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8. Kapitel.
In Deutschland

Während wir die Treppe hinuntergingen, flüsterte mir der Major zu: »Ich glaube nicht, daß der Herr draußen von mir gekannt zu werden wünscht. Er hat sich bei seiner Ankunft nicht vorgestellt und kommt nicht zu uns ins Kasino. Aber ich kenne ihn trotzdem: es ist der junge Graf Boden von den Garde-Ulanen. Sein Vater, der General, ist Adjutant beim Kaiser. Er war eine Zeitlang Erzieher des Kronprinzen.«

Vor der Tür stand ein Auto, in dem ein junger Mann in graublauem Offiziersmantel und einer flachen Mütze mit rosa Streifen saß. Als wir uns näherten, sprang er auf. Sein Benehmen war höchst eilig. Er ignorierte meinen Begleiter vollkommen.

»Hocherfreut, Sie zu sehen, Herr Doktor«, sagte er. »Sie werden sehr dringend erwartet. Ich bitte um Entschuldigung, daß ich nicht am Bahnhof war, um Sie zu begrüßen, aber es müssen da offenbar Mißverständnisse vorgelegen haben. Die Empfangsformalitäten am Bahnhof sind plötzlich abgebrochen worden ...« Er starrte den alten Major, der blutrot geworden war, durch sein Monokel an.

»Wenn Sie in meinen Wagen einsteigen wollen«, fügte der junge Mann hinzu, »so fahre ich Sie zum Bahnhof. Wir brauchen den Herrn da nicht weiter aufzuhalten.«

Mir tat der alte Major leid, der das freche Benehmen dieses jungen Leutnants schweigend über sich ergehen lassen mußte. Daher schüttelte ich ihm herzlich die Hand und dankte ihm für seine Gastfreundschaft; es war ja schließlich ein jovialer alter Kerl.

Der junge Graf chauffierte selber und plauderte liebenswürdig während der Fahrt. »Gestatten Sie übrigens, daß ich mich vorstelle«, sagte er: »Leutnant Graf Boden von den zweiten Garde-ulanen. Ich wollte vor dieser alten Klatschbase nichts sagen. Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Reise hinter sich. v. Steinhardt von unserer Botschaft im Haag war instruiert, Ihnen hier drüben alles so angenehm wie möglich zu machen. Aber ich vergaß ja, daß er und Sie alte Bekannte sein müssen, Herr Doktor!«

Ich sagte irgend etwas Passendes über Steinhardts immer gleiche Liebenswürdigkeit. Im stillen nahm ich die Deutung der Visitenkarte in meiner Brusttasche zur Kenntnis.

Am Bahnhof standen zwei Ordonnanzen, eine mit meinen Sachen, die zweite mit v. Bodens Gepäck und seinem Pelz. Die Bahnsteige waren jetzt menschenleer. Nur die Schildwachen gingen auf und ab. Sobald der Fernzug vorüber war, schien diese kleine Grenzstation wie ausgestorben.

Es entging mir nicht, daß mein Begleiter ab und zu, während wir auf dem Bahnsteig auf den Extrazug warteten, flüchtige Blicke auf meine Füße warf. Ich betrachtete meine Schuhe: Sie waren zwar ungeputzt, aber sonst fiel mir nichts an ihnen auf. Allerdings waren sie braun, und es fiel mir ein, daß der deutsche Städter die Angewohnheit hat, sich mit seiner Fußbekleidung nach dem Kalender zu richten, und daß braune Schuhe in Deutschland nach dem ersten September selten getragen werden.

Unser Sonderzug fuhr ein: Eine Lokomotive mit Tender, ein Bremswagen, ein einziger Coupéwagen und ein Dienstwagen. Der Stationsvorsteher verabschiedete sich auf höchst zeremonielle Weise von uns, und der Schaffner half mir in den Zug hinein.

Wir befanden uns in einem Salonwagen mit bequemen Sesseln und kleinen Tischen. Eine der Ordonnanzen deckte den Tisch, und bald darauf nahmen der junge Graf und ich ein Mahl ein, das abgesehen von dem unvermeidlichen »Kriegsbrot« nichts von der Knappheit infolge der englischen Blockade merken ließ. Aber inzwischen war mir klar geworden, daß aus irgendeinem Grunde keinerlei Mühe gespart wurde, um mir Ehre zu erweisen: diese Kost war also vermutlich etwas Ungewöhnliches.

