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16. Kapitel.
Ein Händedruck am Rhein

Am Nachmittag gingen Francis und ich am Ufer des rasch dahinströmenden Rheins entlang, bis die Stadt weit hinter uns lag. So neugierig ich war, daß er mir von dem Teil seines Lebens erzählen sollte, der hinter jenen Leidenszügen in seinem Gesicht verborgen lag, er wollte, daß ich zuerst berichtete. So zählte ich denn die ungewöhnliche Reihe von Abenteuern auf, die mir begegnet waren, seit ich in jenem üblen Hotel in Rotterdam einem großen Geheimnis auf die Spur gekommen war.

Francis unterbrach den Fluß meiner Erzählung nicht. Er lauschte gespannt, aber mit wachsender Besorgnis, die sich deutlich auf seinem Gesicht abzeichnete. Als ich zu Ende gekommen war, reichte ich ihm schweigend die Hälfte des Briefs, die ich dem Dr. Grundt im Hotel Esplanade entwendet hatte.

»Behalte das, Francis«, sagte ich. »Bei einem ehrsamen Kellner wie du ist es besser aufgehoben, als bei einem Verfolgten und Ausgestoßenen wie ich!«

Mein Bruder lächelte matt, aber in seinem Gesicht war wieder jener ernste, besorgte Ausdruck, mit dem er meiner Erzählung gefolgt war. Er unterzog die Papierstreifen einer sorgfältigen Prüfung, steckte sie dann in eine Brieftasche und knöpfte die in seiner hinteren Hosentasche ein.

»Fortuna ist eine seltsame Göttin, Des«, sagte er, und seine Augen schweiften über den gelben, rauschenden Strom hin. »Und sie hat es sehr gut mit dir gemeint, obgleich du dich weiß Gott in dieser ganzen Sache benommen hast wie ein Held. Sie hat dir etwas in die Hände gespielt, um dessentwillen fünf Menschen vergeblich gestorben sind. Etwas, das meine Gedanken seit über einem halben Jahr Tag und Nacht erfüllt hat. Was du mir da gesagt hast, wirft ziemlich viel Licht auf das Geheimnis, das ich hier in diesem verdammten Lande aufklären wollte, aber es verstärkt auch noch das Dunkel, das manchen Punkt dieser Geschichte umgibt.

Du weißt, daß es bei dieser Arbeit hier um Dinge geht, Des, die noch höher stehen, als die Kameradschaft, die immer zwischen uns beiden geherrscht hat. Das ist der Grund, warum ich dir so selten aus Frankreich schrieb. Ich konnte dir nichts von meiner Arbeit erzählen. Aber jetzt da du von dir aus in dieses ganze Gewirr hineingekommen bist, betrachte ich dich als Verbündeten und will dir alles sagen, was ich weiß.

Also hör zu: Anfang des Jahres wurde ein von einem in England internierten Deutschen geschriebener Brief von der Zensur angehalten. Dieser Deutsche nannte sich Schulte. Er war einen Tag nach unserer Kriegserklärung in einem Haus in Galvestone verhaftet worden. Wir hatten guten Grund dazu, denn unser Freund Schulte, seinen wahren Namen kennen wir nicht, war meinem Chef als einer der kühnsten und erfolgreichsten Spione bekannt, der jemals im britischen Reich sein Wesen trieb. Daher wurde seine Korrespondenz scharf überwacht, und eines schönen Tages stieß man auf diesen Brief. Er machte, soviel ich weiß, einen vollkommen harmlosen Eindruck, aber der Sachverständige, dem er vorgelegt wurde, entdeckte in dem Geplauder über das tägliche Leben im Internierungslager einen verabredeten Code. Es erwies sich, daß Schulte darin einem Dritten von einem gewissen Brief Mitteilung machte, an dem jener Dritte offenbar ein beträchtliches Interesse besaß. Schulte machte nämlich das Angebot, diesem Dritten den Brief für eine so lächerlich hohe Summe zu verkaufen, daß er damit die Aufmerksamkeit unserer Spionagezentrale auf sich zog. Würde die Hälfte der Summe auf das Konto des Briefschreibers bei einer gewissen Londoner Bank eingezahlt werden, hieß es in dem Brief weiter, so würde der Schreiber die Stelle nennen, wo der fragliche Gegenstand zu finden wäre.

