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14. Kapitel.
Haases Bierkeller

Kore zog sich bald darauf mit dem Mann in Hemdsärmeln, in dem ich den Wirt vermutete, in ein Hinterzimmer zurück, und nach einer Weile winkte mich die flachshaarige Dame an der Theke zu sich heran und bat mich, den Herren zu folgen.

»Das ist Julius Zimmermann, der junge Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe«, sagte Kore; dann wandte er sich an mich:

»Herr Haase ist bereit, Sie auf meine Empfehlung hin als Kellner anzustellen, Julius, sehen Sie zu, daß ich mich Ihrer nicht zu schämen brauche!«

Hier kicherte der Mann in Hemdsärmeln, ein großer, dicker Kerl mit kugelrundem Kopf und einem Doppelkinn, laut!

»Kolossal!«, rief er aus, »Herr Kore macht gern Witze! Ausgezeichnet!«, und er blickte mich schelmisch an.

Darauf verabschiedete sich Kore und versprach, nach ein paar Tagen wiederzukommen und sich nach mir zu erkundigen. Der Wirt öffnete eine niedrige Tür in der Ecke, die auf eine fensterlose Nische führte, in der zwei wenig einladende Betten standen. Die Luft war da grauenhaft stickig.

»Sie werden hier mit Otto schlafen«, sagte der Wirt. Dann zeigte er mir eine schmutzige, weiße Schürze, die auf einem der Betten lag und befahl mir, Rock und Weste auszuziehen und die Schürze umzubinden.

»Die hat Johann gehört«, sagte er, »aber der braucht sie jetzt nicht mehr. Ein braver Kerl, der Johann, aber unbesonnen. Ich habe immer gesagt, es würde ein schlechtes Ende nehmen mit ihm«, er lachte geräuschvoll.

»Jetzt können Sie gehen und beim Bedienen helfen«, fuhr er fort, »Otto wird Ihnen schon zeigen, was zu tun ist!«

Innerhalb von vierundzwanzig Stunden war ich demnach abwechselnd Spion, Krankenwärter und Kellner.

Über die erniedrigende Zeit, die nun folgte, möchte ich schnell hinweggehen. Das Kellerloch war eine richtige Lasterhöhle, und ich hatte das Gefühl, wirklich ganz tief gesunken zu sein, wenn ich diesen Abschaum der Menschheit dort bedienen mußte. Das Lokal war eine richtige Kaschemme. Noch nie im Leben habe ich so brutale Gesichter gesehen wie die, die mich jeden Abend durch den Rauchdunst anstierten, wenn ich in meinem ordinären Anzug von Tisch zu Tisch rannte. Gauner, Hehler, Zuhälter, Prostituierte und Galgenvögel jeder Art trafen sich täglich in Herrn Haases Bierkeller. Viele der Männer trugen das schmutzige und verblichene Feldgrau der Soldaten, die von der Front zurückkehrten, und wenn ich in ihre widerlichen, fuchsartigen Gesichter blickte, die gerötet waren vom Saufen, konnte ich das Elend Belgiens zutiefst mitempfinden.

Die Unterhaltung drehte sich nur um Verbrechen und Gewalttaten. Die Männer, die von der Front kamen, erzählten triumphierend von Freßgelagen und Plündereien in einsamen belgischen Dörfern oder berichteten mit Wollust von den Greueln des Schlachtfeldes, den Bergen halbverwester Leichen und den abscheulichen Verstümmelungen, die sie an den Toten gesehen hatten. Dann war auch oft von »Rache« die Rede, gegen die »verräterischen Engländer«. Besonders eine Geschichte vom Schicksal eines schottischen Sergeanten ... »der Hochländer« nannten sie ihn in dieser oft wiederholten Geschichte ... macht mich immer noch zittern vor ohnmächtiger Wut, wenn ich daran denke.

Eines Abends schnappte ich den Namen des Hotels Esplanade auf; ich näherte mich dem betreffenden Tisch, an dem zwei geckenhaft gekleidete Zuhälter und eine schlampige Straßendirne bewundernd von meiner Heldentat redeten.

»Diesmal hat der Klumpfuß seinen Meister gefunden«, rief die Frau aus. »Warum hat der englische Spion nur nicht ganze Arbeit geleistet und den Hund abgemurkst?«, sie spie elegant auf die Sägespäne auf dem Boden.