Mein Gefährte war ein frischer, amüsanter Bursche und ein typischer Vertreter seiner Klasse. Er hatte ein Jahr lang an der Ostfront bei der Kavallerie gedient, war schwer verwundet und daraufhin dem Generalstab in Berlin zugeteilt worden, wo er wohl eher eine dekorative als eine nützliche Rolle spielte, denn abgesehen von dem, was er bei seinem eigenen Kriegsdienst gelernt hatte, schien er auffallend wenig von der Entwicklung der militärischen Lage zu wissen. Vor allen Dingen war seine Unkenntnis der Verhältnisse an der Westfront erstaunlich. Über die Engländer wußte er tausenderlei wirklich phantastische Fabeln zu erzählen. Er beteuerte mir zum Beispiel feierlich – mit Berufung auf einen Freund, der Augenzeuge gewesen sein wollte – daß Japaner, als Hochländer verkleidet, in Frankreich an der Seite der Engländer kämpften. Sein Freund hatte diese asiatischen Schotten japanisch sprechen hören, wie er erklärte. Ich konnte ein Lächeln kaum unterdrücken.

Von den Offizieren des stark zusammengeschrumpften Infanteriebataillons, das in Goch, der Grenzstation, die wir soeben verlassen hatten, in Garnison lag, sprach der junge v. Boden mit großartiger Verachtung. Er hatte dort, während er auf mich wartete, vier unerträglich langweilige Tage verbracht, wie er mir geflissentlich erzählte.

»Wir sind natürlich im Krieg eine einige Armee und all das«, bemerkte er treuherzig, »aber für einen feschen Kavallerieoffizier war keiner dieser Kerls in Goch eine geeignete Gesellschaft. Schrecklich stupides Pack. Ich mochte gar nicht in die Nähe des Kasinos gehen. Ein paar habe ich einen Abend im Hotel kennengelernt, das genügte mir. Denken Sie sich, nur ein einziger von all den Kerls wußte überhaupt was von Berlin, und das war der Krüppel. Ja, wir bei der Kavallerie ...«

Aber ich hörte nicht mehr zu. Bei seinem verantwortungslosen Geplapper hatte der Junge ein Wort gebraucht, das mir nicht aus dem Kopf gehen wollte. »Der Krüppel« hatte er gesagt. Blitzartig vergegenwärtigte ich mir wieder die Szene in dem schmuddligen Hotelzimmer in Rotterdam – die in der Zugluft flackernde Kerze, die blasse Leiche auf der Erde und diese abscheuliche Frau, die da rief: »Der Dr. Grundt hat Macht und Ansehen, er kann Leute hochbringen und sie vernichten!«

Der Satz war mir vollständig aus dem Gedächtnis entschwunden gewesen und mir erst wieder eingefallen, als der junge Bursche das Wort gebraucht hatte, das wie ein elektrischer Kontakt die Verbindung wieder herstellte. Ich sah also das Bild des trübe erleuchteten Zimmers wieder vor mir. Aber auch noch ein anderes – das Bild eines großen, massigen, schwarzhaarigen Mannes mit einem Klumpfuß, der auf dem Bahnsteig in Rotterdam mühsam hinter dem Kellner Karl herhumpelte.

Das also war der Grund gewesen, daß der junge Leutnant auf dem Bahnhof in Goch sich meine Füße so aufmerksam betrachtet hatte. Der Bote, den er abholen sollte, der Träger des Dokuments, der mächtige, angesehene Mann, hatte einen Klumpfuß, und ich war ja er!

Warum hatte der junge Leutnant mich aber so bereitwillig aufgenommen, als er bemerkt hatte, daß ich keinerlei körperlichen Fehler besaß, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß ich dem Mann mit dem Klumpfuß, den ich in Rotterdam gesehen hatte, nicht die Spur ähnlich sah? Ich vermutete aufs Geratewohl, daß er Befehl hatte, eine Person abzuholen, die ihm nicht weiter bezeichnet worden war, von der er nur wußte, daß sie mit einem bestimmten Zug ankommen würde. Der Major am Bahnhof trug die Verantwortung für mich. Hatte dieser Offizier mich erst einmal dem Boten übergeben, so bestand dessen Aufgabe einzig und allein darin, mich an das unbekannte Ziel zu geleiten, zu dem uns der Sonderzug eiligst führte. Solcherart sind die Wunder der Disziplin!

