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10. Kapitel.
Ein Glas Wein mit Dr. Grundt persönlich

Ich trat kühn ins Zimmer hinein. Alle Angst hatte sich in Zorn aufgelöst, in Ärger über mich, daß ich mich hatte fangen lassen, in Ärger über meinen Begleiter wegen seines Verrats.

Schmalz stand boshaft lächelnd neben mir.

»Sie sehen also, Sie sind unter Freunden!«, rief er aus. »War es nicht nett von mir, daß ich Ihnen diese Überraschung bereitet habe? Sehen Sie, ich habe Sie mit dem Mann zusammengebracht, um dessentwillen Sie so viele Meilen weit über den Ozean gefahren sind! Herr Doktor, das ist Doktor Semlin. Doktor Semlin: Doktor Grundt.«

Der Andere hatte sich jetzt mühsam von seinem Stuhl erhoben.

»Doktor Semlin«, sagte er mit völlig unbewegter Stimme, » une voix blanche«, wie die Franzosen sagen, »das ist ja ein unerwartetes Vergnügen. Ich hätte nie geglaubt, daß wir uns in Berlin treffen würden. Ich meinte, wir seien für Rotterdam verabredet gewesen. Aber besser später als nie!«, und er streckte mir eine weiße, dicke Hand entgegen.

»Unser Freund, der Herr Leutnant«, erwiderte ich obenhin, »hat vergessen, mir zu erzählen, daß er Sie kennt, wie er mich auch nicht auf das Vergnügen vorbereitet hat, Sie heute abend hier zu sehen.«

»Dieses Vergnügen verdanken wir einer rein zufälligen Begegnung im Kasino in Goch«, erwiderte Grundt mit einem Lächeln, das seine goldglitzernden Zähne enthüllte, »wie ich es ja wohl auch nur dem Zufall verdanke, daß ich heute abend hier Ihre persönliche Bekanntschaft mache.«

Bei diesen Worten verneigte er sich zu Schmalz hin.

»Aber kommen Sie«, fuhr er fort, »wenn ich mir erlauben darf, in Ihrem eigenen Zimmer den Wirt zu spielen, setzen Sie sich doch und probieren Sie ein Glas dieses ausgezeichneten Braunebergers. Rheinwein ist doch wohl bei Ihnen drüben selten. Wir haben einander ja viel zu sagen, Sie und ich!«

Wieder entblößte er lächelnd seine goldenen Zähne.

»Unbedingt«, sagte ich, »aber ich fürchte, wir lassen unseren jungen Freund nicht zum Schlafen kommen. Sie haben ja wahrscheinlich keine Geheimnisse vor ihm, Herr Doktor, aber ich glaube, wir führen unsere Unterhaltung doch lieber unter vier Augen.«

»Schmalz, lieber Freund«, rief Dr. Grundt bedauernd aus, »so leid es mir tut, und ich bedauere wirklich, daß wir Ihrer Gesellschaft beraubt werden sollen, ich kann doch nicht leugnen, daß unser Freund recht hat. Wenn Sie ein paar Minuten ins Nebenzimmer gehen wollten ...«

Der junge Leutnant errötete vor Ärger.

»Wenn Sie mein Zimmer meiner Gesellschaft vorziehen, bitte sehr«, entgegnete er barsch, »aber ich glaube, ich gehe unter diesen Umständen lieber zu Bett.« Er machte kehrt, ging aus dem Zimmer und schloß die Tür mit mehr Kraftaufwand als nötig.

Grundt seufzte: »Ach! Die Jugend, die Jugend!«, rief er aus. »Dieselbe ungestüme Jugend, die in diesem Augenblick gegen eine Welt bewaffneter Feinde steht und Deutschland eine Weltmachtstellung erkämpft. Ein herrlicher Menschenschlag, unsere deutsche Jugend, Herr Doktor ... Lauter Riesen, die Hauptfeder in unserem großen, deutschen Uhrwerk ... Prost!«

Rede und Benehmen des Mannes ließen Schlimmes ahnen. Grobe Worte und offene Drohungen wären mir viel lieber gewesen als diese feine Bosheit, die hinter seiner Liebenswürdigkeit verborgen lag.

