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20. Kapitel.
Durch den Reichswald

Die Zeiger der Uhr standen auf Viertel nach zwölf. Seltsam, wie meine Blicke immer wieder zu dieser Uhr zurückkehrten! Es roch nach Pulver, und die schwache Herbstsonne, die sich durchs Fenster hindurchkämpfte, fing sich in einem blauen Rauchwölkchen, das überm Schreibtisch träge in der Luft hing. Wie dumpf es im Zimmer war! Und wie das Zifferblatt dieser Uhr mich anzustarren schien! Mir war sehr übel ... Himmel! Was für ein Zug! Ein eiskalter Windschauer tobte mir entgegen. Das Zimmer schwankte noch immer hin und her.

Ich saß vorn im Auto neben Francis, der chauffierte. Wir sausten mit Windeseile über eine breite Chaussee dahin. Die hohen Pappeln rechts und links wichen in die versinkende Landschaft zurück, wie wir so vorbeifuhren. Die Straße war fürchterlich und der Wagen schleuderte andauernd hin und her. Aber Francis hatte ihn in der Gewalt. Er saß kühl, entschlossen und todernst am Volant. Er hatte noch immer die Offiziersuniform an und in seinen Augen blitzte es kalt.

Wir verlangsamten das Tempo etwas, um rechts in eine Seitenstraße einzubiegen. Diese Ecke nahmen wir beinahe nur auf zwei Rädern. Eine dünne Kirchturmspitze tauchte aus Bäumen hervor und wir näherten uns einer Gruppe von Häusern. Das Dorf war so gut wie menschenleer: alle Leute schienen zum Mittagessen im Hause zu sein, aber Francis fuhr doch langsamer, als es durch die schmutzige Hauptstraße ging. Als wir das Dorf hinter uns hatten, schaltete er wieder den schnelleren Gang ein und augenblicklich fing der Wagen wieder an zu sausen.

Die Landschaft war flach wie ein Eierkuchen. Auf einmal hörten die Felder auf, Findlinge mit Distelbüschen hier und da erhoben sich am Rande der Chaussee. Im nächsten Augenblick verlangsamten wir das Tempo. Wir fuhren seitlich in ungebahntes Gelände und verschwanden zwischen Baumstümpfen und Buschwerk, das oberhalb einer gelben Sandgrube wuchs.

Francis winkte mir, auszusteigen und sprang dann selbst heraus, ohne den Motor abzustellen. Sein Gesicht war grau und gefaßt.

»Bleib hier«, flüsterte er mir zu. »Du hast doch deine Pistole. Gut. Wenn jemand dich behelligt, schieß!« Er stürzte ins Gebüsch und verschwand. Ich hörte einen Pfiff, dann einen Antwortpfiff, und einige Minuten später tauchte er mit Monika wieder auf, der er durch das dichte Gestrüpp half.

Monika sah in ihrem dunkelgrünen Jagdkostüm und ihrem Schal bildhübsch aus. Sie war aufgeregt wie ein Kind, wenn es zum erstenmal ins Theater geht.

»Ein Auto«, rief sie aus. »Ach Francis, ich sitze neben dir!«

Mein Bruder warf einen Blick auf die Uhr: »Zwanzig vor eins«, stammelte er. Er hatte einen besorgten Zug im Gesicht. Monika bemerkte es und ihre Freude wurde gedämpft.

Sie setzten sich beide vorn in den Wagen und ich nahm auf dem Rücksitz Platz.

»Nimm das an dich!«, sagte Francis und reichte mir eine kleine Aktentasche. Ich erkannte sie auf den ersten Blick wieder. Es war die von Dr. Grundt. Francis war eben in allem gründlich.

Wieder jagten wir über die einsame Landstraße dahin. Wir begegneten kaum einer Menschenseele. Häuser sah man nur selten und weit hinten liegend. Und abgesehen von ein paar Graubärten, die ab und zu in den nassen Feldern mähten, oder einer alten Frau, die die Chaussee entlang humpelte, war das Land wie ausgestorben. Die Maschine lief fabelhaft gut in der kalten Luft und Francis holte aus ihr heraus, was sie nur hergeben konnte.