Mein Begleiter war in bezug auf alles, was mich und meinen Auftrag anging, die Diskretion selber. Neugierde auf die Angelegenheiten des Nachbarn ist ein deutscher Kardinalfehler. Aber der Graf bezeugte nicht den allergeringsten Wunsch, etwas von mir oder meiner Mission zu erfahren. Ich meinerseits tat natürlich nichts, um ihn aufzuklären. Das lag ja überdies gar nicht in meiner Macht. Die Reserve, die der junge Mann an den Tag legte, war jedoch derartig betont, daß er zweifellos den Befehl erhalten hatte, das Thema nicht zu berühren.

Während der Zug durch Westfalen fuhr, durch wimmelnde Bahnhöfe, auf denen man bis zum Rand gefüllte Gepäckwagen stehen sah, und an Städten vorbei, deren Umrisse durch den Rauch Hunderter von Fabrikschornsteinen in schwarzen Dunst gehüllt waren, beschäftigten sich meine Gedanken mit jenem schwarzen Krüppel. Ich war ihm mit der einen Hälfte eines höchst kostbaren Dokuments ausgerückt, und doch hatte er nicht den Versuch unternommen, mich an der Grenze festnehmen zu lassen. Daraus folgte, daß er mich immer noch als Verbündeten ansah und von der Identität des Toten in meinem Zimmer des Hotel Sixt nichts ahnte. Der freundliche Führer hatte mir obendrein gesagt, daß die Leute, die den Rotterdamer Bahnhof nach mir »abgrasten«, scheinbar nicht wußten, wie ich eigentlich aussähe.

Sollte es also möglich sein, daß der Dr. Grundt Semlin nicht von Ansehen kannte?

Die Tatsache, daß Semlin erst kürzlich über den Ozean gekommen war, schien diese Annahme zu bestätigen.

Dann das Dokument selber. Semlin hatte eine Hälfte. Wer mochte die andere haben? Gewiß der Klumpfuß ..., der am Morgen ins Hotel hatte kommen wollen, um in Empfang zu nehmen, was ich von England mitgebracht hatte. Vielleicht war die Erklärung, die ich der Hotelbesitzerin aufs Geratewohl gegeben hatte, gar nicht so falsch gewesen; er wollte womöglich wirklich das ganze Dokument nach Berlin schaffen und sämtliche Lorbeeren einheimsen, obwohl er nur die Hälfte der gefährlichen Arbeit geleistet hatte. Das würde sein jetziges Schweigen erklären. Er verdächtigte Semlin des Verrats, nicht gegen die gemeinsame Sache, aber gegen sich!

Es sah so aus, als hätte ich freie Bahn, solange Dr. Grundt nicht in Berlin war. Vor morgen abend konnte er aber unmöglich dort eintreffen, es sei denn, daß er einen Extrazug nahm. Allein noch beängstigender als die Begegnung mit dem »mächtigen und angesehenen Manne« hing wie ein Damoklesschwert die Unterredung über meinem Kopf, die mich am Ende meiner jetzigen Reise erwartete. Die Begegnung, bei der ich Bericht zu erstatten hatte!

Der Abend kam, als wir durch die unwirtliche, sandige, mit Kiefern bestandene Landschaft um Berlin fuhren. Wir glitten in langsamerem Tempo durch die sauberen Vorstädte und durch die City selbst, auf deren hohen Gebäuden die elektrischen Lichtreklamen schon zu leuchten anfingen, stampften donnernd über das mächtige Metallnetz einer großen Brücke und verschwanden dann wieder in der immer schneller hereinbrechenden Nacht. Nach einer Weile fuhren wir wieder langsamer; es ging durch waldiges Gelände. Aus der Dunkelheit vor uns winkte uns eine Laterne entgegen, und der Zug hielt mit einem Ruck an einer kleinen Nebenstation, einem ganz winzigen Dingelchen. Eine hohe, feste Gestalt mit spitzengekröntem Helm und grauem Militärmantel stand in einsamer Größe in der Mitte des kleinen Bahnsteigs, und die zitternden Strahlen einer flackernden Gaslaterne brachen sich in seinen glänzend geputzten Schaftstiefeln.

»Da sind wir endlich!«, sagte mein Begleiter.

