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1. Kapitel.
Desmond Okewood erzählt

Ich suchte ein Bett in Rotterdam. Der Empfangschef des Hotels Bopparder Hof blickte von der Fremdenliste auf und schüttelte energisch den Kopf.

»Bedaure sehr, Mynheer«, sagte er, »es ist kein einziges Bett im ganzen Hause mehr frei.« Und damit klappte er das Buch zu.

Draußen goß es in Strömen. Jeder Einzelne, der die hell erleuchtete Hotelhalle betrat, brachte einen ganzen Regenschauer mit. Lieber sterben als wieder auf die stürmischen Straßen von Rotterdam hinaus, dachte ich.

Ich wandte mich noch einmal an den Empfangschef, der sich jetzt am Schlüsselbrett zu schaffen machte.

»Ist denn wirklich kein Winkelchen mehr frei? Mir ist jeder Raum recht, ich bleibe ja nur eine Nacht. Sehen Sie doch mal zu ...«

»Bedaure sehr, Mynheer, wir haben bereits zwei Badezimmer belegt. Wenn Sie vorbestellt hätten ...« Er zuckte die Achseln und neigte sich zu einem Gast, der seinen Schlüssel verlangte.

Ich drehte mich wütend um. Warum hatte ich Idiot auch nicht aus Groningen telegraphiert! Ich hatte es ernstlich vorgehabt, aber meine ungewöhnliche Unterhaltung mit Dicky Allerton hatte alles Andere aus meinem Gedächtnis verdrängt. In allen Hotels hatte ich schon nachgefragt, aber überall war es dieselbe Geschichte, bei Cooman, im Maas, im Grand-Hotel, alle waren sie überfüllt. Hätte ich doch nur depeschiert ...

Während ich niedergeschlagen wieder hinausging, fiel mir der Portier ein. Vor Jahren hatte mir in Breslau ein Hotelportier einmal aus einer ähnlichen Klemme geholfen. Dieser Portier hier mit dem roten, aufgeschwemmten Gesicht und den angelaufenen Goldtressen sah ja nicht gerade sehr vielversprechend aus, aber immerhin ...

Die Erinnerung an mein Breslauer Erlebnis war es wohl, die mich veranlaßte, den Mann deutsch anzusprechen. Wenn man von Kindheit an mit einer fremden Sprache vertraut ist, so genügt der allerkleinste Anstoß, um in diese Sprache zu verfallen. Aus so winzigen Anlässen entstehen oft die größten Verwicklungen. Hätte ich geahnt, welch ein weitverzweigtes Gerank von Abenteuern aus dieser einfachen Frage erwachsen sollte, so wäre mir sicherlich das Herz in die Hosen gefallen und ich wäre bestimmt in Nacht und Regen hinausgelaufen und bis zum frühen Morgen durch die Straßen gerannt.

Also, ich fragte den Mann auf deutsch, ob er nicht wüßte, wo ich ein Zimmer für die Nacht bekommen könnte.

Er warf mir aus seinen rotverquollenen Augen einen raschen Blick zu. »Der Herr wünscht wahrscheinlich ein deutsches Haus?« meinte er.

Man sollte es kaum glauben, aber meine Unterhaltung mit Dicky Allerton am Nachmittag hatte mich den Krieg vollkommen vergessen lassen. Wenn man viel unter Ausländern gelebt hat, gelingt es einem fast automatisch, in eine fremde Haut zu schlüpfen. Ich dachte jetzt bereits auf deutsch – wenigstens kommt es mir so vor, wenn ich an jene Nacht zurückdenke – und erwiderte ohne zu überlegen:

»Mir ist es ganz einerlei wo, wenn ich nur bei diesem Hundewetter irgendein Bett zum Schlafen habe!«

»Der Herr kann ein gutes, sauberes Bett im Hotel Sixt in der kleinen Straße Vos in't Tuintje am Kanal hinter der Börse bekommen. Das Haus gehört einer guten Deutschen, jawohl ... Frau Anna Schratt. Der Herr braucht bloß zu sagen, daß er vom Franz im Bopparder Hof kommt.«

Ich gab dem Mann einen Gulden und bat ihn, mir eine Droschke zu besorgen.

Es goß immer noch. Während wir über das naß glitzernde, holprige Pflaster dahinratterten, überdachte ich noch einmal die aufregenden Ereignisse dieses Nachmittags. Die Unterhaltung mit Dicky hatte mich derartig aufgewühlt, daß ich meine Gedanken unmöglich konzentrieren konnte. Das sind so die Folgen einer Verschüttung im Kriege. Man denkt, man ist geheilt, fühlt sich wohl und gesund, und plötzlich funktioniert der Gehirnmechanismus nicht und verweigert den Dienst. Seit ich nach meiner Verwundung an der Somme das Lazarett als Rekonvaleszent verlassen hatte, die Ärzte hatten es »Kopfschuß und Gehirnerschütterung« genannt, hatte ich es mir bei jeder Panne in meinem Gehirn zur Gewohnheit gemacht, jeweils bis an den Ausgangspunkt der Ereignisse zurückzugehen und mich allmählich, Schritt für Schritt vorwärts zu tasten.