»Sie rauchen?«, fragte er. »Nein!« – er hielt seine Hand abwehrend in die Höhe, als ich mein Zigarettenetui herausholte, »Sie sollen eine Zigarre haben – keine von unseren armen, deutschen Hamburgern, sondern eine feine Havanna, die ich von einem Mitglied des englischen Geheimkabinetts bekommen habe. Sie wundern sich? Ja, ja, ich wiederhole, von einem Mitglied des englischen Geheimkabinetts habe ich, der Boche, der Barbar, der Hunne, sie geschenkt bekommen! Der Klumpfuß mag hinken und so weiter, aber wenn er » en mission« reist, dann reist er als Prinz, als reicher, angesehener Mann, da ist niemand zu hoch, um ihm Ehren zu erweisen und seine Ansichten über das arme, mißratene Deutschland zu hören, das Land der Denker, das in die militaristische Sklaverei verkauft worden ist. Ach! Die Idioten!«

Er fauchte giftig. Der Mann fing an mich zu interessieren. Sein rascher Stimmungswechsel faszinierte mich. Bald war er freundlicher Philosoph, bald großsprecherischer Teutone, bald Hunne in Person. Als er durch das Zimmer humpelte, um sein Zigarrenetui vom Kamin zu holen, sah ich ihm prüfend nach.

Er wirkte mächtig, nicht durch seine Größe, die unter Mittelmaß war, sondern seiner unerhört breiten Schultern wegen. Obgleich sein dicker Bauch und das schlaffe, weiße Fleisch in seinem Gesicht von sitzender Lebensweise zeugten, besaß er offenbar ganz ungewöhnliche Kräfte. Vornehmlich seine Arme standen in gar keinem Verhältnis zu seiner Statur; sie waren so lang, daß seine Hände, wenn er aufrecht stand, rechts und links herunterhingen wie die Tatzen eines Riesenaffen.

Er gab mir eine Zigarre, von der er behauptet hatte, daß sie gut sei, nippte dann an seinem Wein und fing an zu sprechen.

»Ich bin ein einfacher Mensch, Herr Doktor«, sagte er, »und spreche gern unverblümt. Darum will ich jetzt auch mit Ihnen offen reden. Als es laut wurde, daß die Person, die wir ja nicht weiter zu nennen brauchen, den dringenden Wunsch hatte, einen gewissen Brief zurückzubekommen, erwartete ich natürlich, daß ich, der unübertreffliche Meister in derartigen Angelegenheiten, mit dieser Aufgabe betraut werden würde. Ich war es, der den Dieb in einem englischen Interniertenlager entdeckte. Ich war es, der ihn überredet hat, auf unsere Bedingungen einzugehen. Ich war es schließlich, der das Versteck des Dokuments ausfindig gemacht hat ... und all das, wohlgemerkt, ohne einen Fuß nach England zu setzen.«

Meine Gedanken schweiften wieder zu den drei Streifen Papier in ihrem Baumwollfutteral zurück, zu dem zerrissenen Wappen und der großen, unregelmäßigen, steilen Handschrift.

Ich hätte diese Handschrift kennen müssen. Ich hatte sie ja oft genug auf gewissen Photographien gesehen, die im Salon des Konsistorialrats v. Mayburg in Bonn einen Ehrenplatz eingenommen hatten.

