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21. Kapitel.
Der Brief des Kaisers

Es ist über Nacht Winter geworden. Von den höchsten Hügeln bis zur sanft plätschernden Brandung an den schwarzen Rändern des Sees hat er seinen weißen Mantel gebreitet. Und dennoch: während ich hier sitze und diesem schlichten Bericht einer seltsamen Episode meines Lebens noch ein paar Worte hinzufüge, löst sich die winterliche Landschaft vor meinen Augen auf und ich sehe jene Morgendämmerung im Walde wieder vor mir. Francis und Monika, die Seite an Seite schliefen, wie Hänsel und Gretel im Walde, den keuchenden, aufgeregten Jagdhund und mich selbst, eine arme, zerlumpte Vogelscheuche, die mit offenem Mund auf den Holländer starrte, dessen freundliche Frage mir soeben die märchenhafte Wahrheit enthüllt hatte ..., daß wir über der Grenze waren und geborgen.

Wenn ich an jenen Morgen zurückdenke, so erinnere ich mich an keinerlei stürmische Freudenbezeugungen, an hysterische Ausbrüche oder Lobgesänge über unsere Rettung, wohl aber an ein herrliches, heißes Bad und ein üppiges Frühstück im Hause des freundlichen Holländers, dem ein unbeschreibliches Aufgebot an Gastfreundschaft bei van Urutius folgte, der nur etwa zehn Meilen vom Waldrand entfernt wohnte.

Frau van Urutius nahm Monika unter ihre Fittiche und steckte sie sofort ins Bett, während Francis und ich schleunigst nach Rotterdam reisten, wo wir eine Unterredung im englischen Konsulat hatten, mit dem Erfolg, daß wir am nächsten Tage den Dampfer nach England besteigen konnten.

Infolge verschiedener Telegramme, die Francis aus Rotterdam abgeschickt hatte, erwartete uns am nächsten Abend ein Auto bei unserer Ankunft in der Fennchurch-Street. Es brachte uns unverzüglich zum Chef meines Bruders. Francis bestand darauf, daß ich die in unserem Besitz befindliche Hälfte des Dokuments persönlich ablieferte.

»Du hast sie erobert, Des«, sagte er, »und es ist nicht mehr als recht und billig, daß du dafür belohnt wirst. Ich kann ja die Aktenmappe vom Klumpfuß als Jagdtrophäe vorweisen. Nur schade, daß wir die andere Hälfte aus der Gepäckabgabestelle in Rotterdam nicht auch mitgenommen haben.«

Wir wurden sofort zum Chef hereingeführt. Zu meiner Überraschung empfing er uns mit lässiger Ruhe.

»Guten Abend, Okewood«, sagte er und nickte Francis zu. »Ist das Ihr Bruder? Freut mich sehr.«

Er reichte mir die Hand und schwieg. Es entstand eine deutlich fühlbare Pause. Ich war richtig verlegen, zog meine Brieftasche heraus, nahm die drei Streifen Papier und legte sie vor dem Chef auf den Schreibtisch.

»Ich habe Ihnen was mitgebracht«, sagte ich bescheiden.

Er nahm die Streifen Papier in die Hand und sah sie sich einen Augenblick an. Dann öffnete er eine Mappe auf seinem Schreibtisch und zog die zweite Hälfte des kaiserlichen Briefs heraus, die ich noch in der Handtasche auf dem Rotterdamer Bahnhof glaubte. Er legte die beiden Hälften nebeneinander. Sie paßten genau. Dann machte er die Mappe zu und legte sie in ein Safe am Ende des Zimmers, das er abschloß. Als er zurückkam, hielt er uns seine beiden Hände entgegen, die rechte gab er mir, die linke Francis.

»Brave Jungs! Brave Jungs! Habt eure Sache gut gemacht«, sagte er.

»Aber die andere Hälfte da ...«, fing ich an.

»Ihr Freund Ashcroft ist durchaus nicht so dumm wie er aussieht«, lachte der Chef. »Er hat was sehr Gescheites getan. Er hat mir nämlich Ihre beiden Briefe gebracht. Für das übrige habe ich dann schon gesorgt. Und als ich das Telegramm Ihres Bruders aus Rotterdam erhielt, habe ich die andere Briefhälfte aus dem Safe herausgeholt und sie für Sie bereitgelegt!«

»Aber woher wußten Sie denn, daß wir die zweite Hälfte des Briefes in Händen hatten?«, fragte ich.

Der Chef lachte wieder.