Es war nicht weiter schwierig, Schulte eine Antwort zukommen zu lassen, in der man auf seine Bedingungen einging und die Zahlung wunschgemäß an die betreffende Bank überwies. Seine Entgegnung auf diese Mitteilung wurde natürlich aufgefangen. Die Adresse, die er mitteilte, war die eines Hauses in Cleve.

Wir hatten keine Ahnung, um was für einen Brief es sich handelte, aber da er für den gerissenen Herrn Schulte offenbar einen hohen Wert darstellte, schien es uns wünschenswert, uns unverzüglich in den Besitz dieses Schreibens zu setzen. Vier unserer Leute wurden mit der gefährlichen Aufgabe betraut, nach Deutschland zu dringen und ihn auf Tod und Leben aus dem Haus in Cleve zu holen. Wir vier sollten auf verschiedenen Wegen nach Deutschland reisen und uns in Cleve, das ganz nah an der holländischen Grenze liegt, treffen.

Es würde zu weit führen, dir im einzelnen auseinanderzusetzen, was wir alles ausheckten, um zum Ziele zu gelangen, und was für verschiedene Pläne wir schmiedeten, um miteinander in Fühlung zu bleiben, obwohl jeder von uns für sich arbeitete. Auch wie ich nach Deutschland kam, ist eigentlich belanglos. Tatsache ist jedenfalls, daß ich bei meinem ersten Versuch, die Grenze zu überschreiten, die Ausstrahlung einer ungeheuer mächtigen Instanz spürte, die gegen mich arbeitete.

Nachdem ich ihr ein halbes dutzendmal mit knapper Mühe entkommen war, gelang es mir schließlich doch, und ich vertraute jetzt einzig und allein auf meine Kenntnis des Deutschen und auf meine Fähigkeit, die Deutschen zu kopieren. Überall aber spürte ich den Einfluß dieser unsichtbaren Macht, die überall wachte und der man allem Anschein nach unmöglich entgehen konnte. Ich war daher nicht überrascht, als ich erfuhr, daß zwei meiner Kameraden gleich beim ersten Versuch Fiasko erlitten hatten.«

Mein Bruder senkte die Stimme und blickte sich um.

»Weißt du, was mit diesen zwei tapferen Jungens geschehen ist«, fragte er, »Jack Tracy wurde tot auf den Eisenbahnschienen gefunden. Herbert Arbuthnot war irgendwo in einem Wald aufgehängt worden. ›Selbstmord eines Unbekannten‹ nannten es die deutschen Zeitungen in beiden Fällen. Ich aber wußte Bescheid. Man hatte ihnen aufgelauert und sie kaltblütig niedergemacht.«

»Und der dritte, von dem du gesprochen hast?«, fragte ich.

»Philip Brewster? Der ist verschwunden, Des, vollkommen verschwunden. Ich fürchte, auch um den ist's geschehen, – armer Junge! Von uns vieren war ich der einzige, der zum Ziel gelangte. Dort aber wartete meiner eine große Enttäuschung: Der Brief befand sich nicht in dem angegebenen Versteck. Ich glaube, er war überhaupt niemals da, sonst hätten ihn die Hunnen längst in die Hände bekommen. Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, daß sie nicht genau wußten, wo sich der Brief befand, daß sie uns aber verdächtigten, in seinen Besitz gelangen zu wollen und daß sie uns daher sowohl an der Grenze, wie auch im Lande selber unaufhörlich bewachten.

»In Cleve wäre ich beinahe erwischt worden: Ich bin geradezu durch ein Wunder entkommen. Mein Glück war, daß ich mich nie als etwas anderes ausgegeben hatte, denn als Deutscher. Auch hatte ich fast täglich einen anderen Typus dargestellt. Auf diese Weise hinterließ ich keinerlei Spuren, sonst hätten sie mich längst gefaßt gehabt!«

Die Stimme meines Bruders wurde noch trauriger und die Schatten in seinem Gesicht tiefer.