»Na, ich möcht nicht in der Haut dieses Jungen stecken«, murmelte einer der Männer, »mit dem Klumpfuß ist noch keiner fertig geworden. Erinnerst du dich an Meinhardt, den Franz? Der wollte den Klumpfuß überrumpeln, und wir wissen ja, was ihm passiert ist!«

»Die ganze Stadt wird ja nach diesem Engländer abgesucht«, erwiderte der andere Mann. »Vogel, der für Abteilung VII arbeitet, du weißt doch, wen ich meine, hat es mir erzählt. Sie haben alle Hotels in Berlin und in den Vororten abgeklappert, aber sie haben ihn nicht gefunden. Gestern abend haben sie im Café Bauer eine Razzia abgehalten. Der Engländer war nicht da, aber sie haben drei oder vier andere bekommen, die sie suchten – Fritz und noch ein Deserteur waren dabei, beinahe hätten sie mich auch geschnappt!«

Derartige Bemerkungen über meine Begegnung mit dem Klumpfuß hörte ich oft. Von mir sprach man immer nur voller Bewunderung. Aber der Name Klumpfuß rief immer nur Abscheu und Entsetzen hervor.

Ich lebte in ständiger Angst vor einer Razzia bei Haase. Warum das Lokal mit dieser ganzen Gaunerbande, die sich da täglich versammelte, so lange verschont geblieben war, war mir unerklärlich. Es war wohl einer jener Defekte in der deutschen Organisation, die ewig rätselhaft bleiben. Inzwischen aber war ich machtlos und konnte nicht fliehen. Das erste was Haase getan hatte, war, mir meine Papiere fortzunehmen – um sie der Polizei zu schicken, wie er behauptete – aber er gab sie mir nie zurück, und als ich ihn darum ersuchte, tat er es mit einer Ausrede ab.

Ich war regulär gefangen. Von früh bis spät in die Nacht mußte ich auf den Beinen sein und hatte kaum Gelegenheit, einmal auszugehen; als ich eines Nachmittags mit dem Wirt über das Thema sprach, weigerte er sich energisch, mich aus den Augen zu lassen.

»Die Straße ist jetzt nichts für Sie; es ist nicht nur für Sie gefährlich, sondern für uns alle mit!«, sagte er.

Das Leben in dieser Kaschemme war mir unerträglich. Otto, ein blasser und übellauniger Schwindsüchtiger, der wie ich gezwungen war, vor Sonnenaufgang aufzustehen, wusch sich nie, und seine Nachbarschaft in dem stickigen Loch, in dem wir schliefen, war einfach fürchterlich. Wenn ich frühmorgens auf den schmalen stinkigen Hof hinausging, wo ich mir das eiskalte Wasser der Pumpe über Gesicht und Körper laufen ließ, lachte er mir offen ins Gesicht. Und das Essen! Erst als ich diese Lebensmittel sah, das ordinäre und oft schon verdorbene Pferdefleisch, das unappetitliche Kriegsbrot, den Kaffee-Ersatz und so weiter – begriff ich, wie sehr Deutschland, oder zum mindesten die Armen in Deutschland – unter der englischen Blockade litten. Dieser Gedanke half mir jedesmal den Ekel zu überwinden, mit dem ich mich zu Tisch setzte. Das Familienleben bei Haases war die Hölle auf Erden. Haase selbst war ein betrunkener Zuhälter, der hinter jeder Schürze her war, und dessen komplizierte Affären mit dem weiblichen Teil seiner Kundschaft heftige Szenen mit der blondhaarigen Hebe zur Folge hatten, die an der Theke präsidierte und ihm den Haushalt führte. Sie und Otto gingen täglich hinaus, um Schlange vor den Lebensmittelgeschäften zu stehen.

Diese Gänge schienen ihre Laune noch mehr zu verderben, denn manchmal explodierte sie bei Tisch, wenn Haase wieder einmal über das Essen brummte. Da Otto ein boshaftes Vergnügen an diesen Familienszenen zu finden schien, wurde ich häufig hinzugerufen, um wieder Frieden zu stiften. Mehr als einmal rettete ich die Gnädige vor Gewalttätigkeiten, die sie mit ihrer scharfen Zunge heraufbeschworen hatte. Sie war ein armes, welkes Wesen, und das Tragische der Geschichte war, daß sie diesen verkommenen Zuhälter liebte. Ich glaube, sie war mir dankbar für meine guten Dienste, denn sie benahm sich mir gegenüber immer freundlich, obgleich sie kaum je mit mir sprach.

