Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15. Kapitel.
Café Regina in Düsseldorf

Ich hatte mir ausgerechnet, daß ich mindestens zwei und höchstens drei Stunden zur Verfügung hätte, um aus Berlin zu verschwinden. So schnell Dr. Grundt auch handelte, er brauchte bestimmt anderthalb Stunden, um meine Flucht aus Haases Lokal zu entdecken und die Polizei an den Bahnhöfen zu benachrichtigen, daß sie mich anhalten sollte. Wenn ich ihn auf eine falsche Fährte bringen konnte, so bestand die Möglichkeit, diese Gnadenfrist noch etwas zu verlängern. Bestenfalls konnte ich ihn in bezug auf mein Ziel, das natürlich Düsseldorf war, vollständig in die Irre führen. Die unbekannte Größe in meinen Berechnungen war die Zeit, die Dr. Grundt brauchen würde, Steckbriefe durch ganz Deutschland zu schicken, damit Julius Zimmermann, Kellner und Deserteur, verhaftet würde, wo und wann man ihn träfe.

Als ich nach meiner Flucht von Haase zum erstenmal um die Ecke bog, kam ich in eine große Verkehrsstraße mit vielen Elektrischen. Eine Bahn, die nach Süden, ins Zentrum fuhr, wartete gerade an einer Haltestelle. Ich sprang auf die Plattform neben die Führerin. Da vorn ist es ziemlich dunkel, und die Schaffnerin kann das Gesicht der Fahrgäste nicht sehen, da man das Fahrgeld durch eine kleine Öffnung in der Tür zum Innern des Wagens bezahlt. Unter den Linden stieg ich aus und lief durch ein paar Seitenstraßen bis zu einem Café, das einen ruhigen Eindruck machte. Dort ließ ich mir ein Kursbuch geben und schmiedete meine weiteren Pläne.

Es war zehn Minuten vor Mitternacht. Ein Mann in meiner Lage würde höchstwahrscheinlich versuchen zur Grenze zu gelangen, so mußte Dr. Grundt meiner Meinung nach spekulieren, obgleich er sich ja eigentlich längst gewundert haben müßte, daß ich bisher noch nicht versucht hatte, nach England zu entkommen. Düsseldorf lag auf der Hauptstrecke nach Holland, daher war es sicher ratsamer, irgendwohin an den Rhein zu fahren und mit einem Rheindampfer nach meinem Bestimmungsort zu reisen. Aber die Zeit war der Hauptfaktor in meinem Fall. Wenn ich sofort, noch in dieser Nacht, nach Düsseldorf fuhr, könnte ich vielleicht dort eintreffen, ehe die Behörden angehalten worden waren, sich nach einem Mann umzutun, der meinem Signalement entsprach. Gelang es mir, in Berlin eine falsche Fährte zu hinterlassen, so würde das den Dr. Grundt vielleicht veranlassen, sie aufzunehmen, bevor er allgemeine Vorkehrungen traf, die zu meiner Verhaftung führten. Ich beschloß, alles auf diese Karte zu setzen.

Aus dem Kursbuch ersah ich, daß ein Zug nach Düsseldorf um dreiviertel Eins vom Potsdamer Bahnhof abging. Ich hatte also knappe dreiviertel Stunden Zeit, um eine falsche Fährte zu streuen und meinen Zug zu erreichen. Die falsche Fährte sollte den Klumpfuß in eine vollständig unerwartete Richtung führen; denn das Unerwartete fällt dem wachsamen Detektivgeist am ehesten auf. Ich würde mir auch einen anderen Bahnhof aussuchen müssen.

Weshalb nicht München? Eine große Stadt auf dem Weg zur Schweizer Grenze, deren nachsichtige Behörden in Deutschland sprichwörtlich sind. Nach München fährt man von Berlin vom Anhalter Bahnhof aus, der meinen Zwecken durchaus entsprach, da er nur ein paar Minuten weit vom Potsdamer Bahnhof entfernt liegt.

Ich ersah aus dem Kursbuch, daß zwölf Uhr dreißig ein Expreßzug nach München fuhr. Das paßte ausgezeichnet! Also sollte es München sein.

Zum Glück hatte ich reichlich Geld. Zur Vorsicht hatte ich mir meine Banknoten von Kore wechseln lassen ..., allerdings zu einem lächerlichen Kurs. Ohne Semlins Geld wäre ich einfach aufgeschmissen gewesen!