»Infolgedessen hatte ich das Vorrecht darauf«, fuhr Dr. Grundt fort, »mit der wichtigen Aufgabe betraut zu werden, das Dokument zu holen und es dem Schreiber zurückzuerstatten. Aber der Herr hatte es eilig. Der Herr hat es immer eilig. Er konnte nicht warten, bis der alte Bummelfritze von Klumpfuß seine Pläne schmiedete, um nach England zu gelangen, sich das Dokument zu verschaffen und wieder hinauszukommen. So wurde also Bernstorff zu Rate gezogen, das Haupt einer Botschaft, die den deutschen Geheimdienst zum Gespött der ganzen Welt gemacht hat, ein Gesandter, der sich seine Privatpapiere von einem gewöhnlichen Dieb in der Untergrundbahn hatte stehlen lassen und dumm genug ist, die wertvollsten Dokumente mit einem Idioten von Militärattaché zu schicken, der sie sich samt und sonders von einem dämlichen englischen Zollbeamten in Falmouth abknöpfen läßt! Und das war der Mann, der mich ersetzen sollte! Bernstorff bekommt also den Befehl, einen seiner vertrauenswürdigen Diener unter Wahrung aller möglichen Vorsichtsmaßregeln nach England zu schicken, um meine Arbeit zu tun. Die Wahl fällt auf Sie, und ich mache Ihnen gern das Kompliment, daß Sie Ihre Aufgabe in einer Art und Weise erfüllt haben, die von den üblichen Methoden der Abgesandten dieses Herrn vorteilhaft absticht.

»Aber, mein lieber Doktor ... darf ich Ihnen noch einmal einschenken? ... Die Zigarre ist gut, nicht wahr? Ich habe mir gleich gedacht, daß Sie Sinn haben für Qualitätszigarren ... Ja, wie gesagt, Sie waren von Anfang an gehandicapt. Sie kommen an den Ihnen bezeichneten Ort und finden nur die Hälfte des Dokuments. Der Schuft von Dieb hat es in zwei Teile geteilt, um auch sein Geld ganz sicher zu haben, ehe er sich von der Ware trennt. Die Herrschaften wußten natürlich nicht, daß der Klumpfuß, der alte Bummelfritze, das schon längst gemerkt und seine Pläne dementsprechend entworfen hatte. Schließlich mußten sie mich doch holen. ›Der gute Klumpfuß‹, ›der brave Kerl‹, ›der schlaue Fuchs‹ und so weiter – sollte nach England und die zweite Hälfte beschaffen, während Graf Bernstorffs fescher Amerikaner in Rotterdam warten sollte, bis Doktor Grundt käme und die zweite Portion mitbrächte. Aber Graf Bernstorffs junger Mann tut nichts dergleichen. Er will den alten Fuchs reinlegen, er wartet nicht auf ihn, er rückt aus, nachdem er sich einem spionierenden Engländer gegenüber auffallend entschlossen gezeigt hat, fährt nach Deutschland und läßt den armen, alten Klumpfuß in der Tinte sitzen. Sie müssen zugeben, Herr Doktor, daß ich – von Ihnen – wie auch von einer anderen Person – sehr schlecht behandelt worden bin?«

Meine Kehle war trocken vor Angst. Ich räusperte mich und wollte etwas sagen.

Dr. Grundt aber hob eine seiner großen Hände abwehrend hoch: »Bitte, keine Erklärungen, Herr Doktor«, seine Stimme klang durchaus freundschaftlich, »lassen Sie mich zu Ende reden. Als ich merkte, daß Sie Rotterdam verlassen hatten – ich muß Ihnen übrigens zu Ihrer genial bewerkstelligten Flucht aus Frau Schratts gastlichem Haus gratulieren – als ich merkte, daß Sie fort waren, setzte ich mich hin und überlegte.

