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6. Kapitel.
Ich steige in den Berliner Zug

Ich war gefangen, wie eine Maus in der Falle. Zurück konnte ich nicht, und der einzige Ausgang war mir versperrt. Nur durch die Kellertür und das Fenster konnte man aus dem Hof hinaus. Die eine war verschlossen und das andere verriegelt. Mir blieb nichts anderes übrig als zu warten, bis meine Abwesenheit entdeckt und die zerrissene Schnur gefunden wurde. Dann würden sie schon auf den Hof hinunterkommen, ich würde diesem Mann da, dem Dr. Grundt, gegenübergestellt werden, und dann hätte ich ja den Salat!

Ganz leise und schnell nahm ich eine gründliche Untersuchung des Vorplatzes vor. Es war feucht und düster, einzig von dem gelben Lichtschein aus der Waschküche erhellt. Unterhalb des oberen Hofes waren ein paar flache Löcher ausgehauen, die teils mit Holzscheiten, teils mit alten Kisten, Flaschen und ähnlichem Plunder angefüllt waren. In denen kramte ich, bis meine Hände auf die feuchten Ziegelsteine im Hintergrund stießen, aber es war umsonst. Tür und Fenster blieben der einzige Ausweg.

Vier große Mülleimer aus Blech standen nebeneinander vor diesen beiden Gruben. Ein fünfter war abseits unter der eisernen Treppe untergebracht. Sie waren alle fast bis an den Rand gefüllt, konnten also nicht als Versteck dienen. Außerdem vertrug es sich weder mit der Rolle, die ich spielte, noch auch mit meinem Sinn für Humor, von den Hotelangestellten in einem Müllkasten entdeckt zu werden.

Was sollte ich also tun? Ich hatte soviel gewagt, alles war so überraschend gut gegangen, daß es jammervoll war, jetzt so festzusitzen, wo die Freiheit aus nächster Nähe winkte. Eine qualvolle Enttäuschung ergriff mich, mir wurde ganz kalt ums Herz. Da hörte ich auf einmal Schritte und faßte neue Hoffnung.

Ich zog mich ins Dunkel zurück hinter den Mülleimer, der der Tür am nächsten stand. Die Schritte im Hause näherten sich der Waschküche. Ich hörte eine Tür gehen und dann eine Männerstimme singen. Mit schönem, weichen Bariton summte sie das beliebte deutsche Lied:

»Ja das haben die Mädchen so gerne,
Die im Stübchen und die im Salong.«

Die Stimme verharrte zärtlich, mit gefühlvollem Tremolo auf dem Worte »Salong«. Der Sänger schien mit der Wirkung so zufrieden zu sein, daß er die Strophe wiederholte. Ein Gerassel, wie von losen Gegenständen in einer leeren Schachtel, bildete die Begleitung zu seinem Lied.

»Ein lustiger Bursche!«, dachte ich im stillen. Wenn ich doch nur sehen könnte, wer es ist! Aber ich wagte mich nicht in den kleinen gelben Lichtkreis hinaus, aus dem man allein in die Waschküche blicken konnte.

Der Gesang verstummte. Wieder hörte ich eine Tür gehen. Ging er etwa fort? Dann sah ich einen dünnen Lichtstreifen unter der Kellertür.

Im nächsten Augenblick sprang sie auf, und Karl, der Kellner, erschien, immer noch in seiner blauen Schürze und einen Eimer in jeder Hand. Er wollte offenbar zu den Müllkästen.

Da fiel mir Pudd'n Head Wilsons Rat ein: »Wenn du wütend bist, zähle bis vier; wenn du sehr wütend bist, fluche!« Ich war nicht wütend, aber ich hatte Angst. So entsetzliche Angst, daß ich hörte, wie mein Herz mit lauten Schlägen hämmerte. Nichtsdestoweniger befolgte ich den Rat des Weisen von Dawsons Landing und zählte im stillen: Eins, zwei, drei, vier, eins, zwei, drei, vier; während mein Herz klopfte: Ruhig Blut! Ruhig Blut! Ruhig Blut!, und die ganze Zeit über blieb ich hinter dem Müllkasten neben der Tür hocken.