»Dann versuchte ich, wieder hinauszukommen«, fuhr er fort. »Aber das war von Anfang an ein hoffnungsloses Unterfangen. Man wußte genau, daß einer von uns noch im Netze saß und man versperrte sämtliche Ausgänge. Ich machte zweimal den Versuch, nach Holland zurückzugelangen, aber beide Versuche mißlangen. Das zweitemal mußte ich buchstäblich flüchten, um mein Leben zu retten. Da fuhr ich nach Berlin, weil ich meinte, eine große Stadt, die möglichst weit von der Grenze läge, sei das einzig sichere Versteck für mich. Ich war entsetzlich schlecht dran, denn ich hatte all meine Papiere fortwerfen müssen. Als ich in Berlin ankam, war ich mir klar darüber, daß ich kein Dach über den Kopf bekommen würde, ehe ich mir nicht neue Papiere beschaffte.

»Ich hatte bereits von Kore und seinen Gaunergeschäften gehört und ging schnurstracks zu ihm. Er schickte mich zu Haase ..., das war gegen Ende Juni. Und von Haase aus schickte ich van Urutius die Botschaft, die dir in die Hände fiel. Das kam nämlich so. Ich war mit einem von Haases Stammgästen recht gut befreundet, mit einem Mann, der Packer bei den Steglitzer Metallwerken war. Der erzählte uns eines Tages, wie knapp sie an Personal wären und wieviel Geld Packer verdienten. Ich hatte das Leben in dem Stinkkeller da unten satt und erbot mich daher, zuerst eigentlich nur im Scherz, auch eine Stellung als Packer anzunehmen. Ich hoffte, auf diese Weise eher eine Möglichkeit zur Flucht zu bekommen, da ich von Haase aus auch nicht die allergeringste sah. Zu meiner Überraschung war Haase, der mit an unserem Tisch saß, durchaus einverstanden mit dem Plan und sagte, ich könne gehen, wenn ich die Hälfte meines Packerlohnes an ihn abführte. Bei ihm in der Kneipe bekam ich nichts.

»So wurde ich also in Steglitz angestellt, blieb aber bei Haase wohnen und half abends immer noch beim Bedienen. Eines Tages mußte ich ein Paket für den alten van Urutius zurechtmachen und da fiel mir plötzlich ein, daß sich dabei doch eine Chance bot, eine Nachricht in die Welt hinauszusenden. Ich hoffte, dem alten Urutius würde das ›Eichenholz‹ auffallen, er würde dir die Botschaft weitergeben und du würdest sie meinem Chef in London schicken.«

»Dann hast du also erwartet, daß ich kommen und dich suchen würde?« fragte ich.

»Nein«, erwiderte Francis prompt, »aber wir hatten folgendes verabredet: Wenn keiner von uns vieren bis zum 15. Mai im Zentralbüro in London aufgetaucht war, sollte ein Fünfter geschickt werden und uns am 15. Juni in der Nähe der Grenze treffen. Ich ging am 15. Juni an den verabredeten Ort, aber es war niemand zu finden und obwohl ich ein paar Tage wartete, sah ich kein Zeichen von ihm. Ich machte noch einen letzten Versuch hinauszukommen, der aber ebenfalls mißlang, und so sah ich denn, als ich nach Berlin floh, jede Möglichkeit, mit der Heimat wieder in Verbindung zu treten, für mich versperrt. Dieser chiffrierte Brief, den ich in das Paket des alten Urutius hineinschmuggelte, war meine letzte Hoffnung.«

»Aber weshalb denn nur ›Achilles‹ mit einem L?« fragte ich.

»Im Zentralbüro war der Name Kore bekannt, aber ich wagte nicht, ihn zu erwähnen, aus Furcht, das Paket könnte geöffnet werden. Daher schrieb ich ›Achilles‹ absichtlich mit einem L, um die Aufmerksamkeit auf dieses Wort zu lenken, damit sie erführen, wo sie Nachrichten über mich bekommen könnten. Es war verdammt gescheit von dir, das zu entziffern, Des!«

Francis lächelte mich an.