Ich stieg aus, meinem Schicksal entgegen.

Der junge Leutnant stand stramm vor der Gestalt auf dem Bahnsteig. Ich hörte beim Hinunterspringen das Ende eines Satzes: »Der Herr, den ich abholen sollte, Exzellenz!«

Der andere sah mich an. Es war ein großer Mann mit dunkelrotem Gesicht. Er machte keine Anstalten mich zu begrüßen, sondern sagte mit rauher Stimme: »Haben Sie die Güte, mir zu folgen, die Ordonnanzen werden für Ihr Gepäck sorgen«, und mit klirrenden Sporen ging er durch eine Art großes Vorzimmer hindurch zu einem Hinterhof, wo eine große Limousine leise ratterte. Er trat beiseite, um mir den Vortritt zu lassen, und stieg dann selber ein. Zuletzt folgte der junge Graf, der nun, seit er »die Ware abgeliefert hatte«, scheinbar keine Verantwortung mehr für mich trug. Kaum saßen wir im Wagen, als der junge Ulan sämtliche Formalitäten, die er auf dem Bahnsteig gewahrt hatte, fallen ließ und den älteren Offizier mit »Papa« anredete. Das war also der alte General v. Boden, von dem der Major erzählt hatte, der Adjutant des Kaisers und ehemalige Erzieher des Kronprinzen.

Vater und Sohn plauderten zwanglos miteinander, und ich benutzte die Gelegenheit, mir den alten Herrn genau zu betrachten. Sein Gesicht hatte eine unbeschreibliche rote Farbe und glänzte dermaßen, daß sich die kleine elektrische Lampe an der Decke dauernd auf seinen Backen spiegelte. Eine ungeheure goldene Brille mit so dicken Gläsern, daß seine Augen ganz verzerrt erschienen, saß über einer großen Habichtsnase. Er hatte seinen Helm abgenommen, um sich die Stirn zu tupfen, und ich erblickte einen hohen, kugelrunden und vollständig kahlen Schädel, der glänzend poliert und fast ebenso rot war wie sein Gesicht. Er war glatt rasiert und keineswegs jung, denn dicke Tränensäcke lagen unter seinen Augen. Man merkte es seiner Haltung an, daß er gewohnt war, Befehle zu erteilen, und ich vermutete, daß er leicht brutal werden könnte.

»Ich dachte, ich würde schon vor Verlassen der Villa Befehle erhalten«, sagte der General zu seinem Sohn, »dann hättet ihr direkt hinfahren können. Ich vermute, er will ihn hier empfangen: darum wollte er, daß er zu uns in die Villa geführt würde. Aber es ist ja immer dasselbe mit ihm. Er kann sich eben nie entschließen.« Und er brummelte etwas vor sich hin.

»Vielleicht finden wir zu Hause irgend etwas vor«, fügte er mit seiner rauhen Kasernenhof-Stimme hinzu.

Wir fuhren durch ein weißes Tor eine kleine Anfahrt hinauf und hielten vor einer langgestreckten, niedrigen Villa. Weder Vater noch Sohn hatten während der Fahrt auch nur ein Wort an mich gerichtet, und ich hatte auch nicht gewagt, sie etwas zu fragen, aber ich wußte, daß wir uns in Potsdam befanden. Der kleine Bahnhof im Wald war vermutlich Wildpark gewesen, die vom Kaiser bei seinen häufigen Reisen benutzte Privatstation, die in der Nähe des Neuen Palais lag. Alle preußischen Hofbeamten hatten Villen in Potsdam; ich war also zweifellos in einer Angelegenheit hierher gebracht worden, die das Polizeipräsidium oder die Wilhelmstraße interessierte.

In der Diele fand eine abscheuliche Szene statt. Unvermittelt fuhr der General die Ordonnanz an, die die Tür geöffnet hatte und schimpfte mit brüllender Stimme: »Kamel! Ochse! Schafskopf!«, wobei sein Gesicht und sein blanker Schädel noch röter wurden. »Gebe ich etwa Befehle, damit sie vergessen werden? Was soll denn das bedeuten? Esel, Sie ...« Er packte den Mann mit seinen weißbehandschuhten Händen an den Schultern und schüttelte ihn solange, bis dem Burschen schwarz vor den Augen geworden sein mußte. Die Ordonnanz hing bleich und schlaff in den Fäusten des alten Mannes und stammelte Entschuldigungen: »Ach, Exzellenz! Wollen Exzellenz doch bitte verzeihen ...«

Es war ein empörender Anblick! Aber er machte nicht den geringsten Eindruck auf den Sohn, der seine Mütze abnahm, den Mantel auszog, seinen Säbel abschnallte und mich in eine Art von Arbeitszimmer führte. »Diese Ordonnanzen sind solche Dickschädel«, sagte er.