Diese öden Tage in Sumpf und Schmutz wären unerträglich gewesen, hätte mich nicht das Wort Boonekamp über Wasser gehalten, das mir die Adresse meines Bruders übermitteln sollte. In dem Mauseloch, wo ich schlief, hing ein schmuddliges Reklameschild dieses »Aperitifs« an der Wand. Es verkündete, Boonekamp sei der beste deutsche Schnaps. Wenn ich mich nachts auszog, starrte ich dieses Plakat oft an und überlegte, was für eine Beziehung wohl der Boonekamp zu meinem Bruder haben könnte. Ich beschloß, die erste beste Gelegenheit zu benutzen, um das Pappschild zu untersuchen. Eines Morgens, als Otto wieder beim Schlächter Schlange stand, schlich ich mich aus der Budike fort in unseren Schlafraum, zündete meine Kerze an, nahm das Plakat herunter und unterzog es einer genauen Prüfung. Vorn befand sich nichts als die Reklameschrift, rote Buchstaben auf grünem Hintergrund, und hinten war nur glatte weiße Pappe.

Als ich das Schild wieder anhängen wollte, bemerkte ich ein paar Bleistiftzüge unterhalb des Nagels, an dem das Plakat gehangen hatte. Mein Herz stand einen Augenblick still vor Freude über diese Entdeckung, denn ich erkannte die schöne, künstlerische Handschrift meines Bruders. Die Worte waren englisch und vor allen Dingen mit den Initialen meines Bruders unterzeichnet. Was ich las war folgendes:

5. 7. 16. Ich bin im Kaffee Regina in Düsseldorf zu finden.
F. O.

Nun konnte ich alles ertragen! Die Botschaft hatte die fast erloschene Hoffnung in meinem Herzen neu belebt. Am 5. Juli hatte Francis wenigstens noch gelebt. An diese Tatsache klammerte ich mich wie an einen Rettungsanker. Nun hatte ich wieder Mut, das schlimmste aller meiner Erlebnisse in Deutschland zu Ende zu führen, diese langen Wartetage in der Diebshöhle da unten. Ich mußte mich mit Geduld wappnen, das wußte ich. Vielleicht würde dann der Tag kommen, an dem ich meine Papiere von Haase herausbekommen oder Kore, wenn er zu Besuch kam, überreden könnte, mir eine Reiseerlaubnis nach Düsseldorf zu verschaffen. Aber meine Aufenthaltsbewilligung näherte sich ihrem Ende, und Kore ließ nichts von sich hören.

Es kamen oft Augenblicke, in denen ich drauf und dran war, Haase oder einen der anderen nach der Zeit zu fragen, da mein Bruder in dieser Kneipe gedient hatte. Aber ich fürchtete, dadurch die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Kein Mensch richtete irgendeine persönliche Frage an mich, und solange ich meine Sklavenarbeit verrichtete, ohne Lohn zu empfangen, würde man mich wohl auch nicht behelligen. Gelegentliche Fragen nach meinen Vorgängern brachten keine Informationen über Francis zutage. Offenbar hatte Haase andauernd mit dem Personal gewechselt und immer obskure und fragwürdige Angestellte gehabt.

Nur von Johann, dessen Schürze ich trug, erzählte Otto ausführlicher. »Ein dämlicher Kerl!«, erklärte er, »es ging ihm hier sehr gut, Haase hatte ihn gern und auch bei den Kunden war er beliebt, besonders bei den Damen. Aber ausgerechnet mußte er sich in Frau Hedwig (die Dame an der Theke) verknallen, und da hat er sich mit Haase gezankt und ihn bedroht – wegen der Kunden, deren Papiere nicht in Ordnung sind, wissen Sie. Als Johann dann das nächste Mal ausging, wurde er verhaftet. Und dann haben sie ihn in Spandau erschossen!«

»Erschossen!« rief ich aus, »warum denn?«

»Als Deserteur!«

»War er denn aber ein Deserteur?«

»Ach was! Aber er hatte die Papiere eines Deserteurs in den Taschen ... Seine eigenen waren futsch. Ja, ja! Wer sich mit Haase zankt, ist übel dran!«

Jetzt gab ich mir noch mehr Mühe als vorher, es nicht mit dem Wirt zu verderben. Durch meinen unermüdlichen Fleiß erwarb ich mir seinen Beifall, obwohl er bei der kleinsten Kleinigkeit in Jähzorn geraten konnte.