»Meine jungen Leute melden ihre Ankunft nicht telegraphisch an, wenn sie nichts erreicht haben«, erwiderte er. »Na, und jetzt erzählen Sie mir mal alles!«

So erzählte ich denn meine ganze Geschichte von Anfang an. Als ich zu Ende war, sagte er:

»Sie scheinen viel natürliches Talent für unsern Beruf zu haben, Okewood, eigentlich schade, es an der Front zu vergeuden ...«

Ich fiel rasch ein: »Ich habe noch ein paar Wochen Erholungsurlaub«, sagte ich »und dann möchte ich gern an die Front zurück. Diese Art Dienst ist zu aufregend für mich.«

»Na«, erwiderte der Chef, »das wird sich später finden. Inzwischen werden wir nicht vergessen, was Sie getan haben, und ich werde dafür sorgen, daß es auch anderswo nicht vergessen wird.«

Daraufhin verabschiedeten wir uns. Erst als wir draußen waren, fiel mir ein, daß er mir nichts über den Ursprung und das Verschwinden des kaiserlichen Briefs gesagt hatte, was ich doch brennend gern wissen wollte.

Mein Freund, der mit den roten Streifen, dem ich bei einem unserer vielen Besuche bei mysteriösen, aber offenbar wichtigen Beamten begegnete, klärte mich schließlich über die vielen dunklen Punkte meines Abenteuers auf. Als er mich erblickte, brach er in Gelächter aus.

»Meiner Seel«, sagte er, »Sie scheinen ja wirklich auf einen bloßen Wink hin handeln zu können?«

Und dann erzählte er mir die Geschichte von dem Brief des Kaisers.

»Von dem Inhalt dieses seltsamen Briefes brauche ich Ihnen ja wohl nichts zu sagen«, fing er an, »den kennen Sie sicher besser als ich. Das Datum allein ... 31. Juli 1914 ... erklärt schon mancherlei. Am letzten Julitag zitterte die Waage des europäischen Friedens im wahrsten Sinne des Worts. Sie kennen doch des Kaisers launisches Wesen, seine Sucht nach Ruhm und militärischer Ehre, seine krankhafte Angst vor dem Unbekannten. In jener schicksalsschweren letzten Juliwoche wurde er zwischen einander widerstrebenden Kräften hin und her gerissen. Auf der einen Seite stand die gesamte preußische Militärpartei, geführt vom Kronprinzen und der unmittelbaren Umgebung des Kaisers. Auf der anderen die Erinnerung an den Wohlstand, den die Jahre des Friedens seinem Reich beschieden hatten. Er mußte wählen zwischen seinem eigenen Größenwahn, der nach militärischen Lorbeeren trachtete, einerseits, und jenem Platz als Friedensfürst in der Geschichte, nach dem es ihn in sanfteren Augenblicken so oft verlangt hatte, andererseits.

Der Kaiser ist ein Stimmungsmensch. In einem Anfall von Niedergeschlagenheit, als ihm die Vision des Friedens hehrer erschien als das Gespenst des Krieges, hat er sich hingesetzt und diesen Brief geschrieben. Gott weiß, was für seltsame Gemütsbewegungen ihn veranlaßt haben, diesen Appell an seinen englischen Freund zu schicken, einen Appell, der ihn des höchsten Verrats gegen seine Bundesgenossen überführen würde, wenn er an die Öffentlichkeit gelangte. Er hat diesen Brief nicht mit dem gewöhnlichen Kurier nach London geschickt, sondern einen besonderen Boten dazu auserwählt, dem er einschärfte, den Brief dem deutschen Botschafter, Grafen Lichnowsky, persönlich auszuhändigen. Lichnowsky sollte ihn dem Adressaten eigenhändig übergeben.

Kaum aber war der Brief fort, als der Kaiser einzusehen schien, was er getan hatte, und seinen Schritt bereute. Versuche, den Boten aufzuhalten, ehe er die englische Küste erreichte, sind offenbar fehlgeschlagen. Wir wissen jedenfalls, daß Lichnowsky den ganzen 31. Juli und 1. August über mit Depeschen bombardiert worden ist, in denen ihm befohlen wurde, den Boten mit dem Brief nach Berlin zurückzuschicken, sobald er in der Botschaft auftauchte.

Der Kurier ist aber niemals bis zur Carlton House Terrace gekommen. Irgendein Mitglied der Berliner Kriegspartei hatte von dem verhängnisvollen Brief Wind bekommen und benachrichtigte jemanden von der deutschen Botschaft in London – die preußischen Kriegshetzer waren ja dort durch Kühlmann und andere Leute dieses Schlages gut vertreten – damit der Brief abgefangen würde.

