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3. Kapitel.
Ein nächtlicher Besucher

Eine Flut von Schimpfworten vom Bock der Droschke her – Fluchen auf holländisch ist schauerlich anzuhören – weckte mich aus meinen Gedanken. Die Droschke, ein kleiner rumpliger Kasten, in dem es muffig roch, hielt mit einem Ruck, der mich vorwärts schleuderte. Draußen im Dunkeln hörte man wütendes Zanken, und der klatschende Regen spielte die Begleitmusik dazu. Ich blickte durch das verregnete Fenster hinaus, konnte aber nichts weiter sehen, als den gelben Schein einer Laterne. Dann schien irgendein Gefährt vor uns davonzufahren, denn ich hörte das Knarren von Rädern, und meine Droschke hielt dicht neben dem Bürgersteig.

Ich stieg aus und befand mich in einer engen, dunklen Straße mit hohen Häusern rechts und links. Eine schmuddlige Lampe, auf der das Wort »Hotel« in halbverwischten Buchstaben gemalt war, hing über meinem Kopf und verkündete, daß ich am Ziel war. Als ich den Kutscher bezahlt hatte, fuhr eine zweite Droschke vorüber. Anscheinend die, mit der mein Kutscher sich gezankt hatte; denn der Onkel oben auf dem Bock drehte sich jetzt um und schimpfte noch in die Nacht hinein.

Mein Kutscher fuhr los und ließ mich mit meinem Koffer stehen. Ich starrte auf die schmale, schmutzige Tür, deren obere Hälfte mit Milchglas ausgefüllt war. Endlich kam mir zum Bewußtsein, daß ich, ein Engländer, die Nacht in einem deutschen Hotel verbringen wollte, das mir von einem deutschen Portier, in der Meinung, daß ich Deutscher sei, besonders empfohlen worden war. Ich wußte, daß mein Paß den holländischen Neutralitätsverordnungen gemäß polizeilich untersucht werden würde und daß ich mich deshalb nicht als Deutscher ausgeben könnte.

»Pah!« sprach ich mir selber Mut zu. »Ich bin hier in einem freien, neutralen Lande; man kann mich in einem deutschen Hotel beleidigen oder neppen, aber fressen kann man mich nicht. Außerdem ist mir in so einer Nacht jedes Bett recht!« Und damit stieß ich die Tür auf.

Innen machte das Hotel einen besseren Eindruck, als man nach dem wenig einladenden Äußeren hatte erwarten können. Da war eine kleine Halle mit einem Glaskäfig an der Seite, der als Büro diente, und dahinter eine altmodische Treppe, die zu den oberen Stockwerken führte.

Beim Klang meiner Schritte auf dem Steinfußboden kam ein Kellner aus einem kleinen Verschlag unter der Treppe hervor. Er hatte eine blaue Schürze um, war aber sonst genau so gekleidet, wie alle Kellner auf dem Kontinent: kurze Jacke, Frackhemd und schwarze Krawatte. Seine Hände und seine Schürze waren unsauber. Er hatte offenbar Stiefel geputzt.

Es war ein großer, dicker, blonder Mann mit schmalen grausamen Äugelchen. Sein Haar war so kurz geschnitten, daß sein Kopf beinahe glatt rasiert wirkte. Er kam rasch auf mich zu und fragte mich auf deutsch mit rauher, unsympathischer Stimme, was ich wollte.

Ich erwiderte ebenfalls auf deutsch, daß ich ein Zimmer wünsche. Als er meine gute Bonner Aussprache hörte, warf er mir durch seine kleinen Augenschlitze einen schnellen Blick zu, aber sein Benehmen blieb unverändert.

»Das Hotel ist überfüllt. Der Herr kann hier kein Bett bekommen. Die Besitzerin ist im Augenblick nicht zu Hause. Ich bedauere ...« Das alles brachte er in der überheblichen Art eines preußischen Beamten heraus.

»Franz vom Bopparder Hof hat mich hierher geschickt«, sagte ich. Ich dachte gar nicht daran, wieder in den Regen hinauszugehen, und wäre mir auch eine ganze Armee von preußischen Kellnern entgegengetreten.

»Er sagte mir, Frau Schratt würde es mir hier sehr behaglich machen«, fügte ich hinzu.

Das Benehmen des Kellners war augenblicklich verwandelt.

»So, so«, sagte er, und es klang diesmal ganz wohlwollend, »also Franz hat den Herrn zu uns geschickt. Ja, der Franz ist ein guter Freund des Hauses. Frau Schratt ist leider jetzt gerade nicht zu Hause, aber sobald sie zurückkommt, werde ich ihr sagen, daß Sie hier sind. Inzwischen werde ich dem Herrn ein Zimmer geben.«

Er reichte mir eine Kerze und einen Schlüssel. »So«, brummte er, »Nummer 31, dritter Stock.«

Eine Uhr schlug draußen irgendwo in der Ferne.