Eines Abends um sechs kam ein junger Mann, den ich noch nie bei uns gesehen hatte, ins Lokal und fragte nach Haase, der gerade auf dem Sofa im Hinterzimmer schlief. Als Hedwig den Jüngling erblickte, sprang sie von ihrem hohen Stuhl hinter der Bar herunter und verschwand. Dann kehrte sie unverzüglich zurück und ohne sich um mich zu kümmern, führte sie den jungen Mann ins Hinterzimmer, wo er etwa eine halbe Stunde lang blieb. Dann tauchte er in Hedwigs Begleitung wieder auf und ging fort.

Ich war ganz entsetzt über die Veränderung in dem Gesicht der Frau. Sie war leichenblaß, ihre Augen waren vom Weinen gerötet und ihre Blicke wanderten unentwegt zur Tür. Es war gerade eine stille Zeit und kein einziger Gast war im Lokal.

»Sie sehen schlecht aus, Frau Hedwig«, sagte ich, »hat Haase wieder Krach gemacht?«

Sie blickte zu mir empor und schüttelte den Kopf. Eine Träne rollte über ihre geschminkte Wange.

»Ich muß sprechen«, sagte sie, »ich kann diese Qual nicht mehr für mich behalten. Sie sind ein netter, junger Mann und können sicher schweigen. Julius, es steht uns Schlimmes bevor!«

»Was meinen Sie denn?« fragte ich, und böse Vorahnungen bemächtigten sich meiner.

»Kore!« flüsterte sie.

»Kore?«, wiederholte ich. »Was ist denn mit dem?«

Sie blickte ängstlich umher.

»Er ist gestern morgen hopp genommen«, sagte sie.

»Sie meinen verhaftet?«, rief ich aus und wollte die bestürzende Neuigkeit nicht glauben.

»Man ist frühmorgens in seine Wohnung eingedrungen und hat ihn im Bett verhaftet. Ach, es ist schrecklich!«, sie vergrub das Gesicht in den Händen.

»Aber das ist doch gewiß noch kein Grund zu verzweifeln«, tröstete ich sie, obgleich es mir eiskalt ums Herz wurde. »Was bedeutet schon heute eine Verhaftung bei diesen vielen Verordnungen ...«

Die Frau hob ihr unter der Schminke bleiches Gesicht zu meinem empor.

»Kore ist heut morgen im Moabiter Gefängnis erschossen worden«, sagte sie leise, »der junge Mann hat's uns eben erzählt.« Dann fügte sie atemlos hinzu:

»Sie wissen gar nicht, was das für uns heißt. Haase hatte Geschäfte mit diesem Juden. Wenn sie ihn erschossen haben, dann heißt das, daß sie alles, was sie wissen wollten, aus ihm herausbekommen haben. Das bedeutet unseren Ruin. Das heißt, daß es Haase genau so gehen wird.

»Aber Haase ist eigensinnig und leichtsinnig. Der Mann hat ihn gewarnt und gesagt, daß er sich jeden Augenblick auf eine Razzia gefaßt machen könne. Ich habe ihn himmelhoch angefleht, aber vergebens. Er glaubt, daß Kore gequatscht hat. Er glaubt, daß die Polizei vielleicht kommt, aber er sagt, sie werden nicht wagen, ihn anzufassen: er hat ihnen zuviel Dienste geleistet; er weiß zu viel. Ach, ich habe Angst! Ich habe Angst!«

»Hedwig!«, ertönte Haases Stimme aus dem Hinterzimmer.

Die Frau trocknete hastig ihre Augen und verschwand durch die Tür.

Die Bahn war frei, wenn ich entfliehen wollte. Aber wo sollte ich, den man verfolgte, ohne Papiere, ohne Paß hin?

