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17. Kapitel.
Francis setzt die Erzählung fort

Ich sah das Licht im Zimmer aufflammen und hörte, wie Desmond »Grundt« schrie. Im Nu warf ich mich flach auf das Blumenbeet, aus Furcht, Desmonds Schrei hätte die Soldaten um das Feuer herum womöglich aufgeschreckt. Es kam aber niemand. Der Garten blieb dunkel, feucht und still. Aus dem Zimmer, in dem mein Bruder sich in den Klauen dieses Mannes befinden mußte, drang kein Laut.

Desmonds Schrei hatte mich aufgerüttelt. Ich erwachte aus der Lethargie, in die ich während all jener Monate der Gefahr und Enttäuschung gefallen war. Ich riß mich zu neuem Leben zusammen. Wenn ich ihn retten wollte, so war keine Zeit zu verlieren. Dr. Grundt würde rasch handeln, das wußte ich. Ich mußte ihm also zuvorkommen. Erst aber mußte ich mich über die Situation orientieren, mußte herausbekommen, was die Anwesenheit des Klumpfußes in Monikas Haus, was diese Soldaten im Park draußen zu bedeuten hatten, und vor allen Dingen, ob Monika selber im Schloß war.

Auf der Chaussee war mir eine kleine Kneipe aufgefallen, die etwa eine Viertelstunde vom Schloß entfernt lag. Dort würde ich vielleicht etwas erfahren können. Ich schlich mich also wieder durch den Garten zurück, kletterte über die Mauer und gelangte sicher auf die Chaussee.

Die Kneipe war voll von Leuten, von groben Bauern, die starken Kornschnaps hinuntergossen, von Viehhütern und ähnlichem Landvolk. Ich stellte mich an die Theke und bestellte einen »Doppelkorn« – einen rohen, aus Kartoffeln hergestellten Schnaps, der sehr stark, aber wenigstens rein ist. Ein Mann in Reitgamaschen und gerippter Samtjacke, ein großmäuliger Kerl, stand neben mir und ging bereitwillig auf eine Unterhaltung ein. Meine ganz nachlässig hingeworfene Frage nach den Wildverhältnissen hier veranlaßte ihn zu der Mitteilung, daß er Jagdaufseher im Schlosse sei. Sie hätten jetzt mächtig viel zu tun, erzählte er, denn es sollten vier große Jagden stattfinden, die erste bereits am folgenden Tag. Federwild gäbe es in Hülle und Fülle, und er meinte, die Gäste der Frau Gräfin könnten zufrieden sein.

Ich fragte ihn, ob denn sehr viele Leute im Schloß seien. Nein, sagte er, es sei vorläufig nur ein einziger Herr da, außer den dort einquartierten Offizieren. Aber für die nächste Jagd würden eine Menge Menschen erwartet, die Offiziere aus Cleve und Goch, der Oberbürgermeister von Cleve und eine Anzahl von Landwirten aus der Umgebung.

»Die im Schloß einquartierten Soldaten werden wohl gute Treiber abgeben«, fragte ich, nicht ohne Hintergedanken.

Der Mann bejahte knurrend. Förster sind immer brummige Leute. Aber es seien ja gar nicht viele Soldaten, seinetwegen brauchten sie überhaupt nicht mitzumachen, es seien so scheußliche Wilddiebe, erklärte er. Nur brauchten sie ja Treiber, die Treiber waren doch jetzt so knapp, das stimmte schon, was sollten sie also schon anderes anfangen, als die Soldaten zu Hilfe nehmen!

»Ich bleibe jetzt in Cleve«, sagte ich, »und bin stellungslos.

»Ich bin noch nicht lange aus dem Lazarett heraus und nicht mehr felddienstfähig. Ich würde mir ganz gern ein paar Mark als Treiber verdienen. Früher habe ich am Rhein, wo ich zu Hause bin, auch schon Jagden mitgemacht.«

Der Mann zuckte die Achsel und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht meine Sache, die Treiber anzustellen«, erwiderte er, »außerdem würde mir der Oberförster schön auf den Kopf kommen, wenn ich ihm Fremde anbrächte ...«

Ich bestellte noch einen Schnaps für uns beide und bekam den Mann ohne viel Mühe herum. Er steckte meinen Fünfmarkschein in die Tasche und erklärte, er würde es schon einrichten, die Frau Gräfin wollte sich heute abend im Schloß ein paar Männer anschauen, die ihre Dienste als Treiber angeboten hatten. Da würde er mich mitnehmen.