Weiter ging die Fahrt, der Wind blies uns um die Ohren, kalte Luft wehte uns ins Gesicht, bis wir schließlich eine baumumsäumte Straße entlangrasten, die schnurgerade ins Herz des Waldes führte. Hier war es grabesstill: die Luft war feucht und kühl, und von den Bäumen fielen Tautropfen in die nassen Furchen der Chaussee herab. Wir jagten an vielen Pfaden vorbei, die in den Wald hineinführten, aber erst als wir etwa fünf Kilometer weit auf der Hauptstraße gefahren waren, brachte Francis den Wagen zum Stehen. Er zog eine Landkarte aus der Tasche, studierte sie und warf mit gerunzelter Stirn einen Blick auf die Uhr.

»Ich hatte gehofft, den Wagen in den Wald hineinfahren zu können«, sagte er, »aber die Straßen sind so aufgeweicht, daß wir keinen Schritt vorwärtskommen würden. Immerhin können wir es ja versuchen.«

Wir fuhren weiter, sehr langsam, bis links ein Weg abzweigte. Er war vollständig morastig vom Regen und in den Löchern stand das Wasser fußhoch. Monika und ich stiegen aus, um das Gewicht des Wagens zu vermindern, und Francis fuhr weiter. Aber er war kaum ein paar Schritte vorwärtsgefahren, als das Auto steckenblieb.

»Wir müssen ihn stehen lassen,« sagte er herausspringend. »Es ist zehn vor zwei, wir haben keine Sekunde zu verlieren.«

Er zog eine Wollmütze aus der Tasche seines Militärmantels, zog dann den Mantel aus und stand in seinen gewöhnlichen Sachen mit blankgeputzten schwarzen Schaftstiefeln da. Den Helm wickelte er in den Mantel ein, nahm die Rolle unter den Arm und setzte dann die Mütze auf.

»Jetzt heißt es rennen, Monika«, sagte er. »Wir müssen unser Versteck erreichen, solange es noch hell ist, sonst finde ich es nicht. Und in etwa zwei Stunden wird es hier im Wald dunkel sein. Seid ihr bereit?«

Wir stapften den Pfad entlang in den Wald hinein. Hier wuchs nicht viel Buschwerk und die Bäume standen ziemlich weit auseinander, so daß wir bequem laufen konnten. Wir eilten über einen Teppich feuchter Blätter, stolperten über Baumwurzeln, zerrissen uns die Sachen an Dornen und schüttelten im Vorbeigehen von den Tannen oder Kiefernzweigen ganze Schauer von Regentropfen herab. Bald sprang ein Eichhörnchen an einem Baumstamm hinauf, bald hüpfte ein Karnickel in sein Loch zurück, bald rannte ein sanftäugiges Reh vor uns davon ins Gebüsch. Ringsum war alles so still, daß ich wieder Mut faßte. Jetzt, wo wir weit fort von der Landstraße waren, sah man nirgends eine menschliche Spur. Und vor diesen königlich schweigsamen Bäumen empfand ich zum erstenmal voller Beglückung, daß ich der Gefahr, die so lange über mir geschwebt hatte, entronnen war.

Es ging sich mühsam, denn bei jedem Schritt sanken unsere Füße tief in die Blätter ein. Überall war der Boden wellig, bald ging es steil abwärts, bald hügelan. Wir merkten bald, daß wir nicht imstande sein würden, das Tempo einzuhalten. Monika war schon sichtlich müde und ich hatte auch schon reichlich genug. Francis schien es nicht anders zu gehen. Wir gingen jetzt langsamer, mühsam schleppten wir uns eine dieser steilen Anhöhen hinan, als Francis, der voranging, plötzlich die Hand hob.

»Karls des Großen Reitweg«, flüsterte er, als wir neben ihm standen, wir blickten den Abhang hinunter und gewahrten unter uns eine breite Lichtung, die von den dichten Zweigen alter Bäume überwölbt wurde wie von einem Baldachin und allmählich schmaler werdend in einen Pfad mündete, der sich in das immer schneller auf den Wald fallende Dunkel verlor.