Der Kellner summte wieder seinen Gassenhauer mit tiefem Brummbaß vor sich hin und blieb einen Augenblick vor der Tür stehen. Dann ging er langsam über den kleinen Vorplatz.

Würde er zu dem Müllkasten kommen, hinter dem ich kauerte? Nein, er ging vorüber.

Zum zweiten? Zum dritten? Zum vierten?

Nein!

Er lief quer über den ganzen Vorplatz und ging direkt auf den Kasten unterhalb der Treppe zu.

Im stillen betete ich ein Dankgebet und segnete die Ordnungsliebe der Deutschen, welche sogar ihren Müll organisieren und in verschiedene Kästen werfen.

Der Mann kehrte der Tür den Rücken zu.

Jetzt oder nie, dachte ich.

Ich schlich um meinen schützenden Müllkasten herum, gelangte auf Zehenspitzen zur Kellertür und schlüpfte leise ins Haus. In dem Augenblick hörte ich den Deckel von Karls Kasten zuknallen.

Vor mir lag ein dunkler Flur. Gleich zu meiner Rechten stand die Tür zur Waschküche weit offen. Diese mußte ich um jeden Preis vermeiden. Der Kerl kehrte sicher dahin zurück, und ich wollte es nicht darauf ankommen lassen, daß er mich vor sich her in die Hotelhalle zurücktrieb.

Mit ausgestreckten Händen tastete ich mich den dunklen Flur entlang. Auf einmal stieß ich auf einen Türdrücker. Ich drehte ihn um, die Tür ging nach innen auf, und ich schlüpfte hindurch. Als ich die Tür leise hinter mir geschlossen hatte, hörte ich Karls schwere Schritte und das Knirschen des Schlüssels, mit dem er die Kellertür abschloß.

Ich stand in einer Art Schrank, in dem es stockdunkel war, und wagte kaum zu atmen.

Noch einmal hörte ich den Mann sein Lied singen. Ich wagte nicht, aus meinem Versteck herauszugucken, denn seine Stimme klang so nah, daß ich fürchten mußte, ihm auf dem Flur zu begegnen. Ich stand also still und wartete.

Ich muß etwa eine Stunde lang so im Dunkeln gestanden haben. Ich hörte den Kellner in der Waschküche auf und ab gehen, lauschte seinen schweren, stapfenden Tritten, seinem ewigen Singsang und dem Rasseln seines Werkzeugs. Andauernd quälte mich die entsetzliche Furcht, er könne zum Schrank kommen und ihn aufschließen.

Es war kalt und feucht in meinem Versteck, aber der Schrank war geräumig genug, so daß ich mich entschloß, den Mantel anzuziehen, den ich über dem Arm trug. Als ich die Hand ausstreckte, stieß ich gegen eine Art vorstehenden Nagel in der Wand hinter mir.

»Verflucht!«, stieß ich gedämpft hervor, streckte aber die Hand noch einmal aus, um zu untersuchen, was mich da verletzt hatte. Meine Finger berührten das kalte Metall einer Klinke. Ich drückte sie herunter, und sie gab nach.

Eine Tür sprang auf, und ich befand mich in einem zweiten kleinen Vorplatz, von dem aus ein paar steinerne Stufen auf die Straße führten.

Ich stand auf einer schmalen, von hohen Häusern umsäumten Gasse. Es war eine Sackgasse, an deren offenem Ende ich den Schein von Straßenlaternen sehen konnte. Es hatte aufgehört zu regnen, die Luft war frisch und angenehm. Mit dem Koffer in der Hand lief ich das Gäßchen rasch entlang und landete in einer ruhigen Straße, die von einem Kanal durchquert war – wahrscheinlich die Straße, die ich vom Fenster meines Hotelzimmers aus gesehen hatte. Das Hotel Sixt lag rechts von dem Gäßchen; ich schlug also den Weg zur Linken ein und kam ein paar Minuten später auf einen freien Platz hinter der Börse.

