem sie sich wegen einer Neubildung operieren ließ, während sie einfach nur schwanger war. Allerdings hatte er sich geirrt, aber auch seine Professoren hätten derlei Irrtümer auf dem Gewissen, niemand sei unfehlbar. Und da der Vater sich auf ihn stürzen wollte, ihn Lügner und Mörder nannte, ihm zuschrie, daß er ihn vor Gericht bringen werde, erklärte er, er sei einverstanden, er werde dann die ganze Geschichte erzählen. Da verließ den Unglücklichen die Kraft, er taumelte, sank in einen Sessel unter den aufeinanderfolgenden Schlägen dieser gemeinen Enthüllungen. Seine Tochter schwanger, großer Gott! Seine Tochter Schuldige, Verbrecherin und Opfer! Das war der Einsturz des Himmels, das Ende der Welt! Und er schluchzte, er stammelte, immerfort mit hilflosen Wahnsinnsgebärden durch die Luft greifend, wie um all diese Trümmer abzuwehren:

»Ihr seid Mörder! ... Ihr seid Mörder, alle Mörder!... Ihr kommt in den Bagno, alle, alle in den Bagno!«

Sérafine, die sich an seine Seite gesetzt hätte, wollte wieder seine Hände ergreifen, kämpfte tapfer mit ihm, um ihn zu besiegen.

»Nein! Ihr seid Mörder, alle Mörder!... Sie kommen in den Bagno, als erste in den Bagno!«

Sie hörte nicht auf ihn, redete unablässig zu ihm, sprach von rührenden Dingen, erinnerte ihn, wie sie das teure Kind geliebt habe, wie sie ihr zugetan gewesen sei. immerfort darauf bedacht, ihr Freude zu machen.

»Nein, nein, Sie sind die Mörderin!... In den Bagno, in den Bagno, alle seid ihr Mörder!«

Indessen hatte Sarraille, Sérafine ihrem Kampfe überlassend, Mathieu beiseite genommen, denn er vermutete in ihm einen möglichen Zeugen, wenn die Sache eine schlimme Wendung nahm. Und er erklärte ihm, wie die Operation vorgenommen werde, daß sie ganz einfach sei und kaum drei Minuten in Anspruch nehme. Nur sei stets die Gefahr einer Verblutung sehr groß. Er habe daher nur neue Pinzetten verwenden wollen, um die Arterien bis zur Verheilung zusammenzuhalten. Er habe acht Pinzetten verwendet, habe sogar die Vorsicht gebraucht, sich des Abends nochmals zu überzeugen, ob sie festhielten, habe sie nochmals überzählt; und nun, welches Unglück! Eine von ihnen sei des Nachts abgefallen, offenbar, weil die Feder infolge eines Fabrikationsfehlers nachgegeben habe. Und das sei nun sein einziger Selbstvorwurf, daß er ganz neue Pinzetten verwendet habe, die noch nicht erprobt waren; gerade sein Übermaß an gutem Willen habe das Unglück herbeigeführt! Dann mußte dazu noch kommen der schwere Schlaf der Wärterin, die Schwäche der Operierten, die offenbar nicht einmal gefühlt hatte, daß all ihr Blut hinfließe, und sanft gestorben sein müsse, so wie man einschläft. Und er schwor nochmals mit kühner Ruhe, daß die lokale Untersuchung einen jeden seiner Kollegen ganz ebenso getäuscht haben würde, im Zusammenhalt mit den so klaren Angaben der jungen Dame, deren Beschreibung ihrer angeblichen Schmerzen einen überzeugenden Ton von Wahrhaftigkeit gehabt hätte.

