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4. Kapitel.
Das Schicksal klopft an die Tür

Der moderne Krieg lehrt einen mindestens zweierlei: in Gefahr einen kühlen Kopf zu behalten und zweitens, keine Angst vor Leichen zu haben. Daher war ich kaum überrascht, daß ich so ruhig da im Dunkeln stand und die außerordentliche Situation, in der ich mich befand, nüchtern betrachtete. Das ist das Merkwürdige, wenn man verschüttet war: ein auspuffendes Auto oder ein platzender Reifen kann einem die Tränen in die Augen treiben, aber im Angesicht der Gefahr bleibt man vermutlich vollkommen gefaßt, falls nicht ein plötzliches und heftiges Geräusch dazu tritt.

So kurze Zeit das Geräusch da draußen auch gedauert hatte, nach einigem Überlegen wußte ich mir dieses hastige Fingertrommeln, dies Keuchen und Röcheln zu deuten. Jeder, der einen Menschen hat sterben sehen, kennt das. Ich vermutete also, daß ein Sterbender an meine Tür gekommen war. Wahrscheinlich, um Hilfe zu suchen.

Dann fiel mir der Mann nebenan ein, sein mühsames Atmen und seine bläulichen Lippen, als er sich mit seinem Schlüssel nicht zurechtfand, und ich ahnte, wer der nächtliche Besucher war, der da im Dunkeln zu meinen Füßen lag.

Hinter der hohlen Hand zündete ich meine Kerze wieder an. Dann nahm ich den Kampf mit den flatternden Gardinen auf und bekam das Fenster endlich zu. Dann erst hob ich meine Kerze in die Höhe, bis ihre Strahlen auf die stille Gestalt fielen, die auf der Schwelle meines Zimmers lag.

Es war der Mann von Nr. 33. Er war tot. Sein Gesicht war bleich und verzerrt, seine Augen standen glasig zwischen halbgeschlossenen Lidern, und unter den Nägeln seiner steifen, gekrümmten Finger sah man Farbe, Lack und Staub vom Scharren auf Teppich und Tür in seiner Todesangst.

Man brauchte kein Arzt zu sein, um festzustellen, daß ein Herzschlag ihn rasch und plötzlich hinweggerafft hatte.

Jetzt, da ich das Schlimmste wußte, handelte ich entschlossen. Ich packte den Leichnam an den Schultern und zog ihn ins Zimmer herein, bis zur Mitte des Teppichs. Dann sperrte ich die Tür ab.

Die bösen Vorahnungen, die mich schon befallen hatten, als ich die Schwelle dieses düsteren Hotels betrat, bemächtigten sich jetzt meiner mit doppelter Stärke. Wahrhaftig, meine Situation war, gelinde ausgedrückt, wenig beneidenswert. Ich, ein britischer Offizier mit britischen Papieren, konnte jeden Augenblick in einem deutschen Hotel entdeckt werden: in das ich mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hineingeschmuggelt hatte, noch dazu mitten in der Nacht, und allein mit der Leiche eines Deutschen oder eines Österreichers, denn das war der Tote offensichtlich!

Ich saß zweifellos in einer höchst peinlichen Klemme.

Ich lauschte.

Im Hotel war alles grabesstill.

Da wandte ich mich von meinen düsteren Gedanken fort und blickte wieder auf den Fremden. Sein krauses, schwarzes Haar und die leicht hervortretenden Backenknochen ließen mich, wie vorhin, auf jüdische Abstammung schließen. Jetzt aber, wo die Augen des Mannes – seine großen, nachdenklichen Augen, die mich aus der Dunkelheit des Flurs angestarrt hatten – geschlossen waren, wirkte er viel weniger fremdartig als vorhin: man hätte ihn sogar beinahe für einen Engländer halten können.

Es war ein junger Mann – ungefähr in meinem Alter, achtundzwanzig, taxierte ich – und ungefähr in meiner Größe, also 1,80 Meter. Seine Erscheinung und sein Wuchs riefen eine leise unbestimmte Erinnerung in mir wach.

Hatte ich den Burschen schon einmal gesehen?