Dort war eine Droschkenhaltestelle mit drei oder vier Wagen, deren Pferde schliefen und deren Kutscher im Inneren ihrer Wagen schnarchten. Ich weckte den Ersten und bat ihn, mich zum Café Tarnowski zu fahren.

Jeder, der einmal in Holland war, kennt das Café Tarnowski in Rotterdam. Es ist ein Riesenlokal mit Hunderten von Marmortischen, die zwischen Palmen unter einem riesigen Glasdach stehen. Es ist Tag und Nacht geöffnet. Die Kellner arbeiten da schichtweise. Tag und Nacht ist in der Halle Betrieb; Bestellungen werden gemacht, die Kellner laufen hin und her, und die Gäste spielen auf den Marmortischen Domino.

Ein köstlicher holländischer Milchkaffee, ein Beefsteak mit Bratkartoffeln, das schmackhafteste aller holländischen Gerichte, knuspriges Weißbrot, das noch warm war vom mitternächtlichen Backen und appetitliche holländische Butter entschädigten mich reichlich für die Aufregungen der Nacht. Dann bestellte ich noch einmal Kaffee, diesmal schwarzen, ließ mir ein Kursbuch kommen, zündete mir eine Zigarette an und ging daran, meinen Schlachtplan zu entwerfen.

Der Zug nach Berlin fuhr um sieben Uhr früh von Rotterdam fort. Jetzt war es 10 Minuten nach zwei; ich hatte also noch reichlich Zeit. Von dieser Nacht an bist du Deutscher, sagte ich mir, und augenblicklich fing ich an, mich auch als Deutscher zu fühlen.

»Es hat keinen Sinn, eine Rolle nur äußerlich zu spielen«, hatte Francis immer zu mir gesagt, »man muß sich ganz hineinfühlen. Wenn ich mich als Berliner verkleiden will, so genügt es nicht, mir den Kopf zu rasieren, einen steifen Hut zum Vormittags-Anzug aufzusetzen und mir die Nägel rosa zu lackieren. Ich muß mir vor allen Dingen einreden, daß ich der Herr der Schöpfung bin, daß schlechte Manieren ein Zeichen von männlicher Kraft sind und daß Unaufrichtigkeit die höchste Form von Diplomatie ist. Dann erst darf ich daran gehen, mir das Kostüm auszusuchen!«

Armer alter Francis, wie schlau er war und wie gut er seine Berliner kannte!

Man lernt eine Nation und ihre Gefühle durch nichts so gut kennen, wie durch ihre Zeitungen. Ich hatte seit Kriegsbeginn mit keinem Deutschen mehr gesprochen, außer mit ein paar armen verängstigten Gefangenen in Frankreich, und ich wußte, daß meine Kenntnis der deutschen Mentalität verblaßt war. Daher schickte ich den bereitwilligen Kellner fort und ließ mir sämtliche deutschen Zeitungen und Zeitschriften bringen, die er zur Verfügung hatte. Er kam mit einem ganzen Haufen zurück: »Berliner Tageblatt«, »Kölnische Zeitung«, »Vorwärts«, die meistgelesenen Witzblätter, »Kladderadatsch«, »Lustige Blätter« und »Simplicissimus«, illustrierte Blätter: »Leipziger Illustrierte Zeitung«, »Der Weltkrieg im Bild« usw. Dieses bemerkenswerte Café hielt sogar auch die weniger populären Zeitschriften, wie Hardens »Zukunft« und Skandalblätter wie den »Roland von Berlin«.