»Ich hatte vor, ein, zwei Monate ruhig in Berlin zu bleiben, teils bei Haase, teils in der Fabrik zu arbeiten und abzuwarten, ob ich Antwort auf meine Botschaft bekäme. Aber Kore ließ mir keine Ruhe. Anfang Juli kam er zu mir und deutete an, daß die Erneuerung meiner Aufenthaltsbewilligung Geld kosten würde. Ich zahlte, aber jetzt war mir klar, daß er mich vollkommen in der Gewalt hatte, und ich hatte keine Lust, mich erpressen zu lassen. Daher nutzte ich seine Geldgier aus, hinterließ eine Botschaft für den, der sich, wie ich hoffte, nach mir erkundigen würde, schrieb die paar Zeilen da unter das Boonekampplakat, wo wir schliefen, und nahm hier im Café Regina eine Stellung an, von der ich gehört hatte. So, Des, mein Junge, jetzt weißt du alles, was ich weiß«, sagte mein Bruder.

»Und Dr. Grundt?«

»Ach«, sagte Francis kopfschüttelnd, »da glaube ich die Hand zu erkennen, die von Anfang an gegen uns war, obgleich ich von dem Mann und seiner Machtstellung selber ebensowenig weiß wie du. Wir wissen ja aus den amtlichen Nachrichten der Deutschen, daß sie schlau genug sind, die Wahrheit zu sagen, wenn es ihnen in den Kram paßt. Als der Klumpfuß dir damals im Esplanade von seiner Mission erzählte, hat er sicher nicht gelogen. Wir wissen jetzt beide, daß der Kaiser diesen Brief geschrieben hat ..., wir wissen auch, daß er an einen einflußreichen englischen Freund Wilhelms II. gerichtet war. Du hast das Datum ja gesehen ... Berlin, 31. Juli 1914 ... der Tag vor Ausbruch des Weltkriegs. Schon aus der Hälfte, die hier in meiner Tasche ist ... und du, der du beide Hälften des Briefes gesehen hast, wirst bestätigen, was ich sage, läßt sich ermessen, was für einen Einfluß dieser Brief auf die internationale Lage ausgeübt hätte, wenn er in die Hände des Empfängers gelangt wäre. Das aber tat er nicht. Warum, ist uns nicht bekannt. Wir wissen jedoch, daß der Kaiser den Brief unbedingt zurück haben möchte ..., du selbst hast ja erlebt, wie er darauf erpicht ist, und du weißt auch, daß er seinen Dr. Grundt damit beauftragt hat.«

»Ja«, bemerkte ich nachdenklich, »wer Dr. Grundt auch sein mag, er hat doch anscheinend alle Hebel in Bewegung gesetzt, um meine Tätigkeit im Dunkeln zu belassen ...«

»Stimmt«, sagte Francis, »und das war dein Glück, sonst hätte der Klumpfuß gewiß schon dafür gesorgt, daß man dich an der Grenze verhaftet. Offenbar aber ist er hauptsächlich instruiert worden, ja nichts von der ganzen Geschichte verlauten zu lassen und darum war er eher bereit, alles aufs Spiel zu setzen, als die Polizei zu Hilfe zu rufen.«

»Aber solche Sachen lassen sich doch immer vertuschen«, warf ich ein.

»Für das Publikum ja, aber der Hof erfährt immer etwas. Dieser Brief ist doch offenbar in einer von Wilhelms impulsiven Launen geschrieben worden ..., und so etwas würde in Kriegszeiten in Deutschland sehr schlechten Eindruck machen.«

»Aber wer mag denn nur der Dr. Grundt sein?«, fragte ich.

Mein Bruder runzelte die Stirn.

»Ich weiß nicht, Des«, sagte er. »Er ist bestimmt keiner vom offiziellen deutschen Spionagedienst wie Steinhauer und die anderen. Aber ich habe doch zweimal von einem klumpfüßigen Deutschen gehört ... Beides waren dunkle, mysteriöse Geschichten, in beiden spielte er die Hauptrolle, und beide endeten mit dem gewaltsamen Tode eines unserer Leute.«

»Dann sind also Tracy und die anderen ...?« fragte ich.