»Rudi! Rudi!«, schrie da eine heisere schneidende Stimme von der Diele her. Der Leutnant lief hinaus.

»Du sollst den Kerl heute abend nach Berlin bringen. Der Befehl war die ganze Zeit hier – der Dummkopf von Heinrich hat vergessen, es zu melden. Und bis dahin sollen wir den Bonzen hierbehalten! Auch ein Vergnügen, sein Haus als Unterkunft für so einen Halunken von Detektiv hergeben zu müssen!« Soviel hörte ich, da die Tür offenstand. Dann wurde sie geschlossen, und ich hörte nichts mehr.

Nach diesen Worten empfand ich es natürlich als eine gewisse Ironie, daß der junge Ulan mich kurz darauf zum Abendessen einlud. Doch es blieb mir nichts anderes übrig als anzunehmen. Ich wußte, ich saß tief in den Maschen preußischer Disziplin gefangen, wo jeder seine Befehle bekam und sie von dem schwatzhaften Major an der Grenze angefangen bis zu dieser komischen Exzellenz, dem kaiserlichen Adjutanten hier, blind ausführen mußte. Ich war bereits ein winziges Rädchen in der großen Maschine. Ich mußte mich drehen, oder ich wurde zermalmt.

Seine Exzellenz ließ mich über diesen Punkt nicht im Zweifel. Als ich nach dringend notwendigem Waschen und Rasieren in sein Arbeitszimmer geführt wurde, empfing er mich flehend und sagte ohne Einleitung: »Sie haben Befehl, bis zehn Uhr abends hierzubleiben, dann werden Sie von Leutnant Graf Boden nach Berlin gebracht werden. Ich kenne Sie nicht und weiß nichts von Ihrem Auftrag, aber ich habe in bezug auf Sie Befehle bekommen, die ich auszuführen gedenke. Sie werden also hier mit uns zu Abend essen. Wenn Sie die Persönlichkeit gesprochen haben, zu der Sie heute abend geführt werden, wird Sie Leutnant Graf Boden zum Bahnhof Spandau begleiten, wo ein Sonderzug bereit stehen wird, der Sie zur Grenze zurückbringt. Ich bitte Sie, sich darüber klar zu sein, daß der Leutnant für die Ausführung dieser Befehle verantwortlich ist und um jeden Preis danach handeln wird. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«

Das Benehmen des alten Herrn war unbeschreiblich drohend. »Das ist die Maschine, die wir zerschmettern wollen«, hatte ich mir im stillen gesagt, als ich ihn seinen Diener anschnauzen hörte und wiederholte es mir jetzt noch einmal. Zum General aber sagte ich: »Vollkommen, Exzellenz!«

»Dann bitte ich zu Tisch«, sagte der General.

Es war ein düsteres Mahl. Eine welke und zusammengeschrumpfte Frauensperson, der ich nicht vorgestellt wurde – irgendeine Verwandte, die dem General den Haushalt führte, vermutlich – war die Einzige, die außer uns noch anwesend war. Sie machte überhaupt nicht den Mund auf, außer einmal, als sie mit weit aufgerissenen, vor Entsetzen glasigen Augen der Ordonnanz irgendeine Anweisung zuflüsterte, die sich auf Essen oder Wein für den General bezog. Wir saßen in einem bedrückenden Zimmer mit dunkelbrauner Tapete, an der zur Zierde verstaubte Hirschgeweihe hingen. Ein großer, grüner Kachelofen beherrschte den ganzen Raum. Der General und sein Sohn aßen reichlich von jedem Gang, während die Dame nur immer an den Speisen nippte. Ich für meine Person konnte aus lauter Angst so gut wie gar nichts essen. Jeder Nerv meines Körpers zitterte bei dem Gedanken an den Abend, der mir bevorstand. Wenn sich die Unterredung nicht vermeiden ließ, dann wollte ich Herrn v. Boden lieber auskneifen, als unverrichteter Dinge zur Grenze zurückkehren. Ich hatte doch nicht all diese Gefahren bestanden, um wieder nach Hause geschickt zu werden, ohne wenigstens den Versuch zu machen, Francis zu finden. Außerdem wollte ich probieren, in den Besitz der zweiten Briefhälfte zu gelangen.