Ich bezahlte meinen Kaffee und machte mich wieder auf den Weg. Es war kurz nach Mitternacht, als ich die Halle des Anhalter Bahnhofs betrat.

Die Finte, die mir mein freundlicher Führer in Rotterdam beigebracht hatte, fiel mir ein und das erste was ich tat, war, mir eine Bahnsteigkarte zu erstehen. Dann sah ich mich nach einem Beamten um, der geeignet wäre, sich mein Aussehen einzuprägen. Bald erspähte ich einen rundlichen Burschen in blauer Uniform und roter Mütze, einen Stationsvorsteher, wie mir schien.

Ich ging auf ihn zu, lüftete meinen Hut und fragte ihn höflich, ob er mir sagen könne, wann ein Zug nach München führe.

»Der Expreß geht um zwölf Uhr dreißig«, sagte er, »aber der hat nur erste und zweite Klasse und da müssen Sie Zuschlag bezahlen. Der Personenzug fährt erst fünf Uhr neunundvierzig.«

Ich setzte eine beunruhigte Miene auf. »Ich werde wohl lieber den Expreß nehmen«, sagte ich. »Wo geht's denn bitte zum Fahrkartenschalter?«

Der Beamte zeigte mir ein Fensterchen, und mit lauter Stimme, damit er es ja hören könnte, verlangte ich ein Billett zweiter Klasse nach München.

Dann ging ich nach oben und wies dem Fahrkartenkontrolleur an der Sperre mein Münchener Billett vor. Darauf eilte ich über die Bahnsteige zum letzten Bahnsteig, wo ich meine Bahnsteigkarte abgab und wieder auf die Straße gelangte.

Es schlug gerade halb, als ich den Bahnhof verließ. Ein Auto war nirgends zu sehen! Ich rannte, so schnell mich meine Beine tragen konnten, die Königgrätzer Straße entlang und kam atemlos und keuchend am Potsdamer Bahnhof an. Die Bahnhofsuhr zeigte 12 Uhr 39.

Eine Menge Menschen, hauptsächlich Soldaten, die nach Belgien oder an die Front zurückkehrten, standen vor dem Fahrkartenschalter Schlange. Die Soldaten bekamen ihre Reiseanweisungen in Billetts umgetauscht. Ich war verzweifelt über den langen Aufenthalt, aber gerade diesem Umstand hatte ich es zu verdanken, daß ich mein Billett nach Düsseldorf bekam, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Vor dem Schalter stand ein dicker, bärtiger Landsturmmann mit einem freundlichen Gesicht.

»Ich hab' es schrecklich eilig, mein Freund«, sagte ich, »sonst versäume ich meinen Zug. Würden Sie so gut sein, mir ein Billett dritter Klasse nach Düsseldorf zu lösen?« Ich reichte ihm einen Zwanzigmarkschein.

»Sehr gern«, erwiderte er bereitwillig.

»Da«, sagte er, gab mir ein Billett und eine Handvoll Kleingeld und fügte hinzu: »Wie gut Sie's haben, daß Sie nach dem Rhein fahren können. Ich bin selber vom Rhein und jetzt fahr ich nach Belgien zurück, um da Brücken zu bewachen!«

Ich dankte ihm und wünschte ihm Glück. Das war wenigstens ein Zeuge, der mir wohl keine Unannehmlichkeiten bereiten würde. Dankbaren Herzens sprang ich auf den Bahnsteig und bestieg den Zug.

In Deutschland dritter Klasse zu reisen, ist kein sonderliches Vergnügen, wenn man die Mittel hat, es sich bequemer zu machen. Der Deutsche hat die Angewohnheit, wenn er nachts reist, seine Schuhe auszuziehen. Ein Wagen voll Kleinbürger ist in dieser Aufmachung und bei der Temperatur, die gewöhnlich in deutschen Eisenbahncoupés herrscht, wahrhaftig keine sehr angenehme Umgebung ...