»Oh, ich bin sehr ruhig,« sagte er halblaut, »und im übrigen deckt mich auch die Baronin de Lowicz hier vollständig, denn auch sie hat gelogen, als sie mir eine Geschichte erzählte von einer Nichte, die ihr von ihren Eltern aus der Provinz hierhergesendet worden sei. Man kann mich anzeigen, ich werde mich verantworten. Es war eine ausgezeichnete, vollkommen gelungene Operation, um die mein Meister Gaude mich beneidet hätte!«

Er blieb jedoch sehr bleich, sein Mund war nervös verzogen, seine großen grauen Augen brannten in verbissener Empörung gegen das Schicksal, das sich unerbittlich feindselig gegen ihn stellte. Er hatte die Gefahr einer solchen Operation nur auf sich genommen, in der Hoffnung, die mitschuldige Baronin dann seinem Glücke dienstbar zu machen; und jetzt würde ein unsinniger Zufall ihn vielleicht vor das Kriminalgericht bringen! Er war nicht einmal mehr sicher, ob er die tausend Franken erhalten werde, die diese Frau ihm versprochen hatte; denn er kannte ihren Geiz, sie hätte nur aus Liebe für ihre kleine Freundin bezahlt. Er hatte in dieser Sache die schlimmste der Niederlagen erlitten, und eine ohnmächtige Wut erfüllte ihn, daß es ihm nicht gelingen wollte, dem Glück Gewalt anzutun.

Mathieu kehrte zu Sérafine zurück, die nicht aufgehört hatte, Morange mit ihrem Zureden, mit ihren Tröstungen zu betäuben. Sie hatte wieder seine Hände erfaßt, sie ermüdete ihn mit immer denselben Worten, sprach von ihrer Zuneigung, ihrem schrecklichen Schmerze, ihrer Furcht, das teure Andenken der Verstorbenen in den Kot gezerrt zu sehen, wenn er nicht vernünftig genug sei, das furchtbare Geheimnis zu bewahren. Sie nahm ihren Teil der Verantwortlichkeit auf sich, sagte, wie schuldig sie sei, sprach von ihrer ewigen Reue. Aber, im Namen Gottes, alles dies möge mit dem teuern Kinde in die Erde gesenkt werden, und auf ihrem Grabe möge nichts blühen als reine Blumen, die einmütige Klage um solche Jugend, um solche unschuldige Schönheit. Allmählich unterlag Morange, gab der Schwäche seines Herzens nach, und das Wort Mörder, das er immer noch in stumpfsinniger Beharrlichkeit wiederholte, wurde seltener und seltener, war jetzt nur noch ein stammelndes Murmeln, das von Tränen erstickt wurde. Seine Tochter vor Gericht gezerrt, ihr Körper geöffnet, seine Befleckung vor aller Augen ausgebreitet, die Zeitungen erfüllt mit der Erzählung des Verbrechens, mit der Beschreibung dieser schändlichen Höhle, in der er sie wiedergefunden – nein, nein! Er konnte das nicht wollen, diese Frau hatte recht. Die Erkenntnis seiner Machtlosigkeit, sie zu rächen, ließ ihn vollends vernichtet, gebrochen, als ob man ihn mit schweren Schlägen bearbeitet hätte, seine Glieder waren gelähmt, sein Kopf leer, sein Herz kalt und matt. Er verfiel in eine Art Kindlichkeit, er faltete die Hände, bat wie ein kleiner furchtsamer Knabe, mit klagendem Stammeln, mit der Verschüchterung, mit der Resignation eines armen Wesens, das um Mitleid fleht, weil es so leidet.

»Ich werde niemand was zuleide tun, tun Sie mir auch nichts zuleide... Nur, zeigen Sie sie mir, ich will sie sehen!«

Sérafine, die endlich gesiegt hatte, wollte sich erheben. Aber Mathieu mußte ihr helfen, so war auch sie gebrochen, erschöpft, am Ende ihrer Kräfte. Schweiß stand auf ihrer Stirne, sie mußte sich einen Augenblick auf den Arm stützen, den er ihr geboten hatte; dann sah er sie an, wie sie allmählich ihre stolze Gestalt aufrichtete, triumphierend, daß sie es mutig durchgeführt hatte, gleichwohl schon beeinträchtigt und erschüttert in ihrer Energie, ihre Freuden zu verteidigen. Nnd er war erstaunt, sie so gealtert zu finden, als ob die Anzeichen des Welkwerdens, die er schon bemerkt hatte, sich plötzlich verstärkt hätten, mit tausend Fältchen ihr bleiches Gesicht durchfurchend.