Zwei Stunden lang nährte ich mich mit zeitgenössischen deutschen Gedanken, wie sie in der deutschen Presse zum Ausdruck kamen. Ich spielte mich mehr und mehr in meine Rolle hinein und wiederholte mir immer wieder: »Wir Deutsche führen einen Defensivkrieg. Grey, dieser Schuft, hat den Weltkrieg entfacht. Gott strafe England!« So lächerlich dieses Benehmen mir auch heute erscheint, damals lachte ich nicht darüber. Ich mußte Deutscher sein, mußte deutsch fühlen und denken. Davon hing in nächster Zeit meine ganze Sicherheit ab.

Schließlich legte ich meine Lektüre höchst verwundert beiseite. In all diesen Blättern, die in Friedenszeit so ganz verschiedene Anschauungen und Richtungen vertraten, fand ich die gleiche Mentalität, den gleichen Standpunkt, das gleiche Geschrei. Was die Kölnische Zeitung in ihren Leitartikeln ausposaunte, echoten die Witzblätter in häßlicher, widerlicher Karikatur. Hier war die Rache organisiert, eine Reihe von Grammophonplatten für tausend verschiedene Apparate besprochen, damit jede ja dieselbe Leier spielte.

»Du brauchst dir um dein Deutschtum keine Gedanken zu machen«, sagte ich mir. »Hier steckt ja alles, was du brauchst! Du hast bloß ein Papagei zu sein wie alle anderen, dann bist du ein guter Deutscher!«

Es heißt, daß ein Kellner auf dem Kontinent einem zu jeder Tages- und Nachtzeit besorgen kann, was man zu haben wünscht. Diese Theorie wollte ich jetzt einmal auf die Probe stellen.

»Kellner«, sagte ich, auf deutsch natürlich, »ich möchte gern einen Koffer haben, einen Handkoffer. Glauben Sie, Sie können mir einen beschaffen?«

»Brauchen ihn der Herr sofort?« fragte der Mann.

»So schnell wie möglich«, erwiderte ich.

»In der Größe da?« sagte er und zeigte auf Semlins Tasche.

»Ja, oder auch kleiner, es kommt nicht so genau drauf an.«

»Ich werde sehen, was sich machen läßt.«

Zehn Minuten später kam der Mann mit einer braunen Ledertasche zurück, die etwas kleiner war als die Semlins. Sie war nicht mehr neu, und er verlangte 30 Gulden dafür. Ich zahlte sie ihm bereitwillig und gab ihm ein reichliches Trinkgeld, denn ich brauchte eine Tasche und konnte nicht warten, bis die Geschäfte öffneten, ohne meinen Zug nach Deutschland zu versäumen.

Ich zahlte meine Rechnung und fuhr mit meinen beiden Koffern durch die dunklen Straßen zum Hauptbahnhof. Als ich den großen Glaskuppelraum der Bahnhofshalle betrat, schlugen die Uhren sechs.

Ich ging direkt zum Schalter und kaufte mir ein Erster-Klasse-Billett nach Berlin. Man weiß ja nie, was passieren kann, und ich hatte vor Abfahrt des Zuges noch allerhand zu tun.

Der Bücherstand wurde gerade aufgemacht. Ich kaufte für 10 Gulden Bücher und Magazine, englische, französische und deutsche und stopfte sie in den eben im Café erstandenen Koffer. So beladen begab ich mich in den Wartesaal.

Dort machte ich mich an die Ausführung eines Planes, den ich entworfen hatte, um das Dokument, das Semlin von England mitgebracht hatte, in sicherem Gewahrsam zurückzulassen, wo es ohne besondere Mühe abzuholen war, falls mir etwas zustoßen sollte. Ich kannte in Holland niemanden außer Dicky. Und dem konnte ich das Dokument nicht schicken, denn ich traute der Post nicht. Aus demselben Grunde wollte ich das Dokument nicht an meine Bank in England senden. Außerdem wußte ich, daß man Briefe nicht vor acht Uhr morgens einschreiben lassen kann, und um die Zeit hoffte ich schon unterwegs nach Deutschland zu fein.

