Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Viertes Kapitel

Etwas, das man ohne Divination vorhersehen konnte

Agathon hatte zwar viel früher zu leben angefangen, als es gemeiniglich geschieht; aber er war doch noch lange nicht alt genug, um sich von der Welt gänzlich zurückzuziehen. Indessen hielt er sich, nachdem er schon zu zweien malen eine nicht unansehnliche Rolle auf dem Schauplatz des öffentlichen Lebens gespielt, und sie für einen jungen Mann gut genug gespielt hatte, berechtiget, so lange er keinen besondern Beruf erhalten würde, seiner Nation zu dienen, oder so lange sie seiner Dienste nicht schlechterdings vonnöten hätte, sich in den Zirkel des Privat-Lebens zurückzuziehen; und hierin stimmten die Grundsätze des weisen Archytas völlig mit seiner Art zu denken überein. »Ein Mann von mehr als gewöhnlicher Fähigkeit«, sagte Archytas, »hat zu tun genug, an seiner eigenen Besserung und Vervollkommnung zu arbeiten; er ist am geschicktesten zu dieser Beschäftigung, nachdem er durch eine Reihe beträchtlicher Erfahrungen sich selbst und die Welt kennen zu lernen angefangen hat; und indem er solchergestalt an sich selbst arbeitet, arbeitet er würklich für die Welt, indem er dadurch um soviel geschickter wird, seinen Freunden, seinem Vaterland, und den Menschen überhaupt, nützlich zu sein, und es sei nun mit vielem oder wenigem Gepränge, in einem größern oder kleinern Zirkel, auf eine öffentliche oder nicht so merkliche Art, zum allgemeinen Besten des Systems mitzuwürken.«

Dieser Maxime zufolge beschäftigte sich Agathon, nachdem er zu Tarent einheimisch zu sein angefangen hatte, hauptsächlich mit den mathematischen Wissenschaften, mit Erforschung der Kräfte und Eigenschaften der natürlichen Dinge, mit der Astronomie, kurz mit demjenigen Teil der spekulativen Philosophie, welche uns, mit Hülfe unsrer Sinnen und behutsamer Vernunft-Schlüsse zu einer zwar mangelhaften, aber doch zuverlässigen Erkenntnis der Natur und ihrer majestätisch-einfältigen, weisen und wohltätigen Gesetze führt. Er verband mit diesen erhabenen Studien, worin ihm die Anleitung des Archytas vorzüglich zu statten kam, das Lesen der besten Schriftsteller von allen Klassen, insonderheit der Geschichtschreiber, und das Studium des Altertums, welches er, so wie die Verbal-Kritik, für eine der edelsten und nützlichsten, oder für eine der nichtswürdigsten Spekulationen hielt, je nachdem es auf eine philosophische oder bloß mechanische Art getrieben werde. Nicht selten setzte er diese anstrengenden Beschäftigungen bei Seite, um, wie er sagte, mit den Musen zu scherzen; und der natürliche Schwung seines Genie machte ihm diese Art von Gemüts-Ergötzung so angenehm, daß er Mühe hatte sich wieder von ihr loszureißen. Auch die Malerei und die Musik, die Schwestern der Dichtkunst, deren höhere Theorie sich in den geheimnisvollesten Tiefen der Philosophie verliert, hatten einen Anteil an seinen Stunden, und halfen ihm, das allzueinförmige in den Beschäftigungen seines Geistes, und die schädlichen Folgen, die aus der Einschränkung desselben auf eine einzige Art von Gegenständen entspringen, zu vermeiden.