Die Luft war auch wirklich so unerträglich, daß ich den größten Teil der Nacht auf dem Korridor verbrachte. Hier konnte ich ungestört die Papiere des Kellners Julius Zimmermann vernichten. Ich wußte, daß ich in großer Gefahr schwebte, solange ich sie bei mir trug. Auch konnte ich mich vergewissern, daß mein kostbares Dokument noch immer an Ort und Stelle war, tief in meiner Brusttasche. Bei der Gelegenheit machte ich auch die im ersten Augenblick niederschmetternde Entdeckung, daß mein kupfernes Abzeichen verschwunden war. Ich konnte mich nicht besinnen, was ich in der ersten Aufregung meiner Flucht von Haases Lokal damit angefangen hatte. Als ich es oben an der Kellertreppe den Polizisten zeigte, hatte ich es noch in der Hand. Aber alles, was später geschehen war, war mir vollkommen entschwunden. Ich konnte mir nur denken, daß ich es unbemerkt hatte fallen lassen. Ich untersuchte die Stelle an meinen Hosenträgern, wo es immer gesessen hatte, aber es war nicht da und auch in sämtlichen Taschen kramte ich vergebens.

Ich hatte mich auf die Legitimation verlassen, um sie in irgendwelchen Notfällen in Düsseldorf vorzuzeigen. Jetzt war ich vollkommen wehrlos. Das war ein schwerer Schlag. Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß Dr. Grundt gewiß inzwischen wußte, daß ich dieses Abzeichen besaß und daß er es zweifellos in meine Personalbeschreibung eingefügt hatte.

Es war eine höchst unangenehme Reise. Im Zug fuhr eine Art Gesangverein, der sieben bis acht Coupés dritter Klasse in meinem Wagen besetzt hatte. In den ersten paar Stunden grölten sie mehrstimmige Lieder und verursachten in diesem beschränkten Raum einen heillosen Lärm. Dann wurde es allmählich still, denn ein Sänger nach dem anderen schlief ein. Nun raste der Zug durch die Dunkelheit und trug mich neuen Abenteuern, neuen Gefahren entgegen.

Ein frischer Luftzug, Getrampel von Füßen, laute Begrüßungen weckten mich mit einem Ruck auf. Es war heller Tag und die jovialen Mitglieder des Gesangvereins mit Koffern in der Hand und riesigen Vereinsabzeichen in den Knopflöchern liefen an dem Coupé vorbei, in das ich mich müde vom Stehen schließlich zurückgezogen hatte. Auf dem Bahnsteig stand eine Kapelle und ein mächtiger Männerchor stimmte in tiefem Baß eine Begrüßungshymne an. Auf den Bahnhofslaternen stand der Name »Düsseldorf«.

Die meisten Passagiere außer den Mitgliedern des Gesangvereins hatten offenbar den Zug verlassen, denn sämtliche Wagentüren standen offen. Ich sprang auf und mischte mich unter die Sängerschar. Auf diese Weise verließ ich unbemerkt den Zug. Ich blieb mit den Neuankömmlingen auf dem Bahnsteig stehen, bis die Hymne dort zu Ende war und rings von wackeren Düsseldorfern umgeben, entkam ich durch die Schranke auf die Straße. Hier warteten große Kremser, in welche die fröhlichen Chorsänger, Wirte und Gäste, lärmend einstiegen. Ich aber lief geradeaus in die Straße und begriff kaum, daß niemand mich angehalten hatte und daß ich endlich unbehindert vor meinem Ziel stand.

Düsseldorf ist eine helle, saubere Stadt mit geschmackvollen Gebäuden, die einen daran erinnern sollen, daß diese geschäftige Industriestadt neben dem Geldverdienen noch Zeit gefunden hat, eine eigene Kunstakademie ins Leben zu rufen. Der Morgen war köstlich. Die Sonne schien freundlich und ein kühles Lüftchen kündete die Nähe des rauschenden Stroms an, der die Stadtmauern umspült. Die kühle, klare Luft tat mir nach der drückenden Hitze im Zug und der stinkigen Atmosphäre in der Bierkneipe wunderbar wohl. Ich schwelgte im Bewußtsein meiner Freiheit und freute mich, den grimmigen Tatzen des Dr. Grundt wieder einmal entgangen zu sein. Vor allen Dingen aber klopfte mir das Herz in der Brust bei dem Gedanken, daß ich Francis bald wiedersehen würde. Meine augenblickliche Stimmung wollte von keiner Enttäuschung mehr wissen, Francis und ich würden endlich wieder zusammenkommen.

Ich gelangte auf einen großen Platz und stand einem großen, anscheinend neuen und blitzsauberen Café gegenüber mit einer großen, glasbedeckten Veranda. Es war zweifellos ein Lokal nach bestem Berliner Vorbild. Über der Eingangstür stand in mächtigen goldenen, drei Fuß hohen Buchstaben der Name: Café Regina.