Nein, meine schön mit Büchern vollgestopfte und bei der Gepäckaufbewahrung deponierte Tasche sollte mein Safe sein. Daß Gepäckaufbewahrungsstellen ein verhältnismäßig sicheres Gewahrsam sind, haben Juwelendiebe und ähnliche Leute schon längst erkannt, und dieses Mittel, mein Dokument sicher zurückzulassen, schien mir besser als irgendein anderes.

Ich faßte also in die Tasche und nahm aus den Bücherstößen das erste beste Buch heraus. Es war eine deutsche Broschüre: »Gott strafe England!« von Professor Dr. Hugo Bischoff von der Universität Göttingen. Die Ironie der Geschichte appellierte an meinen Sinn für Humor. »So sei es!«, sagte ich. »Des würdigen Professors feurige Reden gegen mein Vaterland sollen die Ehre haben, das Dokument zu bergen, das offenbar für sein Vaterland von so hohem Wert ist!« Und ich steckte das kleine Baumwollfutteral in die Schmähschrift hinein, verstaute die unter den anderen Büchern und machte die Tasche zu.

Die Gepäckquittung würde im Gegensatz zu Semlins Dokument keine Aufmerksamkeit erregen, falls sie unglücklicherweise unterwegs in falsche Hände geraten sollte. Ehe ich meine Büchertasche zur Gepäckaufbewahrung brachte, schrieb ich zwei Briefe. Beide an Ashcroft, an Ashcroft vom Auswärtigen Amt, der mir meinen Paß und meine Ausreiseerlaubnis nach Rotterdam besorgt hatte. Herbert Ashcroft und ich waren alte Freunde. Ich schickte die Briefe an seine Londoner Privatadresse. Ich wußte, daß die Postzensur, die zwar Briefe aus neutralen Ländern scharf kontrollierte, Herberts Korrespondenz in Ruhe lassen würde.

Der erste Brief war kurz. »Lieber Herbert!«, schrieb ich. »Würdest Du so gut sein und Inliegendes aufbewahren, bis Du wieder von mir hörst. Abscheuliches Wetter hier. Dein D. O.«

Dieser Brief sollte die Quittung von der Gepäckaufbewahrung enthalten. Um die Bedeutung einer Anlage zu vertuschen, ist es immer ratsam, den erklärenden Brief besonders zu schicken.

»Lieber Herbert«, schrieb ich in meinem zweiten Brief. »Wenn Du von heute an zwei Monate lang nichts über die Anlage hörst, die Du wohl bereits bekommen haben wirst, schicke doch bitte jemanden zum Hauptbahnhof in Rotterdam oder fahre am liebsten selber hin und hole mein Gepäck von der Aufbewahrung ab. Ich weiß, wieviel Du immer zu tun hast, daher darfst Du gewiß sein, daß ich Deine Zeit nicht für Lappalien in Anspruch nehmen will. Viele Grüße Dein D. O.« Und um ihm auf die Spur zu helfen, fügte ich hinzu: »Gott strafe England!«, was ja auffallend genug war.

Ich lachte innerlich bei dem Gedanken, was für ein Gesicht Herbert machen würde, wenn er die unverständliche Bitte las, daß er seinen staubigen Schreibtisch in der Downingstreet verlassen und über die Nordsee fahren sollte, um mein Gepäck abzuholen. Aber fahren würde er schon. Ich kannte doch meinen Herbert. Er war zwar langweilig und trocken und konventionell, aber er war der denkbar treueste Freund.

Am Eingang des Wartesaals rief ich einen Träger, übergab ihm Semlins Koffer und Mantel und gab ihm den Auftrag, mir ein Coupé erster Klasse im Berliner Zug zu reservieren. Ich wollte ihn auf dem Bahnsteig erwarten. Dann gab ich im Gepäckraum gegenüber meine Büchertasche ab, steckte die Quittung in den ersten Brief und diesen in den Bahnhofskasten. Mit dem zweiten Brief ging ich auf die Straße und steckte ihn in einen Briefkasten neben einem Zigarrengeschäft in einer ruhigen Straße, ein paar Ecken weiter. Auf diese Weise hoffte ich, daß Herbert den Brief mit der Quittung vor dem erklärenden Brief erhalten würde.