Francis kletterte den Abhang hinunter und wir folgten ihm. In der Lichtung herrschte unter dem luftigen Blätterdach Zwielicht. Die Blätter raschelten bei jedem Schritt unter unseren Füßen. Es war gespenstisch hier. Monika klammerte sich an meinen Arm, während wir rasch hinter Francis herliefen, der jeden Augenblick von den Schatten des Herbstabends verschluckt zu werden drohte. Er führte uns auf den schmalen Pfad. Von hier zweigte ein anderer ab, den er einschlug. Er ging tiefer in den Wald hinein, wo wir auf Felsblöcke stießen und die Brombeersträucher so dicht wurden, daß sie stellenweise den Pfad überwucherten.

Jetzt ging es wieder bergan, und vor uns lag ein steiler Abhang, dessen Wände mit Gestein, Brombeersträuchern und anderem Buschwerk bedeckt waren. Francis blieb am Fuße des Abhangs zwischen zwei Steinblöcken stehen, wandte sich dann um und winkte uns, ihm zu folgen. Monika ging zwischen uns. Ich bildete die Nachhut. Wir befanden uns in einer Art von schmalem Gewölbe, das in eine breite Höhle führte, welche offenbar aus dem Gestein ausgehauen worden war.

Als ich die Höhle betrat, sah ich Francis und Monika still nebeneinander stehen. Kaum war ich bei ihnen, als ich wußte, warum sie so regungslos dastanden. Aus dem hinteren Teil der Höhle drang ein Lichtschein und ein seltsamer Laut wie unterdrücktes Schluchzen.

Ich schlich im Dunkeln in der Richtung des Lichts vorwärts. Meine ausgestreckten Hände stießen plötzlich auf einen Felsblock; ich kroch um ihn herum und erblickte eine zweite Höhlung, die von einer tropfenden Kerze erleuchtet war. Auf der Erde lag ein Mann und schluchzte, als wollte ihm das Herz brechen. Er trug eine Art Militärmantel mit einem gelben Streifen, der den Rücken entlang lief.

»Pst!«, rief ich ihm zu und zog meinen Revolver aus der Tasche. Da berührte Francis von hinten meinen Arm, um mich wissen zu lassen, daß er da sei.

»Pst«, rief ich noch einmal lauter.

Der Mann schnellte plötzlich mit einem erschrockenen Ruck auf. Als er meine Pistole erblickte, hielt er die Hände hoch über den Kopf. Schmutzig und unrasiert wie er war, machte er mit seinem von Tränen überströmten Gesicht einen verzweifelten Eindruck.

»Kamerad! Kamerad!« rief er mir blöde zu. »Naplü! kaput! Engländer!«

Ich starrte den Fremden an und traute meinen Ohren kaum. Dieser Schützengrabenjargon hier!

»Sind Sie Engländer?« fragte ich ihn.

Beim Klang meiner Stimme blickte er wild um sich.

»Ja, ich bin Engländer, Sir«, erwiderte er mit stark westlichem Dialekt. »Gott helfe mir!«, und ohne auf mich und meine Pistole zu achten, vergrub er das Gesicht in den Händen und brach wieder in heftiges Schluchzen aus, wobei er sich in seinem Schmerz hin und her wiegte.

»Geh zu Monika zurück!« flüsterte ich Francis zu, »ich werde mal mit diesem Burschen reden!«

Es gelang mir schnell, ihn zu beruhigen. Die Gewohnheit ist eine Großmacht, und so grotesk auch unsere Aufmachung war, das »Sir«, mit dem er mich angeredet hatte, erinnerte mich wieder daran, daß ich Offizier war. Ich redete mit ihm, wie ich mit einem meiner Leute geredet hätte, und er beruhigte sich schließlich und blickte zu mir empor.

Er war noch ein halbes Kind – man sah es seiner zarten Haut und seinen leuchtenden Augen deutlich an, aber sein Gesicht war bleich und vergrämt, und auf den ersten Blick wirkte er wie ein Mann von vierzig. Unter seinem deutschen Militärmantel trug er schmutzige Lumpen, an deren Schnitt, aber auch an nichts anderem, man die Khaki-Uniform erkannte.