Eine halbe Stunde später stand ich in einem großen Hof vor dem Hauptportal des Schlosses, unter einer Schar schäbiger, zerlumpter Bauern. Der Oberförster musterte uns, befahl uns, ihm zu folgen und führte uns durch einen Torbogen und eine schwere, massive Tür in einen kleinen Vorraum, der offenbar von der großen Schloßhalle abgeteilt worden war, da er unmittelbar da hinein mündete.

Wir befanden uns in einer vollständig eichengetäfelten, feudalen, alten Halle, deren oberer Teil mit einer Reihe staubiger Fahnen geschmückt war, deren Umrisse man in dem dämmrigen Licht gerade noch schimmern sah. Die moderne Generation hatte pietätvollerweise den schönen, alten Raum nicht durch elektrisches Licht entweiht, und aus schweren, silbernen Leuchtern fiel ein sanftes Licht auf den am Ende der Halle gedeckten Tisch, an dem man offenbar eben gegessen hatte.

Drei Personen saßen an diesem Tisch, eine Dame und zwei Herren. Die Dame erkannte ich sofort als Monika, obgleich sie mir den Rücken zuwandte. Neben ihr saß ein dicker, schwerer Mann, zweifellos Dr. Grundt, und an der anderen Seite ein blasser, schmächtiger Junge in Offiziersuniform, der nur einen Arm hatte, höchstwahrscheinlich Schmalz.

Ein Diener flüsterte Monika etwas zu, und daraufhin bat sie ihre Gäste mit einer Gebärde um Entschuldigung, stand vom Tisch auf und lief durch die Halle. Zu meiner Überraschung war sie tiefschwarz angezogen, nur an Hals und Ärmeln hatte sie einen weißen Vorstoß. Ihr Gesicht war blaß und still, und in ihren Augen lag ein Ausdruck von Angst und Leiden, der mir ins Herz schnitt.

Ich hatte mich in die hinterste Reihe der Leute gestellt, die sich hier um Stellung bewerben wollten. Monika sprach zu jedem der Leute ein, zwei Worte, worauf sie sich nacheinander mit tiefen Verbeugungen entfernten. Als sie zu mir kam, sah ich augenblicklich, daß sie mich erkannt hatte – ich spürte es vielmehr, denn sie zuckte mit keiner Wimper, obgleich ich mich während meines Aufenthalts in Deutschland wahrhaftig verändert hatte und mit meinem drei Tage alten Bart und meinen verschmutzten Kleidern reichlich verkommen ausgesehen haben muß.

»Ach«, sagte sie mit der ganzen Lässigkeit einer großen Dame, »Sie sind der Mann, von dem Heinrich mir erzählt hat. Sie sind eben aus dem Lazarett entlassen, nicht wahr?«

»Zu Befehl, Frau Gräfin«, stotterte ich in dem rheinischen Dialekt, den ich in Bonn gelernt hatte, »ich habe unter dem Herrn Grafen in Galizien gedient, und ich meinte, daß Frau Gräfin vielleicht ...«

Sie unterbrach mich mit einer Gebärde.

»Herr Doktor«, rief sie zum Tisch hin.

Donnerwetter, die Frau hatte Grips! Fabelhaft machte sie das.

Dr. Grundt humpelte herbei. Jetzt, nach dem guten Schmaus, lächelte er übers ganze Gesicht und rauchte eine Zigarre, die köstlich duftete.

»Frau Gräfin?«, fragte er und warf einen Blick auf mich.

»Dieser Mann hat unter meinem Gatten in Galizien gedient. Er ist krank und arbeitslos und bittet mich, ihm zu helfen. Ich würde gern ein paar Worte in meinem Wohnzimmer mit ihm sprechen, wenn Sie gestatten.«

»Aber gewiß, Frau Gräfin, es war doch gar nicht nötig.«

»Johann!« Monika rief den Diener, den ich vorhin schon gesehen hatte, »führen Sie diesen Mann hier ins Wohnzimmer!«

Der Diener führte mich durch die Halle hindurch in eine schön eingerichtete Bibliothek mit elegantem Schreibtisch und hübschen, geblümten Vorhängen. Monika folgte und setzte sich an den Schreibtisch.