Morange streckte seine zitternden Hände aus, wiederholte seine klägliche Kinderbitte:

»Ich flehe Sie an, zeigen Sie sie mir, ich will sie sehen! Ich werde niemand etwas tun, ich werde ganz ruhig bei ihr bleiben.«

Sarraille willfahrte ihm endlich, da er ja nun resigniert schien. Man stützte ihn, man führte ihn durch einen kleinen Gang in das schreckliche Zimmer. Mathieu und Sérafine traten mit ihm ein, während der Arzt an der Schwelle der Tür, die weit offen gelassen wurde, stehenblieb.

Es war dasselbe Zimmer, das Zimmer des Grausens und des Entsetzens, in welchem der Mann vor nun acht Jahren seine Frau tot gefunden hatte. Dasselbe staubige Fenster ließ nur das grünliche Licht des Hofes herein, dieselbe elende Hotelzimmereinrichtung stand auf schmutzigem Boden, zwischen den vier kahlen Wanden mit der rotgeblümten, von der Feuchtigkeit losgelösten Tapete. Und hier, inmitten dieser Verwahrlosung, auf diesem elenden Bette, fand der Vater dieses Mal sein Kind, seine kleine Reine, sein Idol, seine Gottheit, deren alleiniger Kultus sein Leben ausfüllte. Ihr reizender Kopf ruhte auf ihren gelösten schwarzen Haaren. Das Gesicht war wachsbleich, als ob alles Blut ihres Körpers durch die verbrecherische Wunde entströmt wäre. Dieses im Leben so runde und frische Gesicht, das so viel liebenswürdige Fröhlichkeit, so warmes Verlangen nach Luxus und Wohlleben ausgedrückt hatte, hatte im Tode einen schrecklichen Ernst angenommen, ein verzweifeltes Bedauern um das, was sie in so entsetzlicher Weise verließ. Sie war tot, sie war allein, ohne eine Seele neben ihr, ohne eine Kerze. Man hatte ihr einfach die Decke bis ans Kinn hinaufgezogen, ebenso wie man, als einzigen Putz des Zimmers, sich damit begnügt hatte, unter dem Bette die Blutlache auszuwaschen, die die Matratze durchdrungen hatte. Und dieser große nasse Fleck auf der schlecht gereinigten und noch rötlichen Diele zeugte von dem grauenhaften Drama.

Taumelnd, trunken vor Schmerz, stand Morange da. Valérie, Reine, welche von beiden war es? Er wußte wohl, daß die Mutter in der Tochter auferstanden war, daß sie ihm so wiedergekehrt war, um einen Teil ihres Lebens der Liebe wieder an seiner Seite zu durchleben: er wußte wohl, daß beide immer nur eine Person gewesen waren, und jetzt war es bewiesen, da die Tochter nun hinging, wie die Mutter hingegangen war. Für einen Augenblick wieder aufgeblüht in ihrer Schönheit, unter der hellen Sonne, kehrte sie nun durch dieselbe abscheuliche Tür wieder in den Tod zurück. Zweimal hatte man sie ermordet. Nun war es zu Ende, sie würde nie wiederkehren. Und er, der Bejammernswerte, er erlitt die namenlose Qual, die noch kein Mensch gekannt, zweimal das geliebte Weib zu verlieren, zweimal die gräßliche Besudlung mitanzusehen, von der Flut von Schande und Verbrechen erreicht zu werden, die sein Herz mit fortriß.

Er fiel in die Knie, er weinte ohne Unterlaß; und als Mathieu ihn aufrichten wollte, murmelte er mit leiser, kaum hörbarer Stimme:

»Nein, nein, lassen Sie mich, alles ist zu Ende... Sie sind eine nach der andern dahingegangen, und ich allein bin der Schuldige. Einmal habe ich Reine belogen, indem ich ihr sagte, daß ihre Mutter verreist sei; und nun hat sie wieder mich belogen, indem sie mir diese Geschichte einer Einladung auf ein Schloß erzählte. Wenn ich mich vor acht Jahren der wahnwitzigen Tat meiner armen Valérie widersetzt hätte, wenn ich nicht ohnmächtig ihre Ermordung mitangesehen hätte, so wäre meine arme Reine heute nicht demselben entsetzlichen Wagnis erlegen. Es ist meine Schuld, ich, ich allein habe sie getötet! Die teuren Seelen! Wußten sie denn, was sie taten, war es nicht an mir, sie zu lieben, sie zu verteidigen, sie zu leiten und glücklich zu machen? Ich habe sie getötet, ich, ich bin ihr Mörder!«

Er sank zusammen, er erstickte in Schluchzen, er zitterte am ganzen Körper, von Todeskälte geschüttelt.