Jetzt fiel mir ein, daß er mir schon vorhin, als ich ihn draußen auf dem Korridor sah, merkwürdig bekannt vorgekommen war.

Ich blickte wieder zu ihm nieder. Er lag mit dem Rücken auf dem alten Teppich. Ich brachte meine Kerze ganz nahe an sein Gesicht heran und vertiefte mich in seine Züge.

Er sah wirklich weniger fremdländisch aus als vorhin. Vielleicht war er überhaupt gar kein Deutscher, sondern eher ein Ungar oder ein Pole, vielleicht sogar ein Holländer. Für einen Franzosen hatte er zu akzentlos deutsch gesprochen, für einen Ungar eigentlich auch.

Ich lehnte mich auf meinen Knien zurück, um eine bequemere Stellung einzunehmen. Dabei sah ich den Fremden im Dreiviertel-Profil.

Wahrhaftig! Er erinnerte mich ein bißchen an Francis!

Es war wirklich eine Spur von meinem Bruder in dem Gesicht dieses Mannes. Machte es das dichte schwarze Haar, der kleine schwarze Schnurrbart? Oder lag es an dem schön geformten Mund? Von einer ausgesprochenen Ähnlichkeit konnte man eigentlich nicht sprechen. Trotzdem hatte er etwas von Francis.

Der Fremde war vollständig angekleidet. Sein blaues Cheviot-Jackett stand offen, und ich sah in der inneren Brusttasche ein Portefeuille. Vielleicht würde ich daraus erfahren können, wer der Fremde war. Ich angelte die Brieftasche heraus und kramte dann rasch in den übrigen Taschen des Fremden.

Die Brieftasche ließ ich bis zuletzt.

In der Jacke war nichts zu finden außer einem seidenen Taschentuch ohne Namen. In der oberen Westentasche rechts steckte ein hübsches, ganz glattes, silbernes Zigarettenetui mit einem halben Dutzend Zigaretten. Ich nahm eine heraus und betrachtete sie. Es war eine Melania, eine Zigarette, die ich zufällig kenne, weil sie in einem meiner Clubs, im Dionysos, geführt wird und das der einzige Ort in London ist, wo man diese Sorte bekommt.

Es sah so aus, als sei mein unbekannter Freund aus London gekommen.

Er hatte auch eine glatte, silberne Schweizer Uhr.

In den Hosentaschen war etwas Kleingeld, englisches Silber und Kupfer, sowie ein paar holländische Silbermünzen und Papiergeld. In der rechten Hosentasche steckte ein Schlüsselbund.

Das war alles.

Ich legte die verschiedenen Gegenstände neben mich auf den Boden. Dann stand ich auf, stellte den Leuchter auf den Tisch, zog mir einen Stuhl heran und öffnete die Brieftasche.

In einem kleinen Innenfach steckten Visitenkarten.

Auf einigen stand nur, in kleinen Buchstaben, der Name:

Dr. Semlin

Andere waren ausführlicher:

Dr. Semlin
Brooklyn, N.Y.
The Halewright Mfg. Co., Ltd.

Dann waren noch ein halbes Dutzend Privatkarten da:

Dr. Semlin
333 E. 73rd. St. Rivington Park House New York

Unter den Karten befand sich eine einzelne, die größer war als die übrigen, ein feines Ding aus dickem Hochglanzkarton, auf der in gotischen Buchstaben folgender Name stand:

Otto v. Steinhardt

Auf dieser Karte stand mit Bleistift über dem Namen:

Hotel Sixt, Vos in't Tuintje

und in Klammern:

Mme. Anna Schratt

In einem anderen Fach der Brieftasche war ein amerikanischer Paß mit einem großen Adler oben und einem riesigen roten Siegel, der auf den Namen Henry Semlin, Bürger der Vereinigten Staaten, lautete. Aus dem Inhalt dieses Dokuments erfuhr man noch, daß Henry Semlin am 31. März 1886 geboren war, daß er schwarzes Haar, eine Adlernase, ein grobes Kinn und keine besonderen Merkmale hatte und nach Europa reisen wollte. Die Beschreibung genügte, um mir zu beweisen, daß es Henry Semlins Leiche war, die hier zu meinen Füßen lag.