In seinem weichen Somersetshire-Dialekt erzählte er mir seine einfache Geschichte, eine Geschichte, wie sie Tausende unserer Landsleute im Kriege erlebt haben. Er hieß Ebenezer Maggs und war Sappeur bei den königlichen Genietruppen. Im August 1914 war er in der Nähe von Mons gefangen genommen worden mit vielen anderen englischen Soldaten. »Vielen ging's furchtbar schlimm, Sir, lagen im Sterben, wie man sagt« – Dann war er in einer Stadt einmarschiert und durch Straßen, die mit hohnlachenden deutschen Soldaten gefüllt waren, zum Bahnhof geführt worden. Gesunde, Verwundete, Sterbende und Tote wurden zusammen in Viehwagen gestopft, bekamen weder zu essen noch zu trinken und reisten so nach Deutschland, wo feindlicher Pöbel, brutale Männer und kreischende Weiber, denen nicht einmal die Toten heilig waren, sie an jeder Station beschimpften.

Es war eine furchtbare Geschichte, die auch in der schlichten, schmucklosen Erzählungsweise dieses Bauernjungen nichts von ihrem Grauen einbüßte. Er war einer von den ausgemergelten, zerlumpten, englischen Kriegsgefangenen, die sich während dieses ersten langen Winters im Gefangenenlager von Friedrichsfeld bei Wesel hatten durchhungern und durchfrieren müssen. Zwei Jahre lang hatte er das schlechte Essen, den Schmutz, die grobe Behandlung ausgehalten, dann hatte ihm ein unternehmender belgischer Kamerad, den er »John« nannte und der in glücklichen Tagen an dieser Grenze hier Schmuggler war, zur Flucht überredet. Vor fünf Tagen hatten sie das Lager verlassen, hatten sich getrennt und vereinbart, sich im Reichswald zu treffen, um gemeinsam über die Grenze zu gelangen. Aber »John« war nicht gekommen. Vierundzwanzig Stunden lang hatte Maggs vergeblich gewartet, dann hatte ihn sein Mut im Stich gelassen und er hatte sich in seinem Kummer in diese Höhle verkrochen.

Ich ging Francis und Monika holen. Als sie kamen, wollte Maggs sich verstecken.

»Ich kann mich ja in Damengesellschaft nicht sehen lassen, Sir«, flüsterte er mir zu, »verdreckt wie ich bin. Im Lager konnte man sich nicht ordentlich waschen!«

Des braven Kerls ganzer Abscheu vor Schmutz lag in seiner Stimme.

»Schon gut, Maggs«, beruhigte ich ihn, »die Dame wird das schon verstehen!«

Wir setzten uns auf die Erde, um Maggs Kerze herum, und Francis und ich überdachten unsere Situation. In der Höhle, in der wir uns befanden, sie war ein altes Schmugglerversteck, hatte Francis bei seinen verschiedenen Versuchen, über die Grenze zu kommen, schon ein paar Tage zugebracht. Die Grenze selber war nur etwa eine Viertelmeile von hier entfernt und lief mitten durch den Wald. Hier befand sich kein Stacheldrahtzaun, wie ihn die Deutschen zwischen Belgien und Holland errichtet hatten. Die Grenze wurde von Patrouillen bewacht. Alle zweihundert Schritt standen vier Mann, die paarweise die Grenzlinie abschritten.

Es war jetzt halb sechs Uhr abends. Wir kamen überein, noch heute nacht den Versuch zu machen, die Grenze zu überschreiten. Francis gab mir einen Rippenstoß und zeigte mit den Augen auf Maggs.

»Maggs«, sagte ich, »es geht uns allen schlecht. Aber unser Fall ist noch schlimmer als Ihrer. Wenn einer von uns Dreien gefaßt wird, werden wir erschossen, und wer mit uns zusammensteckt, dem wird's genau so gehen. Wenn Sie meinen Rat hören wollen, dann lassen Sie uns allein und gehen auf eigene Faust los. Das schlimmste was Ihnen passieren kann, ist, daß Sie in das Lager zurückgeschickt werden. Da wird man Sie für den Fluchtversuch bestrafen, aber Ihr Leben wird man Ihnen lassen!«

Maggs schüttelte seinen Blondkopf: »Ich bleibe«, erwiderte er bestimmt. »Es ist besser, wir vier halten zusammen, dann hat die Dame auch mehr Schutz. Ich hab keine Angst vor den Deutschen. Ich nich. Ich geh mit den Herren Offizieren und der Dame, wenn sie nix dagegen haben, Sir!«

Die Sache wurde also abgemacht, wir wollten gemeinsam losmarschieren.