»Also, was wollten Sie mir sagen ...?« fing sie auf deutsch an, aber sobald der Diener das Zimmer verlassen hatte, sprang sie auf, kam auf mich zu und ergriff meine beiden Hände.

»Francis«, flüsterte sie auf englisch und stieß einen tiefen Seufzer aus, »oh, Francis, was haben sie dir getan, daß du so aussiehst!«

Ich umklammerte ihre Handgelenke fest.

»Frau Gräfin«, sagte ich immer noch in diesem scheußlichen rheinischen Dialekt, »Sie müssen ruhig bleiben!« Dann flüsterte ich ihr auf englisch ins Ohr: »Sei tapfer, Monika, und sprich ja immer nur deutsch.«

Im Nu hatte sie ihre Selbstbeherrschung wieder.

»Ich verstehe«, erwiderte sie und setzte sich wieder an den Schreibtisch. »Es ist klüger so.«

Von nun an sprachen wir deutsch miteinander.

»Desmond?«, erkundigte ich mich.

»In Grundts Zimmer eingesperrt«, erwiderte sie. »Ich habe mit angesehen, wie sie ihn über den Korridor stießen – grauenhaft war es! Grundt läßt ihn keinen Augenblick aus den Augen. Oh, es war Wahnsinn, daß ihr hierhergekommen seid. Hätte ich euch doch nur warnen können!«

»Warum ist denn Grundt eigentlich hier?«, fragte ich. »Und diese Soldaten da, und der Offizier?«

»Mein Lieber«, erwiderte sie, und in ihren Augen blitzte es plötzlich spitzbübisch, »ich befinde mich in Schutzhaft!«

»Aber Monika ...«

»Hör zu: Gerry und sein deutscher Diener, der überall herumschnüffelte, sind schuld daran. Als Des damals abends fortging und nicht wiederkam, bestand Gerry darauf, daß wir die Polizei benachrichtigen. Erst hat er mir eine furchtbare Szene gemacht, dann kam der Diener dazu, und aus dem, was er sagte, merkte ich sofort, daß er Schlimmes im Schilde führte. Ich wagte nicht, Gerry die Wahrheit anzuvertrauen und ließ ihn also ruhig zur Polizei schicken. Die kam gleich an, stellte unzählige Fragen und ging wieder fort, so daß ich dachte, die Sache sei erledigt, und hierher reiste. Gerry wollte nicht mit. Er ist nach Baden-Baden gefahren, zu irgendeiner neuen Kur.

»Vor etwa acht Tagen kam der Oberbürgermeister von Cleve, ein alter Freund von uns, im Auto herüber, und nach vielem Hin- und Hergerede platzte er damit heraus, daß ich mich als in Schutzhaft befindlich betrachten sollte, und daß ein Offizier und eine Abteilung Soldaten aus Goch kommen würden, um das Haus zu bewachen. Der Mann hätte mir bestimmt alles gesagt, was ich wissen wollte, aber er wußte selber nichts. Er führte lediglich seine Befehle aus. Dann erschien der Leutnant und seine Soldaten, und seit der Zeit bin ich eine Gefangene. Ich hatte schreckliche Angst wegen Des, bis Grundt vor zwei Tagen unvermutet ankam und ich seinem Gesicht sofort anmerkte, daß Des noch frei herumlief. Aber Francis, dieser Klumpfuß ist hierhergekommen, um Des zu fangen ... und Des ist ihm glatt in die Falle gegangen.«

»Was wird denn Dr. Grundt nun mit Desmond machen?«, fragte ich.

»Er hat sich ungefähr eine Stunde lang mit Des in seinem Zimmer eingeschlossen, und ich hörte ihn nachher zu Schmalz sagen, daß er es nach Tisch ›nochmal probieren‹ wolle. Oh, Francis, ich habe Angst vor diesem Mann ... Mit keinem Wort hat er mir gegenüber erwähnt, daß ich Desmond kenne, daß ich ihn in Berlin beherbergt habe. Aber er weiß alles, und er beobachtet mich unentwegt.«

Ich blickte durch die offene Tür in die Halle hinein. Noch immer brannten die Kerzen auf dem Eßtisch, wo Schmalz und Dr. Grundt saßen und sich leise unterhielten.