Die häufigen Unterredungen, welche er mit dem weisen Archytas hatte, trugen viel und vielleicht das Meiste bei, seinen Geist in den tiefsinnigern Spekulationen über die metaphysischen Gegenstände, von Abwegen zurückzuhalten. Agathon, welcher ehmals, da alles in seiner Seele zur Empfindung wurde, seinen Beifall zu leicht überraschen ließ; fand itzt, seitdem er mit kälterm Blute philosophierte, beinahe alles zweifelhaft; die Zahl der menschlichen Begriffe und Meinungen, welche die Probe einer ruhigen, gleichgültigen und genauen Prüfung aushielten, wurde alle Tage kleiner für ihn; die Systeme der dogmatischen Weisen verschwanden nach und nach, und zerflossen vor den Strahlen der prüfenden Vernunft, wie die Luft-Schlösser und Zauber-Gärten, welche wir zuweilen an Sommer-Morgen im düftigen Gewölke zu sehen glauben, vor der aufgehenden Sonne. Der weise Archytas billigte den bescheidnen Skeptizismus seines Freundes; aber indem er ihn von allzukühnen Reisen im Lande der Ideen zu den wenigen einfältigen, aber desto schätzbarern Wahrheiten zurückführte, welche der Leitfaden zu sein scheinen, an welchem uns der allgemeine Vater der Wesen durch diesen Labyrinth des Lebens sicher hindurchführen will – verwahrte er ihn vor dieser gänzlichen Ungewißheit des Geistes, welche eine eben so große Unentschlossenheit und Mutlosigkeit des Willens nach sich zieht, und dadurch eine Quelle so vieler schädlicher Folgen für die Tugend und Religion, und also für die Ruhe und Glückseligkeit unsers Lebens wird, daß der Zustand des bezaubertesten Enthusiasten dem Zustand eines solchen Weisen vorzuziehen ist, der aus immerwährender Furcht zu irren, sich endlich gar nichts mehr zu bejahen oder zu verneinen getraut. In der Tat gleicht die Vernunft in diesem Stück ein wenig dem Doktor Peter Rezio von Aguero; sie hat gegen alles, womit unsre Seele genährt werden soll, soviel einzuwenden, daß diese endlich eben sowohl aus Inanition verschmachten müßte, wie die unglücklichen Statthalter der Insel Barataria bei der Diät, wozu sie das verwünschte Stäbchen ihres allzuskrupulosen Leibarztes verurteilte. Das beste ist in diesem Falle, sich wie Sancho zu helfen. Der Instinkt und dieses am wenigsten betrügliche Gefühl des Wahren und Guten, welches die Natur allen Menschen zugeteilt hat, können uns am besten sagen, woran wir uns halten sollen; und dahin müssen, früher oder später, die größesten Geister zurückkommen, wenn sie nicht das Schicksal haben wollen, wie die Taube des Altvaters Noah allenthalben herumzuflattern und nirgends Ruhe zu finden.

Bei allen diesen manchfaltigen Beschäftigungen, womit unser ehmaliger Held seine Muße zu seinem eigenen Vorteil erfüllte, blieben ihm doch viele Stunden übrig, welche der Freundschaft und dem geselligen Vergnügen gewidmet waren – und für seine Ruhe nur allzuviele, in denen eine Art von zärtlicher Schwermut, deren er sich nicht erwehren konnte, seine Seele in die bezauberten Gegenden zurückführte, deren wir im vorigen Kapitel schon Erwähnung getan haben. In einer solchen Gemüts-Disposition liebt man vorzüglich den Aufenthalt auf dem Lande, wo man Gelegenheit hat, seinen Gedanken ungestörter nachzuhängen, als unter den Pflichten und Zerstreuungen des geselligern Stadt-Lebens. Agathon zog sich also öfters in ein Landgut zurück, welches sein Bruder Critolaus, ungefähr zwo Stunden von Tarent besaß, und wo er sich in seiner Gesellschaft zuweilen mit der Jagd belustigte. Hier geschah es einsmals, daß sie von einem Ungewitter überrascht wurden, welches wenigstens so heftig war, als dasjenige, wodurch, auf Veranstaltung zwoer Göttinnen, Aeneas und Dido in die nämliche Höhle zusammengescheucht wurden –