Auf dem Rückweg zum Bahnhof entdeckte ich eine Art Konfektionsladen, der trotz der frühen Morgenstunde bereits offen stand. Ein dicker Herr in Hemdsärmeln, die Daumen in den Westentaschen, stand in der Eingangstür, die von hängenden Mänteln, Hüten und Stiefeln eingerahmt war. Ich hatte keinen Schirm, und mir fiel ein, daß ein Regenmantel meine äußerst spärliche Garderobe recht gut ergänzen würde. Außerdem überlegte ich, daß Regenmäntel bei der Gummiknappheit in Deutschland bestimmt unerschwinglich sein würden.

Ich folgte also dem Sohne Sems in seinen dunklen Laden und tauchte kurz darauf mit einem abschreckend häßlichen grünen Mackintosh wieder auf, der abscheulich nach Gummi roch. Es war ein schauderhaftes Kleidungsstück, aber ich überlegte, daß ich Deutscher sei und mich ja auch entsprechend anziehen müsse.

Draußen vorm Laden rannte ich einem Männchen, das vor dem Eingang herumlungerte, beinahe in die Arme. Es war ein magerer, schäbig angezogener alter Kerl, der eine schmutzige Schirmmütze mit einem schwärzlich angelaufenen Goldband trug. Ich erkannte ihn sofort als einen jener Fremdenführer, die, halb Anreißer, halb Zuhälter, die Bahnhöfe aller großen Städte auf dem Kontinent unsicher machen.

»Brauchen Sie einen Führer, Herr?«, sagte der Mann auf deutsch.

Ich schüttelte den Kopf und eilte weiter. Der Mann trottete neben mir her. »Brauchen Sie ein gutes, billiges Hotel, Herr? Gutes, anständiges Haus ... Brauchen Sie ...«

»Ach, scheren Sie sich zum Teufel!«, rief ich ärgerlich. Aber der Mann ließ nicht locker, rannte immer neben mir her und sagte mit asthmatischer, schnaufender Stimme immer wieder sein Sprüchlein auf. Ich bog irgendwo um die nächste Ecke und hoffte, den Burschen auf die Weise loszuwerden, aber umsonst. Endlich hielt ich inne und reichte ihm einen Gulden.

»Nehmen Sie das und machen Sie, daß Sie fortkommen!«

Der Alte winkte ab.

»Danke, danke«, sagte er leichthin und blickte sich gleichzeitig nach allen Seiten um.

Dann sagte er mit ruhiger Stimme, die ganz anders klang, als sein Geplärr von vorhin, auf englisch: »Sie müssen ja ein verdammt kühler Kopf sein!«

Aber ich ließ mich nicht bluffen, so überrascht ich auch war. Ich sagte rasch auf deutsch:

»Was wollen Sie von mir? Ich verstehe Sie nicht. Wenn Sie mich noch länger belästigen, werde ich die Polizei rufen!«

Wieder sprach er englisch und zwar mit der Stimme eines gebildeten Engländers: »Entweder sind Sie ein Oberschlauer oder verrückt. Wahrhaftig! Der ganze Bahnhof ist hinter Ihnen her! Und doch haben Sie den Wartesaal verlassen und sind an der ganzen Bande vorbeigelaufen, ohne sich auch nur um Haaresbreite umzusehen. Kein Wunder, daß man Sie nicht erwischt hat!«

Wieder antwortete ich auf deutsch: »Ich verstehe nicht!«

Aber er fuhr fort englisch zu sprechen, ohne meine Bemerkung zu beachten. »Donnerwetter nochmal, Mensch, Sie können doch nicht mit einer Krawatte in Ihren englischen Regimentsfarben nach Deutschland fahren!«

Meine Hand flog an meinen Kragen, und das Blut stieg mir zu Kopf. Was für ein verdammter Dilettant war ich doch, trotz allem! Ich hatte vollständig vergessen, daß ich noch immer meine Regimentsfarben trug. Ich war purpurrot vor Scham, fühlte mich aber gleichzeitig auch erleichtert. Zu diesem Mann schien ich Vertrauen haben zu können. Das müßte schon ein besonders scharfsichtiger deutscher Agent sein, dem so eine Kleinigkeit auffiel.