Der Paß war vor drei Monaten in Washington ausgestellt worden. Das einzige Visum, das er trug, war das der amerikanischen Botschaft in London, das von vorgestern datiert war. Daneben lag eine Ausreisebewilligung auf den Namen des Fabrikanten Henry Semlin, die ihm gestattete, das Vereinigte Königreich zu verlassen, um nach Rotterdam zu fahren, ferner eine Rechnung für ein an Bord des königlich-holländischen Postdampfers »Koningin Regentes« gestern eingenommenes Frühstück.

In den langen aufregenden Wochen, die jener bangen Nacht in dem Hotel der Vos in't Tuintje folgten, habe ich mich oft gefragt, welcher listige Teufel mir wohl den sinnlosen Gedanken einflüsterte, der plötzlich in meinem Gehirn entstand, als ich so in dem schmuddligen Zimmer in der Brieftasche des Toten herumstöberte. Der Einfall kam mir ganz blitzartig, und blitzartig handelte ich auch dementsprechend, obgleich ich kaum glaube, daß ich ihn ernsthaft bis zu Ende durchführen wollte, bis ich wieder draußen vor meinem Zimmer stand.

Die Durchsicht der Papiere des Toten hatten erwiesen, daß er ein amerikanischer Geschäftsmann war, der eben aus London kam, nachdem er vor kurzer Zeit erst aus den Vereinigten Staaten nach England gereist war.

Was ich nicht recht begriff war, warum gerade ein amerikanischer Fabrikant, der offenbar gut situiert und anständig angezogen war, auf Empfehlung eines Deutschen hin, der seinem Namen und der Qualität seiner Visitenkarte nach aus guter Familie stammte, in einem deutschen Hotel abgestiegen sein sollte.

Es konnte natürlich sein, daß Semlin genau so wie ich auf der Durchreise in Rotterdam übernachten wollte und von einem deutschen Bekannten hier zu diesem Hotel gewiesen worden war, aber Amerikaner sind doch vorsichtig, und es war recht unwahrscheinlich, daß dieser amerikanische Geschäftsmann sich mit viel Geld in der Tasche – er hatte ein dickes Paket mit mehreren hundert Pfund in holländischen Noten in seinem Portefeuille – in ein so übel aussehendes Haus hineingewagt haben sollte.

Ich wußte, daß die britischen Behörden Neutralen lebhaft abrieten, während des Krieges zwischen England und Deutschland hin und her zu reisen. Vielleicht hatte Semlin auf seiner Europareise auch mit Deutschland Geschäfte machen wollen, genau wie mit England. Da er aber die Haltung der britischen Behörden kannte, war es gut möglich, daß er in Holland Vorkehrungen getroffen hatte, um nach Deutschland zu kommen, damit die britische Polizei nichts von seinem Vorhaben erführe und ihm nicht die Überfahrt nach Rotterdam verweigerte.

Aber er hatte tadellos deutsch gesprochen, ohne den allergeringsten amerikanischen Akzent, und ich wußte, wie gut die deutsche Spionage neutrale Pässe schon früher verwendet hatte. Daher beschloß ich, ins Nebenzimmer zu gehen und mal einen Blick auf Dr. Semlins Gepäck zu werfen. Im Hintergrund hatte ich immer noch diesen verrückten Gedanken, der zwar noch nicht recht Gestalt angenommen, aber trotzdem in meinem Kopf feste Wurzel gefaßt hatte.

Ich nahm also wieder meinen Leuchter in die Hand und schlich mich aus dem Zimmer. Als ich im Korridor stand und mich umwandte, um die Tür hinter mir zuzumachen, warf ich einen Blick in den Spiegel am Ende des Flurs.

Ich sah mein schlohweißes, starres Gesicht.

Ich blickte noch einmal hin. Da fand ich die Lösung des Rätsels, das mir das Gesicht des toten Fremden in meinem Zimmer aufgegeben hatte.

Nicht an Francis erinnerten diese Züge.