»Ich überlegte, daß ein gerissener Amerikaner wie Sie, Sie sind sehr gerissen, glauben Sie mir, gewohnt sein würde, alles vom geschäftlichen Standpunkt aus zu betrachten. ›Ich will die Geschichte auch vom geschäftlichen Standpunkt aus betrachten‹, sagte ich mir und stellte fest, daß ich mich in Ihrer Lage auch nicht mit dem sehr dürftigen Lohn begnügen würde, den Graf Bernstorff seinen Mitarbeitern gewährt. Nein, auch ich würde wünschen, mir ein kleines Renommee zu schaffen, wenn ich schon einmal so einen gefährlichen Auftrag ausgeführt habe, oder, wenn das nicht möglich sein sollte, mir einen Geldgewinn zu sichern, der den überstandenen Gefahren angemessen ist. Sie sehen, ich habe mir Mühe gegeben, mich vollständig in Ihre Lage zu versetzen. Ich hoffe, ich habe nichts Taktloses gesagt, ich darf Ihnen jedenfalls versichern, daß ich nicht die geringste beleidigende Absicht hatte.«

»Im Gegenteil, Herr Doktor«, erwiderte ich, »Sie sind Takt und Diplomatie in Person.«

Er runzelte leicht die Stirn. Ich dachte mir gleich, daß ihm das Wort Diplomatie nicht behagen würde.

»Noch ein Glas Wein? Sie dürfen es ruhig wagen. Von dem bekommen Sie keine Kopfschmerzen. Also, Herr Doktor, da Sie mir bis hierher so geduldig zugehört haben, will ich noch weiter gehen. Ich habe Ihnen, gleich als ich Sie heut abend sah, gesagt, wie ich mich über unsere Begegnung freue. Das war keine bloße Redensart, sondern die nackte Wahrheit. Denn sehen Sie, ich bin ja der einzige Mensch, der Ihnen unter den gegebenen Umständen etwas nützen kann. Ich bin der Ehre beraubt, die mir eigentlich zukommt, der Ehre nämlich, diesen Auftrag allein zu unternehmen und zu Ende zu führen, wozu Sie mir verhelfen können, während ich meinerseits imstande und bereit bin, Ihre Dienste ihrem Wert entsprechend und nicht mit Doktor Bernstorffs Hungerhonoraren zu belohnen. Der langen Rede kurzer Sinn, Herr Doktor ... wieviel wollen Sie haben?«

Die Pointe kam so rasch und unerwartet, daß ich ganz perplex war. Der Mann beobachtete mich hinter seiner scheinbaren Gleichgültigkeit scharf, und ich wußte, daß ich mehr als je auf der Hut sein mußte. Wenn ich nur herausbekommen könnte, wieviel er wußte. Zweierlei war mir klar: Der Kerl hielt mich für Semlin und glaubte, daß ich immer noch meine Hälfte des Dokuments bei mir hätte. Es hieß also, Zeit gewinnen. Das Geschäft, das er mir angeboten hatte, gab mir vielleicht die gewünschte Gelegenheit. Außerdem mußte ich herausbekommen, ob er wirklich im Besitz der zweiten Hälfte war und wo er sie in diesem Falle aufbewahrte.

Er brach das Schweigen: »Also, Herr Doktor«, sagte er, »wollen Sie, daß ich anfange zu bieten? Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bin großzügig.«

Ich beugte mich vor und sagte ernst: »Sie haben mit bewunderungswürdiger Offenheit gesprochen, Herr Doktor, und ich werde ebenso sprechen, aber ich werde mich kurz fassen. In allererster Linie möchte ich wissen, ob Sie denn überhaupt der Mann sind, für den Sie sich ausgeben: Bis jetzt müssen Sie bedenken, habe ich dafür nur die Zusicherung unseres leicht erregbaren jungen Freundes.«

»Ihre Vorsicht ist sehr anerkennenswert«, sagte er, »aber ich glaube, mein Fuß ist meine beste Visitenkarte.« Und damit hob er seinen verkrüppelten Fuß in die Höhe.