Die Nachricht von Kores Verhaftung und Erschießung ließ mich nicht los. Gewiß, der Mann hatte ein gefährliches Spiel gespielt und wahrscheinlich schon seit vielen Jahren. Aber wenn man nun meine Beziehungen zu ihm und zu der Straße in den Zelten herausgefunden hatte?

Ich lief durch das Lokal hindurch und öffnete die Tür zur Straße. Seit ich hier war, hatte ich noch nie einen Fuß hinausgesetzt, und so hoffnungslos ein Fluchtversuch mir auch erschien, ich wollte doch die Umgebung der Kneipe auf jeden Fall rekognoszieren.

Ich sprang die Treppen rasch hinauf und fiel einem Mann, der vor dem Eingang stand, beinahe in die Arme. Wir baten einander beide um Verzeihung, aber er starrte mich vor dem Weitergehen genau an. Dann erblickte ich einen anderen Mann, der auf dem Bürgersteig gegenüber auf und ab ging. Ein paar Schritte weiter fort an der Ecke lungerten ebenfalls zwei Männer herum.

Und alle hielten sie die Augen auf den Kellereingang gerichtet, vor dem ich stand.

Mein Gesicht konnten sie nicht erkennen, das wußte ich, denn die Straße war nur trübe beleuchtet und hinter mir war die dunkle Kellertreppe. Ich riß mich schleunigst zusammen, zündete mir seelenruhig eine Zigarette an und rauchte sie, als wäre ich von unten heraufgekommen, um etwas frische Luft zu schöpfen. Ich hielt mich eine Zeitlang oben auf, dann ging ich wieder hinunter.

Kaum war ich wieder im Lokal, als Haase, von der Frau gefolgt, aus der Hinterstube auftauchte. Sein Gang war aufrecht und seine Augen blitzten. Ich mochte den Kerl nicht leiden, aber ich muß schon sagen, daß er einen beherzten Eindruck machte. Er hielt meine Papiere in der Hand.

»Hier, mein Sohn«, sagte er ganz freundschaftlich, »stecken Sie sie ein, Sie werden sie heute abend vielleicht brauchen.«

Ehe ich seinem Rat folgte, warf ich einen Blick auf die Papiere.

Er bemerkte es und lachte. »Man hat Ihnen wohl von Johann erzählt?«, sagte er. »Keine Angst, Julius, wir beide sind Freunde.«

Die Papiere lauteten wirklich auf den Namen Julius Zimmermann.

Wir aßen gerade an einem der Tische im Vorderzimmer zu Abend, es war noch sehr früh und es waren nur wenig Gäste im Lokal, als ein Mann, einer unserer Stammgäste, eilig die Treppe herabgestürzt kam. Er ging direkt auf Haase los und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Nimm dich in acht, Haase«, hörte ich ihn sagen, »weißt du, wer Kore hat verhaften und erschießen lasten? Der Klumpfuß! Da steckt mehr dahinter, als wir ahnen! Hüte dich und verdufte! In einer Stunde ist es vielleicht schon zu spät.«

Dann stürzte er davon. Ich war wie vom Donner gerührt.

»Zum Teufel nochmal!«, sagte der Wirt und seine große Faust sauste krachend auf den Tisch nieder, daß die Gläser klirrten, »sie werden mich nicht anrühren, nicht einmal der Deibel wird mich dazu bringen, das Haus zu verlassen, bevor sie kommen, wenn sie überhaupt kommen!«

Die Frau brach in Tränen aus, während Otto angsterfüllt mit seinen wässerigen Augen blinkerte. Ich saß ganz still und blickte auf meinen Teller. Mein Herz war zu voll für Worte, es war bitter, soviel gewagt zu haben, so weit gekommen zu sein und dann vor einer anscheinend unübersteigbaren Schranke zu stehen. Sie waren mir auf der Spur, das stand fest. Der Name des Klumpfuß, die rasche, strenge Strafe, die er Kore erteilt hatte, war Beweis genug, und ich konnte nichts tun. Dieser Keller hier war eine Sackgasse, eine richtige Falle; wenn ich nur einen Fuß aus dem Haus setzte, würde ich den Männern da oben in die Hände fallen, die draußen auf der Straße ihre lautlose Wache hielten.