Mir selber sah er ähnlich!

Im nächsten Augenblick befand ich mich im Zimmer Nr. 33. Der Zimmerschlüssel war nirgends zu sehen; Semlin hatte ihn wohl beim Fallen aus dem Schloß gerissen. Ich mußte mich also beeilen, um keine unliebsamen Störungen zu erleben. Ich hatte es noch nicht elf Uhr schlagen hören.

Hut und Mantel des Fremden lagen auf einem Stuhl. Der Hut war von Scott. In der Manteltasche steckten nur ein Paar Lederhandschuhe.

Ein mittelgroßer Handkoffer stand offen auf dem Tisch. Er enthielt ein paar Toilettengegenstände, ein Pyjama, ein reines Oberhemd, ein Paar Hausschuhe ..., nichts von Bedeutung und kein Schnitzelchen Papier.

Ich suchte noch einmal alles durch, kramte im Schwammbeutel, öffnete das Etui des Rasierapparats, schüttelte das Hemd aus und leerte schließlich den ganzen Inhalt des Koffers auf den Tisch aus.

Am Boden der Tasche machte ich eine seltsame Entdeckung. Der Koffer war mit einem dünnen, gelben, baumwollenen Stoff, wie fast alle billigen Koffer, gefüttert. Am Boden der Tasche war anscheinend ein rechteckiges Stück Futter sorgfältig ausgeschnitten worden. Durch den Schlitz sah man das Leder hindurchschimmern. Die Ränder des Lochs waren nirgends rissig und zeigten keine Spur von Gewalt. Im Gegenteil, sie waren wieder säuberlich an das Leder festgeklebt worden.

Ich hob den Koffer in die Höhe und betrachtete ihn genau. Dabei bemerkte ich nebenan auf dem Tisch ein rechteckiges Stück gelben Baumwollstoffs. Ich nahm es in die Hand, und es stellte sich heraus, daß es unten Flecken von Leim und braunem Leder hatte.

Es war das fehlende Stück Futter, in dem innen etwas knisterte.

Ich ritzte das Stück Stoff mit meinem Taschenmesser an der Seite auf. Es enthielt drei lange Streifen Papier. Dickes, kostbares, steifes Hochglanzpapier. Oben, unten und links waren die drei Streifen tadellos glatt. An der vierten Seite fehlte eine Ecke, und es sah aus, als sei sie mit einem Messer abgeschnitten worden. Die drei Streifen Papier bildeten zusammen einen halben Briefbogen, der von oben bis unten der Länge nach entzweigerissen worden war.

Oben auf jedem Streifen befand sich ein Stück irgendeines goldenen Wappens, das man aber nicht erkennen konnte, denn das Wappen hatte in der Mitte des Bogens gesessen, und der Schnitt war mitten durchgegangen.

Der Brief war in englischer Sprache geschrieben, aber das Datum und der Name des Empfängers befanden sich auf der fehlenden Hälfte.

Irgendwo in der Stille der Nacht hörte ich eine Tür knallen. Ich steckte die Papierstreifen in ihr Baumwoll-Futteral zurück und beides in meine Hosentasche. Man durfte mich nicht in diesem Zimmer finden. Mit zitternden Händen fing ich an, die Sachen in den Koffer zurückzupacken. Diese Papierschnitzel, überlegte ich während der Arbeit, werden endlich den geheimnisvollen Schleier lüften, der die Leiche nebenan umhüllt. Eines stand jedenfalls fest: Ob Henry Semlin, der Fabrikant und Spion, nun Deutscher, Amerikaner oder Bindestrich-Amerikaner war, er war gewiß nicht aus geschäftlichen Gründen von Amerika nach England gereist, sondern um in den Besitz des verstümmelten Dokuments zu gelangen, das jetzt in meiner Tasche ruhte. Warum er nur die Hälfte des Briefes bekommen hatte, und was aus der anderen geworden war, war mehr als ich sagen konnte ... Mir genügte die Erkenntnis, daß diese Hälfte hier wichtig genug war, um eine Reise von der neuen in die alte Welt zu veranlassen.