»Das ist kaum eine genügende Garantie«, erwiderte ich, »besonders in einer so bedeutungsvollen Angelegenheit. So ein Gebrechen kann leicht gefälscht werden.«

»Mein Abzeichen«, sagte der Mann und zog eine Kupfermünze aus der Westentasche, die genau so aussah wie meine, nur daß sie den Buchstaben »G« über der Inschrift »Abt. VII« trug.

»Auch das«, entgegnete ich, »ist noch nicht überzeugend.«

Trotz seines schweren, massigen Körpers war der Geist des Klumpfuß außerordentlich behende.

Er dachte einen Augenblick mit über dem Bauch gefalteten Händen nach.

»Warum nicht?«, sagte er plötzlich, nahm seine Zigarrentasche, die neben ihm auf dem Tisch lag und zog drei Streifen glänzenden Papiers hervor, das mit der unvergeßlichen Steilschrift beschrieben war und oben das Stück eines goldenen Wappens trug – kurz, die fehlende Hälfte des Dokuments, das ich in Semlins Koffer gefunden hatte. Dr. Grundt hielt sie mir fächerförmig vor die Nase, aber gut außer Reichweite, und den oberen Teil des ersten Streifens, wo Name und Adresse des Empfängers stehen mußten, bedeckte er mit seinem breiten, spachtelförmigen Daumen.

»Ich denke, jetzt sind Sie überzeugt, Herr Doktor«, sagte er, mit einem Lächeln, das seine Zähne entblößte, legte die Stücke wieder aufeinander, steckte sie in sein Zigarrenetui zurück und ließ das in seiner Tasche verschwinden.

Ich mußte noch weiter sondieren.

»Sind Sie sich klar darüber, Herr Doktor«, fragte ich, »daß wir sehr wenig Zeit zur Verfügung haben? Die Persönlichkeit, der wir dienen, wird ungeduldig warten ...«

Er schüttelte lachend den Kopf.

»Ich brauche diese Briefhälfte dringend«, sagte er. »Aber es hat keine allzu große Eile damit. Dieses Argument muß ich also aus dem Spiel lassen, denn es hat keinen praktischen Wert. Die Persönlichkeit, von der Sie sprechen, ist nicht in Berlin.«

Ich hatte schon etwas von dem plötzlichen Auftauchen und Verschwinden des Kaisers während des Krieges gehört, aber ich hatte nicht geglaubt, daß das so im geheimen vor sich gehen konnte, daß nicht einmal seine Vertrauensleute, zu denen Dr. Grundt doch sicher gehörte, davon wußten. Er hatte offenbar keine Ahnung von meinem heutigen Besuch im Schloß, und ich war einen Augenblick lang unpatriotisch genug zu wünschen, daß ich meine Briefhälfte mitgenommen hätte, um sie jetzt dem Klumpfuß geben und die bevorstehende Bloßstellung verhindern zu können.

»Tausend Dollars«, sagte der Klumpfuß.

Ich schwieg.

»Zwei? Drei? Viertausend? Mann, Sie sind aber gierig. Also sagen wir fünftausend – zwanzigtausend Mark ...«

»Herr Doktor«, sagte ich, »ich will Ihr Geld nicht. Ich will anständig sein Ihnen gegenüber. Wenn die betreffende Persönlichkeit nach Ihnen schickt, wollen wir zusammen hingehen. Sie werden von der großen Rolle erzählen, die Sie bei der Affäre gespielt haben. Ich will nur den Lohn, der mir zukommt, weiter nichts ...«

Es klopfte an der Tür. Der Portier trat ein.

»Ein Telegramm für den Herrn Doktor«, sagte er und reichte ihm ein Tablett.

Irgendwo in der Nähe spielte eine Kapelle Tanzmusik. Einen dieser wiegenden, herrlich rhythmischen Wiener Walzer. Unten schien ein Ball stattzufinden, denn durch die geöffnete Tür hörte ich außer der Musik Stimmengewirr und das Geräusch scharrender Füße. Dann ging die Tür wieder zu und schloß die Stimmen der Außenwelt aus.