Ich mußte also warten. Allmählich füllte sich der Keller mit Gästen, aber ich bemerkte, daß viele vertraute Gesichter fehlten. Die schlechte Nachricht hatte sich wahrscheinlich herumgesprochen. Einmal kam ein Mann auf ein Glas Bier herein, trank es im Stehen und ließ die Tür beim Hinausgehen offen. Als ich sie hinter ihm schloß, hörte ich Flüstern und das Geräusch scharrender Füße oben auf der Treppe. Es ging alles so leise vor sich, daß unten niemand außer mir wußte, was geschehen war. Der Vorfall bewies mir, wie gut wir bewacht wurden.

Der Abend rückte vor, mir schien er kein Ende nehmen zu wollen. Ich ging mit meinen Bierseideln und Schnapsgläsern unaufhörlich hin und her. Sobald ich aber einen Augenblick Ruhe hatte, begab ich mich in die Nähe der Tür. Noch schimmerte ein schwacher Hoffnungsstrahl in meinem Hirn.

Nie, bis ans Ende meines Lebens nicht, werde ich diesen Abend in der Kneipe vergessen, diesen langen Abend, der kein Ende nehmen wollte. Ich sehe die Szene noch ganz deutlich vor mir und ich weiß genau, daß ich dieses Bild mit ins Grab nehmen werde: Das lange, niedrige Zimmer mit der schwarzverrußten Decke, das grelle, gelbe Gaslicht, der Tabaksqualm, die überfüllten Tische, Otto, der mit mürrischer Miene hin und her schlurfte, Hedwig, die sich mit verweinten Augen an ihrem Pult zu schaffen machte und Haase, der hinter den Bierhähnen stand, still, trotzig und gefaßt, aber auf der Hut, so oft die Tür aufging.

Als der Schlag endlich fiel, kam er unerwartet. Füßegetrappel auf der Treppe, schrilles Gepfeife ..., dann wurde die Tür aufgerissen. Alle Gäste sprangen auf, die Männer fluchten und schrien, die Frauen kreischten. Majestätisch und erhaben stand Dr. Grundt auf der Schwelle. Er trug ein kleines Mützchen, wie es die Studenten nach einer Mensur tragen, über einem schwarzseidenen Taschentuch, das um seinen Kopf gewunden war. Beim Anblick des Mannes hörte der Lärm augenblicklich auf, alle schwiegen, bis auf Haase, der mit Donnerstimme, als explodierte eine Granate, Ruhe verlangte.

Ich stand in meinem Winkel an der Tür und hielt den Rücken fest gegen die Hüte und Mäntel gepreßt, die an der Wand hingen. Vor mir sah ich nichts als erschrockene Gesichter. Ich streifte rasch meine Schürze ab.

Als Dr. Grundt einen flüchtigen Blick ins Zimmer geworfen hatte, ging er auf die Theke zu, wo Haase stand. Eine Schar von Detektiven und Polizisten folgte ihm auf den Fersen. Dann ging ganz plötzlich das Licht aus und das Lokal war in Dunkel getaucht. Augenblicklich herrschte wüstes Durcheinander. Frauen schrieen. Eine Stimme, die ich als die des Klumpfußes erkannte, verlangte gebieterisch Licht ... Der Augenblick zu handeln war da.

Ich packte einen Hut und einen Mantel vom Ständer, zog beides eiligst an und tappte mich zur Tür. In dem trüben Licht, das von einer Straßenlaterne her auf die Stufen fiel, sah ich einen Mann an der Tür stehen. Offenbar bewachte er sie.

»Zurück!«, schrie er, als ich die Treppe hinauflief.

Ich funkelte ihm mit der kupfernen Münze, die ich in der Hand hielt, vor den Augen herum.

»Der Chef wünscht Licht!«, sagte ich ihm leise ins Ohr.

Er packte meine Hand mit dem Abzeichen und senkte sie zum Schein der Laterne.

»Schön, Kamerad«, erwiderte er, »Drechsler hat wohl eine Lampe! Sie finden ihn draußen!«

Ich stürzte die Stufen hinauf und stieß auf eine Gruppe von drei Polizisten.

»Der Doktor wünscht, daß Drechsler sofort mit der Lampe kommt«, schrie ich und zeigte die kupferne Legitimation. Die drei stoben in verschiedenen Richtungen auseinander, um Drechsler zu rufen.

Ich rannte schleunigst davon.


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