»Opfer dieses Mannes, Des, das steht fest«, entgegnete mein Bruder. Er hielt einen Augenblick nachdenklich inne.

»Es gibt in unserem Dienst einen Ehrenkodex, mein Junge«, sagte er, »und im deutschen Geheimdienst sind viele, die auch danach handeln. Wir versetzen uns manchen schweren Stoß und stecken auch manchen ein. Aber Hinterhalt und Mord sind verpönt.«

Er holte tief Atem und fügte hinzu: »Dieser Klumpfuß hält die Spielregeln nicht ein!«

»Ich wünschte, ich hätte etwas von all dem gewußt, als er mir damals im Esplanade auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war, Francis«, sagte ich. »Dann wäre er bestimmt nicht mit einem einzigen Schlag und mit einem Loch im Schädel davongekommen. Ich hätte ihm noch einen für Tracy, einen für Arbuthnot und einen für den anderen da versetzt ..., bis die Abrechnung gestimmt hätte. Bestimmt! Und bis ich ihm das Gehirn aus dem Schädel herausgeschlagen hätte. Aber wenn wir ihm noch einmal begegnen, Francis ..., was, so Gott will, der Fall sein möge, soll für ihn kein Ehrenkodex gelten, wir werden ihn kaltblütig abmurksen, wie eine Ratte!«

Mein Bruder streckte mir seine Hand entgegen, und ich schlug ein.

Der Abend fiel, und drüben am anderen Ufer des Rheins fingen die Lichter zu blinken an.

Wir standen einen Augenblick schweigend da, während der Strom zu unseren Füßen dahinrauschte. Dann machten wir kehrt und gingen in der Richtung zur Stadt zurück. Francis hakte mich unter.

»Und jetzt, Des«, sagte er, in seiner alten, zärtlichen Art, »erzähl mir noch was von Monika!«

Dieses Gespräch legte in meinem Kopf den Keim zu einem Plan, der uns die einzige Fluchtmöglichkeit zu bieten schien. Ich glaubte Francis gern, als er erklärte, es sei im Augenblick ausgeschlossen, über die Grenze zu kommen. Waren schon vorher die Wachen verdoppelt, so würden sie jetzt, wo ich dem Dr. Grundt entschlüpft war, noch einmal verstärkt werden. Wir mußten daher unbedingt irgendwo unterkriechen, wo wir unbemerkt bleiben konnten, bis die Aufregung sich etwas gelegt hätte.

Monika hatte mir doch bei unserem letzten Zusammensein erzählt, daß sie bald nach dem Schloß Bellevue, einem Jagdschloß ihres Mannes reisen wollte, um dort Jagden zu veranstalten, damit wieder Wild auf den Markt käme. Monika hatte mir angeboten, mich dorthin mitzunehmen, und ich hätte mich auch sicher überreden lassen, hätte Gerry uns nicht mit seiner Nörgelei wegen meines Passes einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Jetzt schlug ich Francis vor, daß wir Monikas Einladung annehmen und uns nach Schloß Bellevue begeben sollten. Da das Schloß sich in der Nähe von Cleve befindet, lag es für uns sehr günstig. Unmittelbar daneben dehnt sich der Reichswald, jene große Waldung, die sich von Deutschland über die holländische Grenze hin erstreckt. Die ganze Zeit meines Aufenthalts in Deutschland über hatte ich diesen Wald im Sinn, weil er doch Möglichkeiten bieten mußte, unbemerkt über die Grenze zu schlüpfen. Jetzt erfuhr ich von Francis, daß er sich monatelang in der Nähe von Cleve aufgehalten hatte, und ich war nicht weiter überrascht darüber, daß er sich im Reichswald ziemlich gut auskannte.