»Ich bin jetzt lange genug hier drin geblieben«, sagte ich. »Ehe ich aber gehe, bitte ich dich, mir noch ein paar Fragen zu beantworten, Monika. Ja?«

»Gewiß, Francis«, sagte sie und blickte mir voll in die Augen.

»Um welche Zeit wird morgen früh die Jagd stattfinden?«

»Um zehn.«

»Gehen Grundt und Schmalz mit?«

»Ja.«

»Du auch?«

»Ja.«

»Könntest du um halb eins wieder im Haus zurück sein?«

»Allein nicht. Draußen ist immer einer von ihnen bei mir.«

»Könntest du dich um diese Zeit draußen irgendwo mit mir treffen?«

»Kurz vor Quellenhof, einem Dörfchen direkt an der Landstraße, ist ein Steinbruch, direkt am Rande unseres Reviers. Da müßten wir gegen zwölf Uhr etwa sein. Wenn es sein muß, will ich versuchen, zu entwischen und mich in einer der Höhlen da zu verstecken. Wenn du dann kommst und pfeifst, komme ich heraus.«

»Schön. Das genügt. So werden wir es machen. Jetzt noch eine Frage: Wieviel Soldaten habt ihr hier?«

»Sechzehn.«

»Gehen sie alle mit auf die Jagd?«

»Oh, nein! Nur zehn. Die anderen sechs und der Unteroffizier bleiben zurück.«

»Hast du ein Auto hier?«

»Nein, aber Grundt hat eins.«

»Wie viele Diener werden morgen im Hause sein?«

»Nur Johann, der Haushofmeister und die Mädchen: eine Köchin und zwei Hausmädchen.«

»Kannst du dafür sorgen, daß Johann morgen früh zwischen zwölf und halb eins außerm Hause ist?«

»Ja, ich kann ihn mit einem Brief nach Cleve schicken.«

»Die Mädchen auch?«

»Jawohl, die Mädchen auch.«

»Schön, nun noch etwas – das Schwerste von allem: Ich möchte, daß du Desmond eine Nachricht zukommen läßt. Kannst du das einrichten?«

»Sage mir, was für eine Nachricht es ist, vielleicht kann ich dir eine Antwort geben.«

»Er muß um jeden Preis dafür sorgen, daß Grundt morgen nicht auf die Jagd geht, mindestens nicht zwischen zehn und zwölf. Er muß es so einrichten, daß Grundt glaubt, er wird ihm sagen, wo das bestimmte Etwas steckt, hinter dem Grundt her ist. Aber er muß ihn unbedingt während dieser zwei Stunden hinhalten.«

»Und nachher?«

»Es wird kein Nachher geben«, sagte ich.

»Ich werde zusehen, daß Des deine Botschaft erhält«, erwiderte Monika, »denn ich werde sie ihm selber bringen.«

»Nein, Monika«, sagte ich, »ich will nicht ...«

»Francis«, ihre Stimme klang nur noch wie ein Flüstern ..., »mein Leben in diesem Land ist zu Ende«, sie zeigte auf ihr Witwenkleid, »Karl ist vor drei Wochen bei Przemysl gefallen. Du weißt genau so gut wie ich, daß ich an dieser Sache ebensosehr beteiligt bin, wie du und Des. Ich will gern die Gefahr mit euch teilen, wenn ihr mich nur mitnehmt, das heißt, wenn ihr ...« sie brach ab.

In der Ecke der Halle wurde mit den Stühlen gerückt: die Tischgesellschaft stand auf.

»Frau Gräfin brauchen nur zu befehlen«, sagte ich, »Frau Gräfin wissen ja, daß ich seit Jahren darauf gewartet habe ...«

Der Klumpfuß stand in der offenen Tür. »... Ich hätte nicht geglaubt, daß Frau Gräfin so gnädig sein würden ... nie hätte ich gehofft, daß Frau Gräfin so viel für mich tun würden ... Ich bin Frau Gräfin unendlich dankbar.«

»Sie können Ihre Sachen mitbringen, wenn Sie morgen kommen«, sagte Monika, »der Forstaufseher wird Ihnen sagen, wann Sie hier sein müssen.«

Dann entließ sie mich, aber als ich ging, hörte ich sie sagen: »Herr Doktor, darf ich Sie bitte mal einen Augenblick sprechen?«


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