Also wollen mal sehen ... Ich war in Millbank im Lazarett und bekam drei Monate Urlaub. Von da aus ging ich auf vier Wochen in die Littlejonessche Villa in Cornwall. Dort bekam ich einen Brief von Dicky Allerton, der vor dem Kriege Sozius meines Bruders Francis gewesen war. Sie hatten ein Autogeschäft in Coventry. Dicky war bei der Marinedivision in Antwerpen gewesen und mit allen Übrigen in jenen verhängnisvollen Oktobertagen 1914 beim Überschreiten der holländischen Grenze interniert worden.

Dicky hatte nur ein paar Zeilen aus Groningen geschrieben. Er fragte, ob ich jetzt, wo ich Urlaub hätte, nicht mal reisen und ihn in Groningen besuchen wollte. »Ich habe eine merkwürdige Nachricht erhalten, die anscheinend etwas mit dem armen Francis zu tun hat«, fügte er hinzu. Weiter nichts.

Mein Gehirn funktionierte noch immer nicht. Ich mußte also noch weiter zurückgehen. Francis, der überall seiner Krampfadern wegen, er nannte sie verächtlich die »Drückeberger-Krankheit«, für dienstuntauglich erklärt worden war, hatte sich glatt geweigert, das Autogeschäft weiterzuführen, als Dicky im Felde war. Dabei bekam seine Firma von der Regierung Aufträge. Er war schließlich im Kriegsministerium untergetaucht, und alles, was ich von ihm wußte, war, daß er »irgendwo beim Geheimdienst« arbeitete. Näheres erfuhr ich nicht einmal von ihm, und als er schließlich aus London verschwand (ich exerzierte damals gerade mit meinem Bataillon in Neuve Chapelle), gab er mir sein Londoner Büro als einzige Briefadresse an.

Ja! Jetzt fiel mir alles wieder ein ... Francis' spärliche Briefe, in denen so gut wie gar nichts stand, dann sein Testament, das er mir, als ich letzte Weihnachten auf Urlaub war, zur Aufbewahrung sandte, und dann sein Stillschweigen. Kein einziger Brief mehr, kein Wort von ihm, auch nicht die geringste Nachricht. Er war wie vom Erdboden verschluckt.

Ich erinnerte mich an meine verzweifelten Nachforschungen, an meine vergeblichen Besuche im Kriegsministerium, an mein Erstaunen über das unbeirrbare Schweigen der verschiedenen Beamten, die ich um Nachricht über meinen armen Bruder bat. Dann kam das Essen im Bath-Club mit Sonny Martin von der schweren Artillerie und seinem Freund, irgendeinem Generalstabshauptmann mit roten Streifen. Seinen Namen habe ich nicht verstanden, wohl aber, daß er im Kriegsministerium war, und bei Kaffee und Zigarren erzählte ich ihm von dem geheimnisvollen Fall meines Bruders.

»Vielleicht haben Sie Francis gekannt«, sagte ich schließlich. »Ja«, erwiderte er, »ich kenne ihn gut.« »Sie kennen ihn«, wiederholte ich, »kennen ihn ... Dann ..., dann glauben Sie also ... dann haben Sie also Grund anzunehmen, daß er noch lebt ...?«

Der mit den roten Streifen blickte auf den vergoldeten Stuck an der Zimmerdecke und blies Ringe in die Luft. Doch sagen tat er nichts. Ich ließ nicht locker und drang immer weiter in ihn, aber umsonst. Er lachte nur und sagte: »Ich weiß nur, daß Ihr Bruder ein famoser Kerl ist und sein Köpfchen für sich hat.«

Da fiel Sonny Martin, der ungeheuer viel Takt und diplomatisches Talent besitzt (darum ist es ihm wohl auch nicht gelungen, in den Diplomatischen Dienst einzutreten), ein und erzählte eine Anekdote von einem Mann, der den Kellner am Nachbartisch anbrüllte. Mir blieb also nichts anderes übrig, als den Mund zu halten. Aber als der mit den roten Streifen später aufstand und gehen wollte, hielt er meine Hand eine Minute lang in seiner und sagte mit einem merkwürdigen und vielsagenden Blick langsam:

»Im Krieg müssen tüchtige Offiziere gelegentlich verschwinden, manchmal im Interesse des Vaterlandes und manchmal in ihrem eigenen.«

Das Wort »tüchtig« hatte er besonders betont.

Da fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Wie blind war ich doch gewesen! Francis war in Deutschland.


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