»Allzu leicht wird es nicht sein, durch den Wald hinüberzukommen«, sagte er zweifelnd, »es sind viele Patrouillen da, aber ich kenne eine Stelle, wo wir ein, zwei Tage lang ganz hübsch unterkommen könnten, ehe wir den Sprung riskieren. Aber augenblicklich ist an ein Durchkommen nicht zu denken. Dafür wird Dr. Grundt schon sorgen. Übrigens ist mir der Gedanke, ins Schloß Bellevue zu gehen, auch nicht gerade sehr willkommen. Das wird doch für Monika mächtig gefährlich sein!«

»Ich glaube kaum«, sagte ich. »Das Schloß wird doch voll von Menschen sein; Gäste, Diener, Treiber und so weiter. Wir können beide Deutsch und sehen auch derb genug aus: Es sollte uns doch glücken, irgendeine Stellung in der Nähe des Schlosses zu bekommen, ohne Monika auch nur im geringsten zu belästigen. Ich glaube kaum, daß man auf den Gedanken kommen wird, uns so dicht an der Grenze zu suchen. Die einzige Spur, die man von mir finden wird, führt nach München. Der Klumpfuß nimmt bestimmt an, daß ich in die Schweiz entkommen bin.«

Nun, nach einigem Hin und Her, nahm Francis meinen Vorschlag an, und wir beschlossen, uns noch in derselben Nacht nach Schloß Bellevue aufzumachen. Mein Bruder erklärte, nicht mehr ins Café zurückgehen zu wollen. Bei der jetzigen Männerknappheit war so ein plötzliches Wegbleiben nichts Ungewöhnliches, und wenn er offiziell kündigte, würde das nur Veranlassung zu peinlichen Erörterungen geben.

Wir stapften also durch die Dämmerung in die Stadt zurück, kauften uns eine Karte vom Rhein und ein paar Rucksäcke und packten die mit ein paar Lebensmitteln voll, die wir in einem großen Warenhaus erstanden hatten, Keks, Schokolade, harte Wurst und zwei Fläschchen Rum. Dann führte mich Francis in ein kleines Restaurant, wo er bekannt war und stellte mich dem dortigen freundlichen Besitzer vor, einem famosen alten Rheinländer, der genau wie sein Bruder eben aus dem Lazarett entlassen war. Ich erzählte ausführlich von den schrecklichen Kämpfen mit der britischen Armee an der Somme und glaube, meinem Vaterland einen guten Dienst damit erwiesen zu haben.

Während des Essens studierten wir die Landkarte.

»Nach dieser Karte müßte Bellevue etwa fünfzig Meilen von hier entfernt liegen«, sagte ich. »Meiner Meinung nach sollten wir nur des Nachts wandern und uns tagsüber ausruhen, da ein Gasthaus doch für mich nicht in Frage kommt, wo ich keine Papiere habe. Und wir sollten uns möglichst fern vom Rhein halten, meinst du nicht auch, sonst müssen wir nämlich durch Wesel, und das ist Festung und infolgedessen für uns alle beide sehr wenig empfehlenswert.«

Francis nickte mit vollem Munde.

»Jetzt können wir mit zehn Nachtstunden rechnen«, fuhr ich fort. »Wenn wir also den kleinen Umweg, der nötig sein wird, Ruhestunden und Verirren mitrechnen, müssen wir meiner Meinung nach nach drei Nächten in Schloß Bellevue sein. Wenn das Wetter so bleibt, wird es ja nicht so schlimm sein, wenn es aber regnet, wird's fürchterlich!«

Mein Bruder war in jedem Punkt meiner Ansicht. Der arme Kerl hatte eine böse Zeit hinter sich. Er war offenbar froh, daß ihm die Verantwortung ein Weilchen abgenommen wurde.

Um halb acht Uhr abends standen wir mit unseren Rucksäcken beladen am Rande der Stadt, da wo die Straße nach Krefeld abzweigt. In der Tasche des Mantels, den ich bei Haase stibitzt hatte, fand ich einen geladenen Revolver, denn die meisten Gäste der Kneipe waren immer bewaffnet.

»Du hast das Dokument, Francis«, sagte ich, »darum nimm auch lieber das hier!« Ich reichte ihm die Pistole.

Francis winkte ab.