Der Brief ist tatsächlich abgefangen worden. Wie das geschehen ist und durch wen, haben wir nie herausbekommen, Lichnowsky hat den Brief jedenfalls nie zu Gesicht bekommen. Auch hat der Kurier London nicht verlassen. Er ist offenbar mit dem kaiserlichen Brief in der Hand in ein Haus in Dalston gezogen, wo er einen Tag nach unserer Kriegserklärung verhaftet wurde.

Dieser Kurier nannte sich Schulte. Wir wußten damals nicht, daß er zu den kühnsten und erfolgreichsten Spionen gehörte, die Deutschland jemals hier unterhalten hat. Einer unserer Leute sah ihn ganz zufällig bei seiner Ankunft in London und folgte ihm unbemerkt nach Dalston, wo er ihn prompt einsperren ließ, als der Krieg ausbrach.

Schulte wurde interniert. Sie haben ja erfahren, wie einer seiner Briefe, der von der Zensur abgefangen wurde, uns auf die Spur des interessanten Briefes brachte, und Sie wissen ja auch, was für Schritte von unserer Seite unternommen worden sind, um in den Besitz des Dokuments zu gelangen. Allein wir wurden irregeführt ..., nicht von Schulte, sondern durch den Verrat seines Vertrauten, des Dolmetschers im Internierungslager.

Diesem Manne hatte Schulte den kostbaren Brief anvertraut und hatte ihm anbefohlen, ihn auf Schleichwegen an eine bestimmte Adresse nach Cleve zu schicken. Als Entgelt hatte er ihm 25 Prozent von der für den Brief ausgesetzten Belohnung versprochen. Der Dolmetscher nahm den Brief, tat aber nicht, was verabredet worden war. Im Gegenteil, er schrieb dem Zwischenträger, mit dem Schulte korrespondiert hatte (vermutlich Dr. Grundt) und teilte ihm mit, er wisse, wo sich der Brief befinde und sei bereit, ihn zu verkaufen, nur müsse der Käufer nach England kommen und ihn holen.

Kurz und gut, der Dolmetscher machte ein Geschäft mit den Hunnen, und dieser Doktor Semlin wurde von Washington, wo er für Bernstorff gearbeitet hatte, nach England geschickt, um den Brief an der vom Dolmetscher bezeichneten Adresse abzuholen. Inzwischen waren wir hinter dem Dolmetscher her, der wie Schulte sein Leben lang Spionage getrieben hatte, und er wurde verhaftet.

Wir wissen, was Semlin vorfand, als er nach London kam. Dieser Schurke von Dolmetscher hatte den Brief in zwei Teile gerissen, um seines Geldes auch ganz sicher zu sein und hatte wahrscheinlich vor, die zweite Hälfte erst nach Bezahlung herauszugeben. Bevor aber Semlin nach Deutschland kam, wurde der Dolmetscher eingesperrt, und Semlin mußte melden, daß er nur die Hälfte des Briefes bekommen hätte. Das übrige wissen Sie ja ..., wie Grundt auf der Bildfläche erschien und die zweite Hälfte aufspürte. Fragen Sie mich nicht, wie er das angestellt hat: ich weiß es nicht; wir haben auch nie herausbekommen, wo der Dolmetscher die zweite Hälfte versteckt hatte und wie Grundt diesen Platz entdeckte. Aber er führte seinen Auftrag aus und kam mit der Beute davon. Alles andere wissen Sie besser als ich.«

»Aber wer ist denn nur Dr. Grundt?«, fragte ich.

»Diese Frage haben schon viele gestellt«, erwiderte der mit den roten Streifen, »und manche haben nicht lange auf Antwort zu warten brauchen. Der Mann war nur wenigen dem Namen nach bekannt, noch weniger Menschen kannten ihn von Ansehen, aber ich zweifle, daß irgendein Mann jemals mehr geheime Macht besessen hat als er. Nach außen hin war er nichts, existierte überhaupt nicht. Aber im Dunkeln beobachtete er, spionierte er und schmiedete Pläne für seinen Herrn, war das Werkzeug des kaiserlichen Zorns, das Instrument der kaiserlichen Rache.