Ehe wir uns aufmachten, wollte Francis noch das Terrain rekognoszieren. Ich meinte zwar, er hätte heute schon genug geleistet und sagte es ihm auch. Francis aber bestand darauf.

»Ich finde die Wege hier mit verbundenen Augen«, sagte er. »Du bist hier fremd. Ich werde dir die Karte dalassen und Zeichen an den Weg machen, den du gehen sollst, damit du dich nicht verläufst, falls mir etwas zustoßen sollte. Bin ich um Mitternacht nicht zurück, dann wartet keinesfalls, sondern probiert euer Glück allein.«

Mein Bruder gab mir das Dokument zurück, legte sein Bündel ab und erklärte, er sei bereit.

»Und vergiß nicht die Aktentasche vom Klumpfuß«, sagte er zum Abschied.

Monika brachte ihn bis zum Höhleneingang. Als sie wieder kam, wischte sie sich die Augen mit ihrem Taschentuch. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, fragte ich sie nach den Vorgängen, die zu meiner Rettung geführt hatten, und sie erzählte mir, wie sie auf Francis' Geheiß hin alle Dienstboten mit verschiedenen Ausreden aus dem Schloß entfernt hatte. Die Soldaten, die als Wache zurückgeblieben waren, hatte Francis persönlich fortgeschickt.

»Du erinnerst dich doch an den Streich des Hauptmanns von Köpenick?«, sagte sie. »Nun, den hat Francis dem Unteroffizier und seinen sechs Mann auch gespielt. Er hatte in Cleve übernachtet und sich beim Friseur schön machen lassen, hat sich die Schaftstiefel gekauft, die er anhat, ist dann in Schmidts Café gegangen und hat Helm und Offiziersmantel dort vom Garderobenhaken gestohlen. Dann ist er zum Schloß gefahren, er wußte ja, daß um diese Zeit niemand zu Hanse war, und sagte dem Unteroffizier, er sei von Goch hergeschickt worden, um die Wache zu inspizieren. Fabelhaft! Was? Er inspizierte also die Leute, schimpfte sie alle in Grund und Boden und schickte den Unteroffizier auf die Wiese, mit dem Befehl, die Leute zwei Stunden lang zu exerzieren. Francis hat mir unterwegs alles erzählt. Er sagt, wenn man eine Uniform anhat und einen Deutschen anbrüllt, steht er stramm und kommt nie hinter den Bluff. Unglaublich, aber wahr!«

Die Stunden schlichen träge dahin. Wir hatten nichts zu essen, und Maggs, der den letzten Rest seiner Vorräte schon vor vierundzwanzig Stunden aufgefuttert hatte – ein englischer Soldat ist ein schlechter Hamster – rauchte mir bald meine letzte Zigarette weg. Es war zehn Uhr vorbei, als ich draußen Schritte vernahm. Im nächsten Augenblick kam Francis bleich und atemlos herein.

»Sie suchen den Wald nach uns ab«, keuchte er. »Es ist alles ganz voll von Leuten. Ich mußte den ganzen Weg hin und zurück kriechen und bin bis auf die Haut durchnäßt.«

Ich zeigte auf Monika, die eingeschlafen war, und er senkte die Stimme.