»Und ich Elender, ich blödsinniger Tor, weil ich sie zu sehr liebte, habe ich sie getötet! Sie waren so schön, sie hatten so viele verzeihliche Gründe, reich, fröhlich, glücklich sein zu wollen! Eine nach der andern hatten sie mir mein Herz genommen, ich habe nur in ihnen, durch sie, für sie gelebt. Als die eine nicht mehr da war, ist der andern Wille der meinige geworden, ich habe den ehrgeizigen Traum der Mutter wieder aufgenommen, in dem einzigen Wunsche, ihn für die Tochter wahr zu machen, in der all meine Liebe wieder auflebte... Und ich habe sie getötet, in dieses zweifache Verbrechen hat mich meine törichte Sucht gestürzt, zu steigen, das Glück zu besiegen, indem ich mein Bestes opferte, zuerst das arme Wesen, das, mit Gewalt vernichtet, die Mutter mit hinwegnahm, dann die Seele meiner Tochter, die, durch das Beispiel verdorben, von demselben Fieber brennend, in demselben Blutmeer verging. Oh, wenn ich denke, daß ich noch heute mittag wagte, mich glücklich zu nennen, daß ich nur diese Tochter habe, um nur sie lieben zu können! Welche wahnwitzige Blasphemie gegen das Leben, gegen die Liebe! Da liegt sie nun tot, tot gleich ihrer Mutter, und ich bin ganz allein, habe niemand mehr, den ich lieben kann, niemand mehr, der mich liebt! Weder Frau noch Kind, ohne Wunsch und ohne Willen, allein, ganz allein, für immer!«

Es war der Aufschrei äußerster Verlassenheit, er sank auf den Fußboden hin, leer, ein Klumpen in Menschengestalt; und er hatte nur noch die Kraft, Mathieu beide Hände zu drücken, indem er stammelte:

»Nein, nein, sagen Sie mir nichts. Sie allein hatten recht. Ich habe das Leben zurückgestoßen, und das Leben hat mir nun alles genommen.«

Mathieu umarmte ihn weinend, blieb noch einige Minuten in der schreckenerfüllten Höhle, welche von der entsetzlichen Lebensvernichtung befleckt war, die er bis jetzt schaudernd mitangesehen hatte. Endlich ging er und ließ Sérafine zurück, die sich des armen Mannes annahm, ihn gleich einem kranken Kinde behandelte, mit dem sie nun machen konnte, was sie wollte. –

In Chantebled fuhren Mathieu und Marianne fort zu arbeiten, zu schaffen, zu zeugen. Und während der zwei Jahre, die hingingen, waren sie abermals siegreich in dem ewigen Kampfe des Lebens gegen den Tod, durch das fortgesetzte Wachstum der Familie und der fruchtbaren Erde, das der Inhalt ihres Daseins war, ihre Freude und ihre Kraft. Die Begierde fuhr in Flammenstürmen hin, die göttliche Begierde machte sie fruchtbar, gab ihnen Kraft zu lieben, gut zu sein, gesund zu sein; und ihre Energie tat das übrige, ihre Tatfreudigkeit, die tapfere Beharrlichkeit in der nützlichen Arbeit, die die Welt aufbaut und in Ordnung hält. Aber während dieser zwei Jahre ward ihnen der Sieg nicht ohne schweren Kampf. Sie befanden sich noch immer in den schweren Anfängen ihres Werkes, sie weinten häufig vor Kummer und Schmerz. Die Geldausgaben waren beträchtlich, manchmal drohten die Ernten nicht genug einzubringen, um die Rechnungen der Bauleute und Lieferanten zu bezahlen. Je umfangreicher die Bewirtschaftung wurde, eine um so größere Anzahl von Gesinde, Arbeitern, Pferden und Rindern beanspruchte sie, ein großes Material und Personal, dessen tägliche Beaufsichtigung sie mit Arbeit zu erdrücken drohte, solange ihre Kinder noch nicht erwachsen genug waren, um ihnen einen Teil derselben abzunehmen. Mathieu leitete die Feldarbeiten, verbesserte sie ohne Unterlaß in fortwährender körperlicher und geistiger Tätigkeit, um die Erde dazu zu bringen, alles Leben herzugeben, das in ihrem Schoße schlummerte. Marianne herrschte im Hause, wachte über die Ställe, über die Meierei, über den Viehhof, erwies sich als eine ausgezeichnete Buchhalterin, führte die Rechnungen, zahlte aus, kassierte ein. Und trotz sich erneuernder Widerwärtigkeiten, unglücklicher Zufälle, unvermeidlicher Irrtümer, gab ihnen das Glück über alle Enttäuschungen und Verluste hinweg doch immer wieder recht, so tapfer und klug führten sie den unablässigen täglichen Kampf des Lebens.