»Ach, schon zehn«, sagte er. »Die Papiere des Herrn haben ja bis morgen früh Zeit, es ist schon so spät; oder vielleicht gibt sie der Herr der Besitzerin. Sie muß jeden Augenblick kommen.«

Als ich die gewundene Treppe hinaufkletterte, hörte ich ihn wieder brabbeln: »So, also der Franz hat ihn hierhergeschickt! Na ja, der Franz.«

Kaum hatte ich mich aus dem Gesichtskreis der erleuchteten Halle entfernt, als mich vollständiges Dunkel umfing. Auf jedem Treppenabsatz warf ein niedrig geschraubter Gasarm in kleinem Umkreis ein trübe flackerndes Licht auf den Boden. Im dritten Stock konnte ich im Schein der Gaslampe ein kleines Schild an der Wand entdecken, auf dem sich ein nach rechts weisender Pfeil und darüber die Zahlen: 46-30 befanden.

Ich zündete ein Streichholz an, um meine Kerze anzustecken. Das ganze Hotel schien in Schweigen gehüllt. Das Rauschen des Wassers, das draußen in die Gossen ablief, war der einzige Laut. Dann hörte ich auf dem dunklen Korridor, der sich vor mir hinstreckte, das Geräusch eines Schlüssels in einem Schlüsselloch.

Ich ging den Korridor entlang, der blasse Schein meiner Kerze zeigte mir im Vorübergehen lauter gelbe Türen, auf denen überall weiße Porzellanschilder mit einer schwarzen Nummer angebracht waren. Nummer 46 war vom Treppenabsatz aus gerechnet die erste Tür rechts. Links waren die ungeraden, rechts die geraden Zahlen; ich vermutete daher, daß mein Zimmer das letzte auf der linken Seite sein würde.

Auf einmal machte der Korridor eine scharfe Biegung. Als ich um die Ecke war, hörte ich wieder das Schließgeräusch von vorhin, aber da der Flur noch einen zweiten Knick machte, konnte ich keinen Menschen sehen, ehe ich nicht noch einmal um die Ecke herum war.

Da stieß ich direkt auf einen Mann, der sich an der linken Seite des Flurs, am Schloß der vorletzten Tür zu schaffen machte. Ein Spiegel am Ende des Korridors fing das Bild meiner Kerze auf und warf es zurück.

Als ich näher kam, sah sich der Mann um. Er trug einen weichen, schwarzen Filzhut und einen schweren Überzieher, und an seinem Arm hing ein triefender Regenschirm. Sein Leuchter stand auf der Erde zu seinen Füßen. Die Kerze war offenbar eben erst ausgegangen, denn es roch noch deutlich nach schwelendem Docht.

»Haben Sie ein Streichholz?«, sagte der Fremde auf deutsch mit merkwürdiger atemloser Stimme. »Ich bin eben erst heraufgekommen, und der Wind hat meine Kerze ausgeweht, so daß ich die Tür nicht auf kriege. Vielleicht könnten Sie ...« Er brach keuchend ab und legte die Hand auf sein Herz.

»Erlauben Sie«, sagte ich. Das Schloß saß verkehrt herum, und man mußte den Schlüssel mit dem Bart nach oben ins Schloß stecken, um die Tür zu öffnen. Ich tat es, und die Tür ging ohne weiteres auf. Dabei bemerkte ich, daß es das Zimmer Nr. 33 war, also das neben meinem.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ist Ihnen nicht wohl?«, fragte ich und beleuchtete mit meiner Kerze die Züge des Fremden.

Es war ein junger Mann mit kurzgeschnittenem schwarzem Haar, schönem, dunklem Anzug und einer Adlernase, über der eine tiefe Furche zwischen den Augenbrauen saß. Sein krauses Haar und die vorstehenden Backenknochen ließen auf jüdisches Blut schließen. Er war sehr blaß im Gesicht, und seine Lippen waren bläulich angelaufen. Ich sah, wie Schweißperlen auf seiner Stirn standen.

»Danke schön, es geht schon vorüber«, erwiderte der Mann mit derselben keuchenden Stimme. »Ich bin nur ein bißchen außer Atem, weil ich den Koffer die Treppe heraufgeschleppt habe. Weiter nichts.«

»Sie müssen kurz vor mir angekommen sein«, sagte ich, und die Droschke fiel mir ein, die kurz vor meiner Ankunft vorm Hotel fortgefahren war.

»Ganz recht«, erwiderte er und stieß beim Sprechen die Tür auf. Dann verschwand er in dem dunklen Zimmer, und plötzlich fiel die Tür knallend zu, daß es durch das ganze Haus schallte.

Wie ich schon angenommen hatte, lag mein Zimmer neben seinem am Ende des Korridors. Es roch entsetzlich dumpf und muffig darin, und das erste, was ich tat, war, daß ich zum Fenster lief und es weit aufriß.

Mein Zimmer ging auf einen dunklen, schmalen Kanal, auf dessem Wasser die schwarzen Umrisse großer Schleppkähne sichtbar wurden. Gegenüber ragten hohe, verwitterte Häuser in den Himmel hinauf. In keinem Fenster war Licht. In der Ferne schlug dieselbe Uhr, die ich schon vorhin gehört hatte, Viertel – einen einzigen, klaren Glockenschlag.