»Gestatten Sie«, sagte Dr. Grundt kurz und riß das Telegramm auf. Um nicht neugierig zu scheinen, stand ich auf, ging zum Fenster und lehnte mich an die Zentralheizung.

»Na?«, fragte eine Stimme aus dem Sessel.

»Na«, wiederholte ich.

»Ich habe Ihnen meinen Vorschlag gemacht, Herr Doktor, und Sie haben Ihren gemacht. Ihrer ist unannehmbar. Ich habe Ihnen mit aller Offenheit gesagt, warum ich Ihre Hälfte des Dokuments unbedingt brauche und habe Ihnen die Summe genannt, die ich dafür zu zahlen bereit bin. Fünftausend Dollar. Ich werde Ihnen das Geld jetzt und hier in guten deutschen Scheinen bar auszahlen, wenn Sie mir die Papierstreifen geben.«

Mit der Liebenswürdigkeit des Mannes war es vorbei. Seine Stimme klang hart. Seine Augen unter den struppigen Brauen sahen mich glitzernd an. Wäre ich nicht so aufgeregt gewesen, hätte ich das als Anzeichen für den drohenden Sturm erkannt, ebenso wie sein nervöses Zupfen an dem Telegramm auf seinem Schoß.

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich Ihr Geld nicht haben will«, sagte ich fest, »Sie kennen meine Bedingungen!«

Er erhob sich von seinem Sitz, und seine Gestalt schien sich emporzutürmen.

»Bedingungen?«, schrie er mit einer vor unterdrückter Leidenschaft zitternden Stimme, »Bedingungen? Begreifen Sie, daß ich Befehle erteile! Ich nehme von niemandem Bedingungen an. Unser Gerede hier ist nur Zeitverlust. Da, nehmen Sie das Geld und geben Sie mir die Papiere.«

Ich schüttelte den Kopf. Ich war innerlich ganz kühl, aber ich fühlte, daß die Krisis bevorstand. Ich hielt mich mit den Händen an dem Marmorbrett fest, das über der Zentralheizung lag. Die Platte gab nach; ich merkte ohne darauf zu achten, daß sie locker war.

Der Mann mir gegenüber zitterte vor Wut.

»Hören Sie zu«, sagte er. »Ich gebe Ihnen noch eine einzige Chance, aber beachten Sie gut, was ich sage. Wissen Sie, was dem Mann passiert ist, der das Dokument hier gestohlen hat? Die Engländer haben Haussuchung bei ihm gehalten und ihn erschossen. Wissen Sie, was dem Dolmetscher im Interniertenlager passiert ist, der unser Zwischenträger war und falsch mit uns gespielt hat, als er das Dokument in zwei Hälften riß? Auch den haben die Engländer erschossen, wegen der Sachen in seinen Briefen, die ihm offen durch die Post zugestellt wurden! Und wer hat mit Schulte abgerechnet? Wer hat den anderen Kerl beiseite geschafft? Wer hat ihnen die Fallen gestellt, die sie ins Verderben rissen? Ich war das, ich, Grundt, der Krüppel, ich, der Klumpfuß, ich habe diese Verräter vernichtet als warnendes Beispiel für die sechstausend, die unserm Kaiser und unserm Vaterland im geheimen dienen! Sie Hund, ich werde Sie zerschmettern!«

Er fauchte wie ein wütender Affe, sein ganzer Körper zitterte vor Wut, jedes Haar auf seinem Gesicht und seinen Händen schien sich vor Berserkerraserei zu sträuben.

Aber er hielt sich von mir entfernt, und ich merkte, daß er immer noch kämpfte, um seine Selbstbeherrschung zu bewahren.

Ich bot ihm kühn die Stirn.

»Damit haben Sie vielleicht bei Ihren Landsleuten Erfolg«, sagte ich verächtlich, »aber auf mich macht das keinen Eindruck, ich bin amerikanischer Bürger.«

Er war jetzt ruhiger, aber seine Augen blitzten gefährlich.