Es gab ganz ausgezeichneten Rheinwein, und ich trank reichlich davon. Ebenso der General, mit dem Erfolg, daß seine Laune besser geworden zu sein schien. Die bläulichrot aus seinen Schläfen hervortretenden Adern verkündeten endlich, daß er gesättigt war. Er ließ sich herab, mir eine Zigarre anzubieten, aber es war die schlechteste, die ich jemals geraucht habe.

Ich rauchte schweigend, während Vater und Sohn von Geschäften redeten. Die Frauensperson war verschwunden. Wie ich zu meiner Überraschung feststellte, waren beide Männer wütende und erbitterte Gegner Hindenburgs. Inzwischen habe ich aber erfahren, daß die meisten aus der alten Schule der preußischen Armee so eingestellt sind. Von England sprachen sie wenig: ihre Gedanken schienen sich auf Rußland, als den Erzfeind, zu konzentrieren. Ihr Vertrauen setzten sie in Falkenhayn und Mackensen. Für Hindenburg waren ihnen keine Worte zu stark. Sie hielten in keiner Weise mit ihrer Kritik zurück, indem sie von der »Schwäche« des Kaisers sprachen, der ihn zur Macht gelangen ließ.

Das Brummen eines Wagens draußen unterbrach unser Beisammensein. In dem Bewußtsein, daß ich vor dieser großen militärischen Leuchte nur ein demütiger Diener war, dankte ich dem General mit schuldigem Respekt für seine Gastfreundschaft. Dann gingen der Graf und ich zum Wagen hinunter und sausten gleich darauf in die Nacht hinaus.

Wir fuhren vom Westen aus in Berlin ein, schien mir, aber dann bogen wir in südlicher Richtung ab und befanden uns bald im Geschäftsviertel der Stadt, das jetzt so gut wie menschenleer war. Dann sah ich Lampen sich im Wasser spiegeln, und im nächsten Augenblick hatte der Wagen auf einer Brücke über einen Kanal oder Fluß haltgemacht. Mein Begleiter sprang hinaus und geleitete mich an eine kleine Gittertür, hinter der sich ein riesiges Gebäude hindehnte. Der Wagen fuhr davon, in die Dunkelheit.

Die Gittertür stand offen. Ein paar Schritte weit davon entfernt, erhob sich ein schmaler, schlanker Turm mit spitzem Dach, der aus der Ecke des Gebäudes hervorragte. In dem Turm befand sich eine Tür, die den kräftigen Druck meines Begleiters mühelos nachgab. Im selben Augenblick schlug eine Uhr im Inneren des Gebäudes zweimal – halb elf.

Die Tür führte in eine kleine, von elektrischem Licht strahlend erhellte Vorhalle. Dort wartete ein Kammerdiener auf uns, ein schöner, hochaufgeschossener bärtiger Mensch in einer Art grüner Jägeruniform.

»So, Payer!«, sagte der junge Ulan, »hier ist der Herr. Ich bin nachher am Westausgang, Sie werden ihn selber zum Wagen zurückbringen.«

»Jawohl, Herr Graf«, antwortete der Mann in Grün, und der Leutnant verschwand in die Nacht hinaus.

Ein entsetzlicher, ein unglaublicher Verdacht, der mich gleich beim Aussteigen aus dem Auto befallen hatte, huschte mir jetzt wieder durch den Kopf. Kannte ich dieses große, schwarze Gebäude mit dem schlanken Turm an der Ecke denn nicht?

Mechanisch folgte ich dem Mann in Grün. Mit jedem Schritt verdichteten sich meine bösen Vorahnungen, und bald wurden sie zur Gewißheit. Es ging eine schmale Wendeltreppe hinauf, dann einen langen, breiten Korridor entlang, der mit üppigen Stoffen tapeziert war und dessen polierter Parkettboden im matten Lichtschein schimmerte, dann durch eine prächtige Flucht goldverzierter Gemächer mit alten Bildern und prunkvollem Mobiliar ... hier ein Lakai mit gepuderte Perücke, der am Treppenabsatz gähnte, dort eine Schildwache in feldgrau unbeweglich vor einer Tür ... ich befand mich im Berliner Königlichen Schloß.