Es war das übliche Hotelzimmer: abgenutzter Teppich, verblichene, schmutzige Tapete, verschossene rote Vorhänge und ein Mahagoni-Bett mit einem großen Plumeau, wie ein riesiges Nadelkisten. Meine Kerze, die bei dem ungewohnten Windhauch, der feucht durch das Zimmer wehte, wild flackerte, war der einzige Beleuchtungskörper. Es gab hier weder Gas noch elektrisches Licht.

Das Haus war wieder in Stille versunken. Mein Zimmer machte einen üblen Eindruck, und in Verbindung mit der dumpf-feuchten Luft vom Kanal her gab das meinen Gedanken eine düstere Färbung.

»Na«, sagte ich zu mir selber, »du bist ja ein schöner Esel. Da sitzt du nun als englischer Offizier und spielst die Rolle eines Deutschen in einer Spelunke mit einem Kellner, der aussieht wie der leibhaftige preußische Henker. Was wird dir passieren, mein Liebling, wenn Madame kommt und merkt, daß du einen englischen Paß hast? Eine hübsche Suppe hast du dir da ja eingebrockt, das muß ich schon sagen!

»Und wenn es nun Madame einfällt, heute Nacht hier anzuspazieren und sie hinter deinen Schwindel kommt und den sanften Hans oder Fritz oder wie der verfluchte Kellner da heißt, ruft, was passiert dann? Wie wirst du auf diesem schmalen Korridor mit dem Kerl fertig werden, wo doch nebenan auch ein Hunne wohnt, wie wahrscheinlich überall hier oben, und du nirgends rauskommst? Du kennst keine Menschenseele in Rotterdam, und kein Hahn wird danach krähen, wenn du sang- und klanglos vom Erdboden verschwindest ... Wenigstens keiner auf dieser Seite des Wassers.«

Ich wollte mich eben ausziehen, als mir links vom Bett eine kleine Tür auffiel. Sie ging auf einen kleinen Toilettenraum, ein enges, schmales Loch mit einem Waschtisch und einem mächtig schmutzigen, mit gelbem Papier beklebten Fenster. Ich riß dieses Fenster mit aller Gewalt auf – es mußte jahrelang nicht geöffnet gewesen sein – und fand, daß es auf einen sehr kleinen und tiefen Innenhof ging, auf eine Art Luftschacht, um den herum das Haus gebaut war. Unten war ein winziger, gepflasterter Hof, nicht größer als fünf Fuß im Quadrat. Er hatte glatte Mauern und nur an einer Seite ein vergittertes Kellerfenster, neben dem ein paar Stufen hinabführten. Aus diesem Fenster unten drang ein schwacher, gelber Lichtstrahl. Die Luft war feucht und kühl, und gräßlicher Küchengeruch quoll aus dem Schacht empor. Daher schloß ich das Fenster wieder und kehrte ins Zimmer zurück.

Ich zog Rock und Weste aus, und meine Gedanken beschäftigten sich wieder mit dem geheimnisvollen Dokument, das ich von Dicky bekommen hatte. Ich sah mir die rätselhaften Worte noch einmal an:

»O Oak-wood! O Oak-wood (soviel stand ja nun fest)!
Wie leer sind deine Blätter.
Wie Achiles (mit einem ›l‹)
In dem Zelte.
Wo Zweie sich zanken,
freut sich der Dritte.«

Was hatte das alles zu bedeuten? Hatte Francis sich etwa mit irgendeinem Mitverschworenen gezankt, und hatte der meinen Bruder aus Rache denunziert und dann diesen ungewöhnlichen Schritt unternommen, um den Freunden seines Opfers dessen Schicksal mitzuteilen? »Wie Achilles in dem Zelte!« Warum nicht »in seinem Zelte?« Wahrhaftig ...

Ein merkwürdig würgendes Geräusch, wie unterdrückter Husten, unterbrach plötzlich die tiefe Stille des Hauses. Mein Herz hörte gleichsam einen Augenblick zu schlagen auf. Ich wagte kaum, die Augen von dem Stück Papier zu heben und lehnte in Hemd und Hose regungslos über dem Tisch.

Das Geräusch hörte nicht auf, ein abscheuliches, kehliges Gurgeln. Dann hörte ich draußen auf dem Korridor leise Schritte.

Ich blickte zur Tür.

Irgend jemand oder irgend etwas kratzte da draußen wie rasend und verzweifelt am Holz.

Die Türklinke bewegte sich laut knackend nach unten. Das Geräusch übertönte das eklige Röcheln draußen auf dem Flur. Es brach den Bann, der mich gelähmt hatte.

Ich schritt entschlossen auf die Tür zu. Im selben Augenblick ging das Röcheln in einen unterdrückten Schrei über.

»Ich sterbe!« waren die Worte, die ich hörte.

Dann brach die Tür krachend auf, Wind und Regen fegten ins Zimmer herein, und die Gardinen flatterten wie toll am Fenster.

Die Kerze flackerte wild auf.

Dann ging sie aus.

Etwas fiel schwer in mein Zimmer herein.


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