»Amerikanischer Bürger?«, sagte er mit eiskalter Stimme. Dann zischte er mich geradezu an:

»Sie Dummkopf, Sie blinder, ahnungsloser Tor, glauben Sie, Sie können mit dem Deutschen Kaiserreich spielen? Ich habe Sie schön an der Nase herumgeführt, Sie dreckiger englischer Hund! Ich habe beobachtet, wie Sie sich gedreht und gewendet haben, während der dumme Deutsche Ihnen seine hübsche Geschichte erzählt und Sie mit seinem Wein und seinen Zigarren traktiert hat, jetzt sind Sie in unserer Gewalt, Sie elender englischer Hund! Verstehen Sie das? Jetzt schreien Sie nach Ihrer Flotte, daß sie Ihnen zu Hilfe kommen soll!

»Hören Sie! Ich werde Ihnen reinen Wein einschenken. Ich hatte von Anfang an Verdacht gegen Sie, als mir telephoniert wurde, daß Sie aus dem Hotel ausgerückt sind, aber ich wollte meiner Sache sicher sein. Seit Sie hier in diesem Zimmer sitzen, hat es in meiner Macht gelegen, auf den Klingelknopf da zu drücken und Sie nach Spandau abtransportieren zu lassen, wo so dreckige Hunde wie Sie hingeschafft werden.

»Aber das Spiel hat mir Spaß gemacht. Ich wollte mal sehen, wie weit es der Herr Engländer mit mir treiben würde, mit mir, dem Meister. Wissen Sie denn, Sie Dummkopf, daß die alte Schratt englisch kann, daß sie viele Jahre ihres Hurenlebens in London verbracht hat und daß sie sich den Namen auf dem Paß, auf Ihrem eigenen Paß, gemerkt hat, ehe Sie ihn so gescheiterweise verbrannten? Ha! Das haben Sie nicht gewußt, wie?

»Soll ich Ihnen mal erzählen, was in dem Telegramm steht, das ich da eben bekommen habe? Es war von der Schratt, von unserer treuen Schratt, die zum Lohn dafür 'n Armband bekommen soll. Sie teilt mir mit, daß bei der Leiche im Hotel eine Halskette mit einer Erkennungsmarke gefunden worden ist, und auf dieser Erkennungsmarke stand der Name Semlin. Ha! Das wußten Sie auch nicht, nicht wahr?

»Und Sie wollten mit mir handeln und schachern! Sie wollten mir Ihre Bedingungen diktieren, Sie Stück Mist, Sie! Sie mit dem Kopf in der Schlinge, ein erfolgloser Spion, ein elender Wicht, den ich mit einem Wink meines kleinen Fingers in den Tod schicken kann! Sie unverschämter Geselle Sie! Diesmal sollen Sie bekommen, was Sie verdient haben, Herr Hauptmann Desmond Okewood ... aber erst rücken Sie mit dem Brief heraus!«

»Her damit!«, brüllte er, und sprang auf mich zu. Die Adern traten ihm an den Schläfen hervor, seine haarigen Nüstern blähten sich, seine langen Arme schossen heraus, und seine mächtigen Pranken griffen würgend nach meinem Hals.

Aber ich hatte ihn erwartet. Als ich seinen Klumpfuß auf dem glatten Parkettboden stapfen hörte, hob ich die schwere Marmorplatte von der Heizung hinter mir hoch über meinen Kopf und ließ sie mit aller Kraft krachend auf seinen Kopf niedersausen.

Er fiel um wie ein Klotz. Langsam floß das Blut aus seinem Kopf auf den Boden nieder. Einen Augenblick blieb ich stehen, dann riß ich das Zigarrenetui aus seiner Tasche, nahm das Dokument an mich und stürzte aus dem Zimmer.


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