Außer den neuen Gebäuden vergrößerte sich der Besitz um abermals dreißig Hektar sandiger Hänge bis zum Dorfe Monval, während auf dem Plateau dreißig weitere Hektar Waldgrund in der Richtung gegen Mareuil hinzukamen. Der Kampf Mathieus mit diesen dürren Hängen wurde härter und schwieriger, je weiter sein Tätigkeitsfeld sich ausdehnte; aber seine Idee erwies sich als genial, er errang schließlich doch den Sieg, erreichte es, sie jedes Jahr immer mehr zu befruchten, dank den lebenspendenden Quellen, mit denen er sie von allen Seiten überrieselte. Ebenso hatte er auf dem Plateau die neuerworbenen Wälder mit breiten Wegen durchschnitten, um Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen herzustellen, und um den Gedanken zu verwirklichen, die Lichtungen in Weiden zu verwandeln, wo er sein Vieh grasen ließ, bis es ihm möglich sein würde, sich der Aufzucht zu widmen. Auf allen Seiten war nun in dem wachsendem Schöpfungswerke der Kampf eingeleitet und dehnte sich immer mehr aus; zugleich vermehrten sich aber auch die Aussichten auf den endgültigen Sieg, die möglichen Verluste einer schlechten Ernte wurden wettgemacht durch den überreichen Ertrag, den ein andres Feld lieferte. Das gleiche galt für die Kinder, die fortfuhren zu wachsen, während der Besitz sich vergrößerte: die, welche ein wenig zurückblieben, schienen die andern zu fördern. Die Zwillinge Blaise und Denis, nun schon vierzehn Jahre alt, ernteten Prämien im Lyzeum, machten Ambroise, ihrem um zwei Jahre jüngeren Bruder, ein wenig Schande, der, lebhaften Geistes, erfinderisch, zu häufig andern Dingen nachging als seinen Aufgaben. Die vier jüngeren: Gervais, die beiden Mädchen Rose und Claire, sowie der kleinste, Grégoire, die noch zu jung waren, als daß man es gewagt hätte, sie täglich nach Paris zu senden, fuhren fort, in freier Luft aufzuwachsen, ohne sich allzuviel Wunden und Beulen zuzuziehen. Und als nach zwei Jahren Marianne ihr achtes Kind gebar, ein Mädchen, Louise, litt sie glücklicherweise nicht wie bei Grégoire, der ihr beinahe das Leben gekostet hätte: aber es dauerte trotzdem lange, bis sie genesen war, da sie eines Waschtages wegen sich zu früh erhoben hatte. Und als Mathieu sie wieder gesund und lächelnd sah, mit dem Kind auf den Armen, da küßte er sie leidenschaftlich, triumphierte wieder einmal über alle Schmerzen und allen Kummer. Noch ein Kind, das bedeutete noch Reichtum und Macht, eine neue in die Welt geworfene Kraft, ein neues für die Zukunft besätes Feld.

Und so wuchs immerfort das große und gute Werk, das Werk der Fruchtbarkeit durch die Erde und durch die Frau, siegreich über die Vernichtung, für jedes neue Kind neue Lebensmittel schaffend, liebend, wollend, kämpfend, arbeitend unter Leiden, unaufhörlich zu neuem Leben, neuer Hoffnung fortschreitend.


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