Beim Öffnen der Tasche stießen meine Finger auf einen harten, offenbar metallischen Gegenstand, der im Winkel der Futterfalten eingebettet lag. Zuerst meinte ich, es sei eine Münze, aber dann spürte ich eine Art Nadel dahinter wie bei einer Brosche. Ich nahm mein Taschenmesser wieder zu Hilfe und zog eine kleine Kupfermünze ans Licht, etwa von der Größe eines Regimentsabzeichens, wie man es an Mützen trägt. Eine Inschrift stand darauf. In gestanzten Buchstaben las ich:

O2 G Abt. VII

Das war Dr. Semlins wahre Visitenkarte. Ich hatte eine Erkennungsmarke der deutschen Geheimpolizei in der Hand.

Wenn man in Deutschland ein bißchen hinter die Kulissen schaut, so stößt man bald auf Abteilung VII des Berliner Polizeipräsidiums, die den euphemistischen Namen »politische Polizei« trägt. Sie hat nach außen hin die Aufgabe, für die Sicherheit des Monarchen und hochstehender Persönlichkeiten im allgemeinen zu sorgen, und bei der zahlreichen Suite, die den Kaiser bei seinen Besuchen in England begleitete, befanden sich regelmäßig auch zwei bis drei mit Zylinderhüten bewaffnete Vertreter dieser Abteilung.

Die Befugnisse von Abteilung VII reichen aber in Wirklichkeit viel weiter. Sie erledigt die schmutzige Arbeit, mit der sich das deutsche Auswärtige Amt nicht abgeben mag: sie schickt geheimnisvolle Erpresserbriefe an unbequeme Politiker, begleitet unangenehm aufrichtige ausländische Korrespondenten an die Grenze usw. Sie ist die gehorsame Dienstmagd der Spionageabteilung des Kriegsministeriums wie auch der Admiralität in Deutschland und leistet in jenem Land sorgfältigster Organisation wertvolle Dienste bei der Überwachung von Beamten, Politikern, Geistlichen und des Publikums im allgemeinen.

Die Abteilung VII hat einen großen unterirdischen Betrieb. Sie arbeitet immer im Dunkeln und stellt politisch einen bequemen Deckmantel für schwarze und noch dunklere Machenschaften dar. Sie wird oft mit Aufträgen betraut, deren Bekanntwerden für die Regierung Deutschlands unratsam wäre, so daß die Regierung sich, wenn die Gelegenheit es erfordert, auch immer unwissend stellen kann.

Ich befestigte das Abzeichen an meine Hosenträger, stopfte die übrigen Sachen des Toten in den Koffer, stülpte seinen Hut auf, warf seinen Mantel über den Arm, nahm seine Tasche und schlich mich davon. Im nächsten Augenblick war ich in meinem Zimmer zurück. In meinem Kopf brannte die Flamme eines kühnen Unternehmens.

Hier in meiner Hand lag der Schlüssel zu diesem verschlossenen Land, welches das Geheimnis meines verlorenen Bruders enthielt. Seit ich die amerikanischen Papiere des Toten entdeckt hatte, hatte ich mir immer folgende Frage gestellt: Würde ich den Mut haben, mir Semlins amerikanischen Paß anzueignen, um nach Deutschland hineinzukommen? Die Antwort auf diese Frage lag in der kleinen kupfernen Legitimation. Ich wußte, daß kein deutscher Beamter, wie hoch auch sein Rang sein mochte, der kupfernen Münze der Abteilung VII die Einreise verwehren würde. Sie durfte aber nur in der äußersten Not benützt werden, denn ich hatte ja meine neutralen Papiere. Hatte ich erst mal den Fuß auf deutschen Boden gesetzt, so traute ich mir schon zu, weiter zu kommen. Einen Vorteil mußte ich allerdings aufgeben, das war mir klar: und zwar den halben Brief in seinem Baumwoll-Futteral.

Wenn dieses Dokument für Abteilung VII der deutschen Polizei von Bedeutung war, so war es für mein Vaterland von ebenso großer, wenn nicht noch größerer Bedeutung. Wenn ich fortfuhr, mußte es in sicherem Gewahrsam zurückbleiben. Das stand fest.