»Behalt du sie nur«, sagte er grimmig, »vielleicht kann sie dir an Stelle eines Passes dienen.«

Ich steckte also die Waffe wieder in die Tasche zurück.

Ein kalter Regentropfen fiel auf meine Stirn.

»Verdammt nochmal«, rief ich aus, »es fängt an zu regnen!«

Die Wanderung war wie ein böser Traum. Es regnete unaufhörlich. Tagsüber lagen wir bis aufs Mark fröstelnd in unseren nassen Sachen in irgendeinem feuchten Gebüsch oder in einer nassen Grube. Die Knochen taten uns weh, unsere Füße waren geschwollen, wir hatten Angst vor Entdeckung, aber noch größere Angst vor dem Hereinbrechen der Nacht und der Wiederaufnahme des Marsches. Dennoch führten wir unser Programm durch wie Spartaner, und am dritten Abend gegen acht Uhr, als wir uns mühsam die Straße entlang schleppten, die von Cleve nach Calcar führt, wurden wir durch den Anblick eines langen, massiven Gebäudes mit Türmchen an den Ecken belohnt, das hinter einer hohen Ziegelmauer an der Chaussee lag.

»Bellevue!«, sagte ich zu Francis und zeigte mit dem Finger auf das Haus.

Wir verließen die Chaussee, kletterten über einen Holzzaun und stapften durch die Felder, weil wir die Absicht hatten, den Park von hinten zu betreten. Wir kamen an ein paar schwarzen, stillen Wirtschaftsgebäuden vorbei, schlichen durch ein Tor und gelangten endlich in eine Koppel, an deren anderem Ende die Schloßmauer entlang lief. Irgendwo hinter der Mauer brannte ein Feuer. Wir konnten das flackernde Licht der Flammen und aufsteigenden Rauch sehen. Im selben Augenblick vernahmen wir Stimmen, laute Stimmen, die sich auf deutsch stritten.

Wir schlichen über die Koppel hin zur Mauer. Ich ließ Francis auf meinen Rücken steigen, und er zog sich an der Mauer hoch und blickte hinüber. Im nächsten Augenblick sprang er leichtfüßig wieder ab und legte einen Finger an den Mund.

»Soldaten um ein Lagerfeuer«, flüsterte er, »es müssen hier Truppen in Quartier liegen. Komm, wir gehn weiter herum!«

Ganz leise rannten wir an der Mauer entlang und folgten dann deren Biegung nach rechts. Hier stießen wir auf eine kleine Eisentür in der Mauer; sie stand offen.

Wir lauschten. Der Klang der Stimmen war hier schwächer hörbar. Am Himmel sahen wir immer noch den Widerschein der Flammen. Sonst nirgends ein Zeichen von menschlicher Nähe.

Das Tor führte in einen Ziergarten, in dessen hinterem Teil das Schloß lag. Die Fenster waren alle dunkel. Wir betraten einen Gartenpfad, der zum Haus führte. Auf einmal standen wir vor einer Glastür. Ich drückte auf die Klinke, sie gab nach.

»Bleib, wo du bist!«, flüsterte ich Francis zu. »Und wenn du mich schreien hörst, dann fliehe, fliehe, soweit dich deine Beine tragen!«

Es konnte ja sein, daß das Haus voll von Soldaten war, überlegte ich. Bestand Gefahr, so sollte sie lieber mich treffen als Francis, der ja mit seinen Papieren eher als ich die Möglichkeit hatte, das Dokument in Sicherheit zu bringen.

Ich öffnete die Glastür und befand mich in einer Art Vorhalle mit einer Tür zur Rechten.

Ich lauschte wieder. Alles war still. Vorsichtig öffnete ich die Tür und blickte hindurch. In dem Augenblick flammte plötzlich das elektrische Licht auf, und eine Stimme – eine Stimme, die ich oft in meinen Träumen gehört hatte – rief gebieterisch aus: »Stillgestanden und Hände hoch!«

Vor mir stand Dr. Grundt, eine auf mich gerichtete Pistole in seiner großen Hand.

»Grundt!«, schrie ich. Rührte mich aber nicht.


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