»Ein Mann wie der Kaiser«, fuhr mein Freund fort, »hat von Natur aus Feinde und schafft sich noch viel mehr. Als Oberhaupt des Heeres und der Marine, der Kirche und des Staates, als autokratischer, unbestrittener Herr, ist er dauernd vor wichtige persönliche Entscheidungen gestellt und in politische Fragen verwickelt. In dieser Sphäre, wo Persönliches mit Politischem verwoben ist, war Dr. Grundt Herrscher. Es gibt in jedes Mannes Leben Ereignisse, Okewood, die das Licht des Tages schwerlich ertragen. In einem autokratischen Staate aber sind solche Dinge gewöhnlich unentwirrbar verbunden mit politischen Fragen. In diesen dunklen Gründen war der Klumpfuß zu Hause. Er hatte sich vor niemand als einzig vor dem Kaiser zu verantworten. Seine Arbeit war so heikler, so vertraulicher Natur, daß er nur seinem Kaiserlichen Herrn Bericht erstattete. Niemand konnte ihn aufhalten, niemand seine Pläne durchkreuzen.«

Der mit den roten Streifen dachte einen Augenblick lang nach und fuhr dann fort: »Kein Mensch kann die Verbrechen zählen, die Dr. Grundt begangen hat, kein Mensch kennt das volle Maß seiner Gemeinheit, nicht einmal der Kaiser kennt die Art und Weise, in der dieser Erpresser seine Befehle ausführte, das glaube ich behaupten zu können, denn diese Befehle waren ja meist in einem Augenblick des Mutwillens, im Sturm der Leidenschaft herausgesprudelt und im nächsten Moment in der Erregung einer neuen Sensation, bereits vergessen. Ich weiß allerhand von dem Sündenregister des Klumpfußes, von unschuldigen Leben, die er zerstört, von Karrieren, die er vernichtet hat, von plötzlichem Verschwinden und gewaltsamen Todesfällen. Als Sie und Ihr Bruder mit dem Klumpfuß abgerechnet haben, Okewood, haben Sie ein gerechtes Strafgericht vollzogen, aber nicht nur das, Sie haben auch seinen Landsleuten einen bedeutsamen Dienst erwiesen.«

Die Bemerkungen über Dr. Grundt fielen mir ein, die ich in Haases Lokal aufgeschnappt hatte, und ich begriff, daß der mit den roten Streifen den Nagel wieder auf den Kopf getroffen hatte.

»Übrigens«, sagte der mit den roten Streifen, als ich aufstehen und gehen wollte, »interessiert es Sie vielleicht, die Todesanzeige des Dr. Grundt zu lesen? Ich hab sie für Sie aufbewahrt.« Damit reichte er mir eine deutsche Zeitung, ich glaube das »Berliner Tageblatt«, in dem eine Notiz mit Rotstift angestrichen war. Ich las folgendes:

» Herr Dr. Adolf Grundt, Mittelschuldirektor, ist nach einem Schlaganfall plötzlich sanft entschlafen. Der Verstorbene war jahrelang eng verbunden mit einer Anzahl von Wohltätigkeitsvereinen, die unter dem Protektorat des Kaisers standen. Seine Majestät fragte Doktor Grundt oft wegen der Verteilung der Summe um Rat, die jährlich aus der Privatschatulle für wohltätige Zwecke zur Verfügung gestellt wurde.«

»Hübsches Beispiel für preußischen Zynismus, wie?« lachte der Mann mit den roten Streifen. Ich aber griff mir an den Kopf ..., war Dr. Grundt nun wirklich tot?

Jede Woche geht ein Paket mit Eßwaren an 3143 Sappeur Ebenezer Maggs, Britischen Kriegsgefangenen im Gefangenenlager Friedrichsfeld bei Wesel. Ich habe mich mit seiner Familie in Verbindung gesetzt, aber seit seiner Flucht haben sie nichts mehr von ihm gehört. Sobald sie etwas erfahren, werden sie es mir mitteilen, aber ich mache mir Sorgen seinetwegen.

Ich wage nicht, ihm zu schreiben, um ihn nicht bloßzustellen, und aus demselben Grunde traue ich mich nicht, mich offiziell nach ihm zu erkundigen. Wenn er jene Schüsse im Dunkeln überlebt hat, so büßt er jetzt bestimmt eine schwere Strafe ab, und in diesem Fall ist ihm wohl das Recht entzogen, Briefe zu schreiben oder zu empfangen ...

Allein die Wochen vergehen, und ich bekomme keine Nachricht aus Chewton Mendip ... Fast täglich frage ich mich, ob der tapfere Junge diese Nacht überlebt hat und dann wieder in das elende Hungerlager zurück mußte oder ob sich seine heldenhafte Seele aus dem Dunkel des Waldes aufgeschwungen hat und endgültig von den Leiden dieser Welt erlöst ist ... Armer Sappeur Maggs!

Francis und Monika befinden sich auf der Hochzeitsreise an der Riviera. Gerry hätte bestimmt die Einladung zu ihrer Hochzeit abgelehnt, aber er ist gar nicht erst eingeladen worden. Francis bekommt eine Stellung beim Spionagedienst in Frankreich, wenn sein Urlaub zu Ende ist.

Ich gehe Heiligabend an die Front zurück.

 

Ende

 


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