Aber da zeigte sich nirgends keine wirtschaftliche Höhle, welche ihnen einigen Schirm angeboten hätte; und das schlimmste war, daß sie sich von ihren Leuten verloren hatten, und eine geraume Zeit nicht wußten, wo sie waren; ein Zufall, der an sich selbst wenig außerordentliches hat, aber wie man sehen wird, eines der glücklichsten Abenteuer veranlassete, das unserm Helden jemals zugestoßen ist. Nachdem sie sich endlich aus dem Walde herausgefunden hatten, erkannte Critolaus die Gegend wieder; aber er sah zugleich, daß sie etliche Stunden weit von Haus entfernt waren. Das Ungewitter wütete noch immer fort, und es fand sich kein näherer Ort, wohin sie ihre Zuflucht nehmen konnten, als ein einsames Landhaus, welches seit mehr als einem Jahr von einer fremden Dame von sehr sonderbarem Charakter bewohnt wurde. Man vermutete aus einigen Umständen, daß sie die Witwe eines Mannes von Ansehen und Vermögen sein müsse; aber es war bisher unmöglich gewesen, ihren Namen und vorigen Aufenthalt, oder was sie bewogen haben könnte, ihn zu verändern, und in einer gänzlichen Abgeschiedenheit von der Welt zu leben, auszuforschen. Das Gerüchte sagte Wunder von ihrer Schönheit; indessen war doch niemand der sich rühmen konnte, sie gesehen zu haben. Überhaupt hatte man eine Zeit lang vieles und desto mehr von ihr gesprochen, je weniger man wußte; allein da sie fest entschlossen schien, sich nichts darum zu bekümmern; so hatte man endlich auf einmal aufgehört von ihr zu reden, und es der Zeit überlassen, das Geheimnis, das unter dieser Person und ihrer sonderbaren Lebens-Art verborgen sein möchte, zu entdecken. »Vielleicht«, sagte Critolaus, »ist es eine zweite Artemisia, die sich, ihrem Schmerz ungestört nachzuhängen, in dieser Einöde lebendig begraben will. Ich bin schon lange begierig gewesen sie zu sehen; dieser Sturm hoff' ich, soll uns Gelegenheit dazu geben. Sie kann uns eine Zuflucht in ihrem Hause nicht versagen; und wenn wir nur einmal drinnen sind, so wollen wir wohl Mittel finden, vor sie zu kommen, ob wir gleich die ersten in dieser Gegend wären, denen dieses Glück zu Teil würde.« Man kann sich leicht vorstellen, daß Agathon, so gleichgültig er auch seit seiner Entfernung von der schönen Danae gegen die Damen war, dennoch begierig werden mußte, eine so außerordentliche Person kennen zu lernen. Sie kamen vor dem äußersten Tor eines Hauses an, welches einem verwünschten Schlosse ähnlicher sah, als einem Landhause in Jonischem oder Corinthischem Geschmacke. Das schlimme Wetter, ihr anhaltendes Bitten, und vielleicht auch ihre gute Miene brachte zuwegen, daß sie eingelassen wurden. Einige alte Sklaven führten sie in einen Saal, wo man sie mit vieler Freundlichkeit nötigte, alle die kleinen Dienste anzunehmen, welche sie in dem Zustande, worin sie waren, nötig hatten. Die Figur dieser Fremden schien die Leute des Hauses in Verwundrung zu setzen, und die Meinung von ihnen zu erwecken, daß es Personen von Bedeutung sein müßten; aber Agathon, dessen Aufmerksamkeit bald durch einige Gemälde angezogen wurde, womit der Saal ausgeziert war, wurde nicht gewahr, daß er von einer Sklavin mit noch weit größerer Aufmerksamkeit betrachtet wurde. Diese