»Des«, sagte er, »ich habe gehofft, solange es ging, jetzt aber glaube ich, sind wir verloren. Sie sperren den Wald in weitem Umkreis ab, Soldaten, Polizei und Zollbeamte. Wenn wir sofort aufbrechen, könnten wir die Grenze vor ihnen erreichen. Aber was hat das für einen Sinn ..., sämtliche Patrouillen schauen ja nach uns aus ..., der Wald ist ganz hell von lauter Fackeln.«

»Wir müssen es versuchen, Francis«, sagte ich. »Wenn wir hier bleiben, ist es auf jeden Fall aus!«

»Da hast du wohl recht«, erwiderte er. »Hier ist der Plan, da siehst du eine tiefe Schlucht, die direkt über die Grenze läuft. Ich habe eine Stunde drin verbracht. Oben hat man auf dieser Seite der Grenze eine Bretterbrücke gebaut, und die Patrouillen kommen alle drei Minuten an die Schlucht heran. Es ist so gut wie ausgeschlossen, unbemerkt in drei Minuten durch die Schlucht zu laufen, aber ...«

»Wir müßten höchstens die Aufmerksamkeit der Patrouillen ablenken.« Francis aber überhörte die Unterbrechung.

»... wir können es wenigstens probieren. Komm, wir müssen aufbrechen! Gott sei Dank scheint kein Mond. Es ist stockdunkel draußen!«

Wir weckten Monika auf und tasteten uns aus der Höhle hinaus in den schwarzen, tropfenden Wald. In der Ferne färbte ein matter Lichtschein den Himmel rot. Von Zeit zu Zeit glaubte ich einen Ruf zu hören, aber er klang sehr weit fort.

Wir schlichen uns auf Zehenspitzen vorwärts: Francis vorne, dann Monika, dann Maggs, zuletzt ich. Innerhalb von ein paar Minuten waren wir durch und durch naß, und unsere vor Kälte blau angelaufenen und erstarrten Hände waren zerkratzt und aufgeschürft. Wir kamen nur unsagbar langsam vorwärts. Alle paar Schritt hob Francis die Hand und wir blieben stehen.

Endlich erreichten wir die dämmrige Lichtung, wo dem Volksglauben nach am Sankt Hubertustag noch immer der Geist Karls des Großen zu sehen ist, wie er mit seinem gespenstischen Gefolge auf die Jagd reitet. Auf einmal hörten wir Blätter rauschen. Im Nu hockten wir uns hinter einem Sandhügel hin.

Ein paar Männer kamen die Lichtung entlang. Einer von ihnen sang:

»Die Vöglein im Walde,
Die sangen so wunder-, wunderschön,
In der Heimat, in der Heimat,
Da gibt's ein Wiedersehn.«

»Das ist die Ablösung«, flüsterte Francis, sobald sie vorbei waren.

»Die anderen, die sie ablösen, werden sofort hier vorbeikommen. Wir müssen rennen, was wir können.« Mein Bruder hatte sich aufgerichtet und lief auf Zehenspitzen rasch über den Weg. Wir folgten ihm nach.

Wir müssen ungefähr eine Stunde lang gegangen sein, ehe wir zu der Schlucht kamen. Es war ein tiefer, schmaler, steil abfallender Graben, der mit Buschwerk und Brombeersträuchern bewachsen war. Jetzt hörten wir deutlich laute Stimmen rings um uns her, und rechts und links und vor uns erblickten wir in Zwischenräumen rote Flammen durch die Baumstämme. Wir konnten nur im Schneckentempo vorwärtskriechen, damit das beständige Rascheln unserer Schritte uns nicht verriet. Abwechselnd machte jeder von uns immer ein paar Schritte. Die übrigen blieben inzwischen stehen, bis der nächste dran war. Kriechen konnten wir nicht mehr; dazu war das Gebüsch zu dicht. Wir mußten tief gebückt laufen.

Eine volle halbe Stunde lang waren wir so weitergekommen, als Francis, der wie gewöhnlich voranging, uns ein Zeichen machte, uns niederzulegen. Wir lagen alle regungslos zwischen den Brombeeren.

Dann sagte eine Stimme über uns auf deutsch: »Und einen Mann stellen Sie hier an die Brücke, Unteroffizier, zur Bewachung der Schlucht.«

Eine zweite Stimme antwortete: »Zu Befehl, Herr Leutnant. Aber in diesem Fall brauchen die Patrouillen rechts und links nicht jedesmal die Brücke zu überschreiten, sie können kehrt machen, wenn sie zum Schluchtposten kommen.«

Die Stimmen erstarben in einem Gemurmel. Ich reckte den Hals. Er war so dunkel, daß ich nichts weiter sehen konnte, als den Schatten der Zweige am Nachthimmel.