»Noch nie seit Kriegsbeginn hat sich einem Engländer so eine günstige Gelegenheit geboten, leicht und sicher in dies eifersüchtig bewachte Land einzudringen, wie dir jetzt!« sagte ich mir. »Du hast reichlich Geld, dein eigenes und das hier ...«, dabei betastete ich Semlins Paket Scheine, »und wenn du geistesgegenwärtig genug bist, nie zu vergessen, daß du ein Deutscher bist, müßte es dir gelingen, den Hunnen ein Schnippchen zu schlagen und die Spuren des armen Francis zu finden.«

»Und vielleicht«, spann ich meine Gedanken weiter (so leicht läßt man seine bessere Vernunft beiseite, wenn man jung ist und sich etwas in den Kopf gesetzt hat), »vielleicht kannst du in Deutschland herausbekommen, was für ein Sinn in diesem geheimnisvollen Gereime steckt, das du von Dicky Allerton bekommen hast.«

Nichtsdestoweniger schwankte ich. Das Risiko war ungeheuer groß. Ich mußte als Doktor Semlin aus diesem üblen Hotel herauskommen und hatte, falls ich mit Freunden des Toten zusammenkommen sollte, als einzigen Schutz vor Entdeckung nichts als die leise und vielleicht nur eingebildete Ähnlichkeit zwischen ihm und mir. Ich mußte Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, daß man hinter den Betrug kam, wenn man den Leichnam im Hotel fand und mußte mich vor allen Dingen, ehe ich mich endgültig zu einer Reise nach Deutschland entschließen konnte, vergewissern, ob Semlin den Leuten im Hotel bereits bekannt war oder ob, wie ich vermutete, auch er das Haus in der Vos in't Tuintje heute zum erstenmal betreten hatte.

Auf jeden Fall war mir klar, daß die einzige Möglichkeit, das Haus mit Semlins Dokument ohne beträchtliche Unannehmlichkeit oder gar ernste Gefahr zu verlassen, darin bestand, mir seine Sachen und Papiere anzueignen. Sah ich erst den Weg ein bißchen klarer vor mir, so konnte ich entscheiden, ob ich das höchste Risiko auf mich nehmen und mich in Feindesland wagen dürfte.

Was ich aber auch vorhatte, viel Zeit zum Handeln blieb mir nicht übrig, und ich war fest entschlossen, dieses abscheuliche Haus vor Morgengrauen zu verlassen. War ich erst einmal draußen und hatte ich gleichzeitig die Gewißheit, daß Semlin hier ebenso fremd war wie ich, so konnte ich auf den Straßen Rotterdams mit mehr Freiheit Entschlüsse fassen. Eines war gewiß: Der Kellner hatte die Kontrolle von Semlins Papieren auch auf den Morgen verschoben wie bei mir, denn Semlins Paß war ja noch in seinem Besitz.

Kannte man also Semlin im Hotel nicht, so hatte ihn der Kellner auch nur einen kurzen Augenblick lang gesehen, wie er mich gesehen hatte.

So überlegte und grübelte ich hin und her, war aber in der Zwischenzeit nicht untätig. In meinem Köfferchen befand sich nichts Kompromittierendes. Von der Seite gab es also nichts zu befürchten. Meinen englischen Paß, meine Ausreiseerlaubnis und alles, was irgendwie Schlüsse auf meine Person zuließ, z. B. meine Uhr und mein Zigarettenetui, auf denen mein Monogramm eingraviert war, steckte ich in die Taschen des Toten. Als ich mich über die steife, kalte Gestalt mit dem bleichen Gesicht und den gekrümmten Fingern neigte, drängte sich eine Schwierigkeit, die ich bisher energisch beiseite geschoben hatte, in den Vordergrund meiner Gedanken.

Was sollte ich mit dem Leichnam anfangen?

In dem Augenblick klopfte es leise an die Tür.

Mit jähem Entsetzen fiel mir plötzlich ein, daß ich vergessen hatte die Tür zuzuriegeln.


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