Es war gegen neun Uhr morgens und das Lokal war so gut wie leer. Ich setzte mich an einen der vielen Tische und kam mir sehr klein vor, denn rechts und links dehnten sich die mit krassen impressionistischen Malereien gezierten Wände bis in die Ewigkeit.

Ich bestellte mir ein gutes, üppiges Frühstück und vertrieb mir, bis es serviert wurde, die Zeit mit der Lektüre der Morgenzeitungen.

Meine Augen liefen die Zeilen entlang, aber ich nahm nicht auf, was ich las, denn meine Gedanken waren mit Francis beschäftigt. Wann würde er wohl ins Café kommen? Wie lebte er wohl hier in Düsseldorf?

Plötzlich fiel mein Blick auf einen mir bekannten Namen. Es war in der Spalte der Nachrichten aus der Gesellschaft.

»Generalleutnant Graf v. Boden«, lautete die Notiz, »Adjutant Seiner Majestät des Kaisers ist seines schlechten Gesundheitszustands wegen in den Ruhestand versetzt worden. General v. Boden ist nach Abazzia gereist, wo er seinen ständigen Wohnsitz nehmen wird.« Dann folgten die üblichen biographischen Notizen. Wahrhaftig, der Klumpfuß besaß Macht in diesem Lande!

Ich frühstückte in der Nähe der offenen Tür und sah mir das geschäftige Leben auf dem Platz an, wo die Tauben in der Sonne herumstolzierten. Auf der Veranda stand ein Kellner und betrachtete lässig die Vögel. Die tiefe Melancholie in seinem Gesicht erschütterte mich. Seine Wangen waren eingefallen, und er hatte diesen gequälten Ausdruck in den Augen, der mir bei den meisten Gästen in Haases Lokal aufgefallen war. Ich schrieb das der ungenügenden Ernährung zu, die damals bei den unteren Klassen in Deutschland gang und gäbe war.

Aber dieser Mensch sah besonders mitgenommen aus. Seine Augen saßen tief in den Höhlen, tiefe Furchen liefen neben den Mundwinkeln herab, er machte im ganzen einen seltsam rührenden Eindruck. Seine unendlich traurige Miene zog mich gleichsam an und ich mußte immer wieder zu ihm hinblicken.

Da, auf einmal, durch irgendeine geheimnisvolle Stimme in meinem Blut kam mir die Wahrheit zum Bewußtsein: der Mann dort war mein Bruder. Ich weiß nicht, ob ein plötzlicher Ausdruck in seinem Gesicht oder die wechselnden Lichter und Schatten in seinen Augen den Schleier plötzlich lüfteten, ich weiß nur, daß ich in diesen von Sorge und Leid verwüsteten Zügen und trotz ihrer den Bruder erkannte, den ich gesucht hatte.

Ich klopfte mit dem Löffel an meine Tasse und rief leise zur Veranda hin. »Kellner!«

Der Mann drehte sich um.

Ich winkte ihm. Er kam an meinen Tisch. Er erkannte mich nicht. So stumpf hatte ihn das Leid gemacht. Mich, unrasiert und ungepflegt wie ich war, und noch dazu in meiner ordinären, deutschen Ausstattung. Er stand schweigend da und erwartete meine Befehle.

»Francis«, sagte ich leise ... und ich sprach deutsch. »Francis, kennst du mich denn nicht?«

Er blieb in seiner Freude über unser Wiedersehen ebenso beherrscht und gefaßt, wie in den Monaten seines endlosen Wartens.

Nur sein Mund bebte ein bißchen, als seine Hände sich geschäftig daran machten, mein Frühstück abzuräumen.

»Jawohl«, erwiderte er, in seiner Stimme war nichts von Erregung zu spüren.

Dann aber lächelte er und im Nu stand der alte Francis wieder vor mir. »Kein Wort jetzt«, sagte er auf deutsch, als er die Teller auf das Tablett gestellt hatte, »heut' nachmittag hab' ich frei. Sei um viertel drei am Schillerdenkmal auf der Flußpromenade, dann gehen wir zusammen spazieren. Geh jetzt lieber fort, aber komm zu Mittag zurück, mittags ist es hier immer überfüllt und ziemlich sicher!«


 << zurück weiter >>