Das Schloß schien zu schlafen. Tiefste Stille schwebte über allen Räumen. Überall waren die Lichter trübe, die Treppen fielen ins leere Nichts hinab, die Korridore mündeten in einsames Dunkel. Ab und zu kam ein Bedienter in Livree auf Zehenspitzen an uns vorbei, oder ein Offizier verschwand geräuschlos – bis auf leises Sporengeklirr – um eine Ecke.

Mir schien, als durchschritten wir Meilen von Schweigen und Dämmerung. Die ganze Zeit über hämmerte mir das Blut in den Schläfen, und meine Kehle wurde trocken bei dem Gedanken an die Prüfung, die mir bevorstand. Vor wen war ich wohl so heimlich, mitten in der Nacht, befohlen?

Wir gingen jetzt durch einen breiten, freundlichen Gang, der mit hellbrauner Eiche getäfelt war und rote Vorhänge hatte. Nach der Verlassenheit der Staatsgemächer schien dieser behagliche Korridor wenigstens in irgendeine menschliche Wohnung zu führen. Ein riesengroßer Kerl in feldgrauer Uniform mit einem komischen silbernen Schild, das an einer Kette um seinen Hals hing, ging den Gang auf und ab, ohne daß seine Soldatenstiefel auf dem weichen, dicken Teppich, mit dem der Boden belegt war, einen Laut verursachten.

Der Mann in Grün machte vor der Tür Halt. Er hob eine Hand Stille gebietend in die Höhe, neigte dann den Kopf und lauschte. Einen Augenblick lang herrschte vollkommenstes Schweigen. Kein einziger Laut war im ganzen Schloß hörbar. Dann klopfte der Mann leise an und wurde eingelassen. Ich aber blieb draußen.

Einen Augenblick später sprang die Tür wieder auf. Ein großer, eleganter Herr mit grauem Haar und jenem unbestimmten Etwas, das auf gute Erziehung schließen läßt, und das man bei allen findet, die ihr ganzes Leben am Hofe zugebracht haben, kam eilig herausgestürzt. Er sah blaß und sorgenvoll aus.

Als er mich sah, zuckte er jäh zurück.

»Doktor Grundt? Wo ist Doktor Grundt?«, fragte er, und seine Augen fielen auf meine Füße. Dann hob er sie wieder zu meinem Gesicht.

Der Soldat war außer Hörweite. Er stand regungslos wie eine Bildsäule am Ende des Korridors. Abgesehen von ihm und uns war der Korridor menschenleer.

Wieder sprach der ältere Herr, und seine Stimme verriet seine Besorgnis. »Wer sind Sie?«, flüsterte er. »Was haben Sie mit Doktor Grundt gemacht? Warum ist er nicht gekommen?«

Ich wagte kühn den Sprung. »Ich bin Semlin«, sagte ich.

»Semlin«, wiederholte der andere. »Ach, ja! Die Botschaft in Washington hat von Ihnen geschrieben – aber Grundt sollte doch kommen ...«

»Hören Sie zu«, sagte ich, »Grundt konnte nicht kommen. Wir haben uns trennen müssen, und er hat mich vorausgeschickt ...«

»Aber ... aber ...« – der Mann stotterte jetzt vor Angst – »... ist es Ihnen denn gelungen?«

Ich nickte.

Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

»Peinlich, sehr peinlich, diese Änderung«, sagte er. »Sie werden alles erklären müssen. Ausführlich. Warten Sie hier einen Augenblick.«

Er kehrte ins Zimmer zurück.

Wieder stand ich da und wartete in dem totenstillen Gang, und mir war, als befände ich mich in einer Welt, die dem bösen Kampf der Nationen weit entrückt war.

»Pst, Pst!« Der ältere Herr stand in der offenen Tür. Er führte mich durch ein behagliches Zimmer, das angenehm nach Ledermöbeln roch, zu einer Tür. Die öffnete er, und wir standen vor einer zweiten. Da klopfte er an.

»Herein!«, rief eine Stimme, eine strenge, metallene Stimme.

Mein Begleiter drückte auf die Klinke, öffnete die Tür und schob mich ins Zimmer. Die Tür wurde hinter mir geschlossen.


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