»Wenn wir nicht jetzt gleich einen Vorstoß wagen, wird uns der Mann unweigerlich gehen hören!«, flüsterte ich Francis zu, der vor mir lag.

Francis hielt einen Finger in die Höhe. Wir vernahmen schwere Schritte auf der Sandbank über uns.

»Zu spät!«, flüsterte mein Bruder zurück. »Hörst du die Patrouillen?«

Rechts und links knackte das Gebüsch unter Fußtritten.

»Hundekälte«, sagte eine Stimme.

»Bitter«, kam die Antwort direkt über unseren Köpfen.

»Hast du was gesehen?«

»Nichts!«

Rechts knackte es wieder, dann wurde es still.

»Sie sperren von links ab«, sagte wieder eine andere Stimme.

»Hast du was gehört?« fragte die Stimme über uns.

»Nicht einen Ton!«

Links fing es wieder an zu rascheln, und allmählich verloren sich die Schritte in der Ferne.

Stille.

Ich fühlte einen heißen Atem an meinem Ohr. Maggs stand neben mir.

»Da oben sitzt uns ein Bursche auf der Pelle, nicht wahr?«, flüsterte er.

Ich nickte.

»Wenn ich seine Aufmerksamkeit ablenken könnte, könnten Sie doch das nächste Mal, wenn die Patrouille vorbei is, an ihm vorbeischlüpfen, nich wahr?«

Ich nickte wieder.

»Wenn wir gefaßt werden, is es für Sie schlimmer als für mich, hat doch der Offizier gesagt, nich wahr?«

Wiederum nickte ich.

»Ich werde ihn für Sie ablenken, Sir, das nächste Mal, wenn die Patrouille vorbeikommt«, flüsterte es mir wieder heiß ins Ohr. »Wenn ich schreie, dann rennen Sie los, Sie und die Anderen. 3143 Sappeur Maggs von Chewton Mendip ..., das bin ich, vielleicht schreiben Sie mir mal ins Lager.«

Ich streckte meine Hand im Dunkeln aus, um ihn aufzuhalten. Er war bereits fort.

Ich beugte mich vor und flüsterte Francis zu: »Wenn du einen Schrei hörst, stürzen wir vor!«

Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu sehen, aber ich merkte, daß er mich überrascht anblickte.

»Schön!«, flüsterte er zurück.

Jetzt hörten wir Stimmengewirr zur Linken und sahen Fackeln rot zwischen den Bäumen schimmern. Von rechts und von hinten ertönte Antwort.

Wieder begegneten sich die Patrouillen an der Brücke über unseren Köpfen, wieder rauschten die sich entfernenden Tritte im Gebüsch.

Das Murmeln kam näher, wir rochen sogar das brennende Harz der Fackeln.

Dann gellte ein wilder Schrei durch den Wald. Die Stimme über uns schrie »Halt!«, aber das Echo ging in dem ohrenbetäubenden Knall eines Schusses verloren.

Francis packte Monika am Handgelenk und zog sie vorwärts. Wir krochen und schoben uns durch die Wirrnis der Schlucht. Ein zweiter Schuß ertönte und ein dritter, Kommandorufe erschallten, der rote Schein am Himmel wurde tiefer ...

Monika brach ganz plötzlich zu meinen Füßen zusammen. Sie stieß keinen Laut aus, sondern fiel mit schlohweißem Gesicht lang hin. Ohne ein Wort zu sagen hoben wir sie auf und gingen weiter, stolpernd, keuchend, pustend, mit zerrissenen Kleidern, während uns das Blut aus den tiefen Kratzwunden auf Gesicht und Händen floß. Wir waren mit unserer Kraft zu Ende. Wir legten Monika nieder, deckten sie mit Zweigen zu und krochen selber erschöpft und matt ins Brombeergebüsch.

Der Morgen färbte den Himmel zitronenfarben, als ein Hund schnüffelnd zu unserem Versteck gesprungen kam. Francis und Monika schliefen.

Ein Mann stand oben am Rande der Schlucht und blickte auf uns nieder. Er trug ein Gewehr über der Schulter.

»Haben Sie einen Unfall erlitten?«, fragte er freundlich.

Er sprach holländisch.


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