Trotzdem beschloß ich, weiter beim Deutschen zu bleiben: Vorsicht war oberstes Gebot.

Aber der Führer hatte wieder angefangen, seinen Salm herunterzubeten. Zwei Arbeiter kamen die Straße herauf auf uns zu. Als sie vorüber waren, sagte er wieder auf englisch:

»Sie haben ganz recht, einem Fremden wie mir gegenüber vorsichtig zu sein, aber ich möchte Sie warnen. Ich bin Ihnen den ganzen Morgen über gefolgt. Ein Glück für Sie, daß ich es war und keiner von den Anderen ...«

Ich schwieg immer noch. Das Männchen fuhr fort: »In der letzten halben Stunde hat man den Bahnhof nach Ihnen abgegrast. Wie es Ihnen geglückt ist, denen zu entwischen, ist mir schleierhaft. Ich kann es mir höchstens damit erklären, daß keiner eine genaue Vorstellung von Ihnen hat. Sie sehen wahrhaftig nicht gerade sehr englisch aus, das gebe ich Ihnen schriftlich; aber ich habe Ihre Krawatte entdeckt und habe dann schließlich doch den britischen Offizier erkannt. Nein, Sie brauchen mir nichts von sich zu erzählen, das geht mich nichts an, ebensowenig, wie es Sie angeht, wer ich bin. Aber ich weiß, wo Sie hinwollen, denn ich war dabei, als Sie Ihr Billett kauften. Lassen Sie es sich jedoch gesagt sein: Ihre Chance, auf normalem Wege aus der Bahnhofshalle auf den Bahnsteig zu kommen und in den Zug zu steigen, ist genau so gering wie die, über die Grenze zu fliegen.«

»Wer soll mich denn aber aufhalten?«, fragte ich. »Wir sind doch hier nicht in Deutschland ...«

»Pah!« sagte der Führer. »Man wird Sie eben schubsen, dann gibt es einen Streit, eine falsche Beschuldigung, und Sie versäumen Ihren Zug! Für alles andere wird man schon sorgen!«

»Donnerwetter Mensch«, fuhr er fort, »ich weiß, was ich sage. Hier, kommen Sie mit, und ich werde Ihnen alles zeigen. Bis zur Abfahrt des Zuges sind noch zwanzig Minuten. Jetzt reden Sie nur wieder deutsch!«

Wir gingen zusammen die Straße entlang und sahen für alle Welt aus wie ein Fremdenführer und sein Opfer. Als wir in die Nähe des Bahnhofs kamen, sagte der Führer wieder in seinem näselnden Deutsch: »Hören Sie jetzt mal gut zu. Ich verlasse Sie hier. Sie gehen jetzt in den Fahrkartenraum für Vorortzüge – der Eingang ist in der Straße links von der Bahnhofshalle. Gehen Sie da in den Warteraum erster Klasse und gucken Sie aus dem Fenster zur Bahnhofshalle. Da werden Sie einen Teil der gegen Sie mobilisierten Streitkräfte sehen. Es ist ein richtiger Kordon von Fremdenführern von den Eingängen bis zu den Bahnsteigen gezogen. Ganz unauffällig natürlich. Wenn Sie aufpassen, werden Sie auch eine Menge Detektive bemerken ...«

»Fremdenführer?«, sagte ich.

Er nickte vergnügt.

»Nicht gerade angenehm für mich, wie? Aber man bekommt leichter was aus ihnen raus, wenn man sich unter sie mischt. Jedenfalls müssen Sie sich mir jetzt anvertrauen. Also hören Sie zu! Wenn Sie festgestellt haben, daß ich recht habe mit dem, was ich Ihnen hier sage, nehmen Sie sich eine Bahnsteigkarte und gehen Sie auf Bahnsteig 5 hinauf. Da steht ein Zug. Gehen Sie bis ans Ende, dahin, wo die Lokomotive angekoppelt werden müßte und steigen Sie in das letzte Coupé erster Klasse. Da rühren Sie sich nicht vom Fleck, bis Sie mich sehen. So. Und jetzt geben Sie mir den Gulden da!«

Ich gab ihm das Geld. Der Alte sah es sich an und schüttelte den Kopf. Ich gab ihm also noch einen Gulden, woraufhin er seine Mütze abnahm, sich tief verneigte und davoneilte.

In dem Wartesaal für Vorortzüge blickte ich aus dem Fenster auf die Bahnhofshalle hinaus. Wirklich, da lungerten eins, zwei, vier, sechs Fremdenführer an den Treppen zu den Hauptbahnsteigen herum. Es waren eine Menge Menschen in der Halle, und einige von ihnen waren mit jenem seltsamen Geschmack angezogen und hatten auch die rundlichen Konturen, an denen man den Deutschen erkennt.

Jetzt hatte ich kein Mißtrauen mehr und befolgte die Instruktionen des Führers aufs I-Tüpfelchen. Bahnsteig 5 war vollständig leer, als ich atemlos von der langen Treppe dort anlangte, und ich konnte das letzte Coupé erster Klasse unbemerkt erreichen. Ich setzte mich an das dem Bahnsteig entgegengesetzte Fenster.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war 10 Minuten vor sieben. Von meinem geheimnisvollen Freund keine Spur. Was mochte übrigens aus meinem Träger geworden sein, ging es mir durch den Kopf. Eigentlich war ja in Semlins Tasche nichts weiter von Bedeutung, aber ein Reisender mit Gepäck macht immer einen vertrauenswürdigeren Eindruck als einer ohne.

Fünf Minuten vor sieben! Noch immer kein Zeichen von dem Führer. Die Minuten tickten vorüber. Herr des Himmels! Ich würde noch den Zug versäumen. Aber ich blieb entschlossen in meiner Ecke sitzen. Ich hatte Vertrauen in den Mann gesetzt und wollte ihm bis zu Ende vertrauen.

Plötzlich tauchte sein Gesicht am Fenster neben mir auf. Die Tür wurde aufgerissen.

»Rasch!« flüsterte er mir ins Ohr, »folgen Sie mir.«

»Meine Sachen ...« raunte ich ihm zu, während ich schon mit einem Fuß auf dem Trittbrett des anderen Zuges stand. Im selben Augenblick setzte sich der Zug in Bewegung.

Der Führer zeigte auf das Coupé, in das ich hineingeklettert war.

»Der Gepäckträger ...«, rief ich ihm aus der offenen Tür zu, weil ich meinte, er hätte mich nicht verstanden.

Der Führer zeigte noch einmal auf das Coupé, dann tippte er sich mit vielsagendem Lächeln auf die Brust.

Im nächsten Augenblick war er verschwunden, und ich hatte ihm nicht einmal dankeschön gesagt.

Der Berliner Zug fuhr laut ratternd aus dem Bahnhof hinaus. Ich warf einen vorsichtigen Blick aus dem Coupéfenster und sah, wie Karl, der Kellner, den Bahnsteig entlang rannte. Neben ihm lief mühsam ein schwarzer, breitschultriger Mann, der sich auf einen Stock stützte und humpelte. Einer seiner Füße war verunstaltet, und der Schweiß rann ihm von der Stirn herunter.

Ich hätte gern dem Paar zugewinkt, aber ich entzog mich doch lieber ihren Blicken.

Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht mußte von nun an mein Leitwort sein.


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