Sklavin, (wie Critolaus in der Folge erzählte, denn anfangs hielt er's bloß für eine Würkung der Schönheit unsers Helden) schien einer Person gleich zu sehen, welche nicht weiß, ob sie ihren Augen trauen soll; und nachdem sie ihn einige Minuten mit verschlingenden Blicken angestarrt hatte, verlor sie sich auf einmal aus dem Saal. Sie lief so hastig dem Zimmer ihrer Gebieterin zu, daß sie ganz außer Atem kam. »Und wer meinen sie wohl, gnädige Frau«, keuchte sie, »daß unten im Saal ist? Hat es ihnen ihr Herz nicht schon gesagt? – Diana sei mir gnädig! Was für ein Zufall das ist! Wer hätte sich das nur im Traum einbilden können? Ich weiß vor Erstaunen nicht wo ich bin –« »In der Tat deucht mich, du bist nicht recht bei Sinnen«, sagte die Dame ein wenig betroffen; »und wer ist denn unten im Saal?« – »O! bei den Göttinnen! ich hätte es bei nahe meinen eignen Augen nicht geglaubt – aber ich erkannte ihn auf den ersten Blick, ob er gleich ein wenig stärker worden ist; es ist nichts gewisser – er ist es, er ist es!« – »Plage mich nicht länger mit deinem geheimnisvollen Galimathias«, rief die Dame, immer mehr bestürzt; »rede Närrin, wer ist es?« – »Aber sie erraten doch auch gar nichts, gnädige Frau – wer ist es? – Ich sage ihnen, daß Agathon unten im Saal ist, ja Agathon, es kann nichts gewisser sein – er selbst, oder sein Geist, eines von beiden unfehlbar, denn die Mutter die ihn geboren hat, kann ihn nicht besser kennen, als ich ihn erkannt habe, sobald er den Mantel von sich warf, worin er anfangs eingewickelt war« – Das gute Mädchen würde noch länger in diesem Ton fortgeplaudert haben, denn ihr Herz überfloß von Freude – wenn sie nicht auf einmal wahrgenommen hätte, daß ihre Gebieterin ohnmächtig auf ihren Sopha zurückgesunken war. Sie hatte einige Mühe sie wieder zu sich selbst zu bringen; endlich erholte sich die schöne Dame wieder, aber nur, um über sich selbst zu zörnen, daß sie sich so empfindlich fand. »Sie machen einem ja ganz bange, Madam«, rief die Sklavin – »wenn sie schon bei seinem bloßen Namen in Ohnmacht fallen, wie wird es ihnen erst werden, wenn sie ihn selbst sehen? – Soll ich gehen, und ihn geschwinde heraufholen?« – »Ihn heraufholen?« versetzte die Dame; »nein wahrhaftig; ich will ihn nicht sehen!« – »Sie wollen ihn nicht sehen, Madam? Was für ein Einfall! Aber es kann nicht ihr Ernst sein! O! wenn sie ihn nur sehen sollten – er ist so schön – so schön als er noch nie gewesen ist, deucht mich; ich hätte ihn mit den Augen aufessen mögen; sie müssen ihn sehen, Madam – das wäre ja unverantwortlich, wenn sie ihn wieder fortgehen lassen wollten, ohne daß er sie gesehen hätte – wofür hätten sie sich dann –« »Schweige, nichts weiter«, rief die Dame; »verlaß mich – aber untersteh dich nicht wieder in den Saal hinunter zu gehen; wenn er es ist, so will ich nicht, daß er dich erkennen soll; ich hoffe doch nicht, daß du mich schon verraten haben solltest?« – »Nein, Madam«, erwiderte die Vertraute; »er hat mich noch nicht wahrgenommen, denn er schien ganz in die Betrachtung der Gemälde vertieft, und mich deuchte, ich hörte ihn ein oder zweimal seufzen; vermutlich –« »Du bist nicht klug«, fiel ihr die Dame ins Wort; »verlaß mich – ich will ihn nicht sehen, und er soll nicht wissen, in wessen Hause er ist; wenn er's erfährt, so hast du eine Freundin verloren« – die Sklavin entfernte sich also, in Hoffnung, daß ihre Gebieterin sich wohl eines bessern besinnen würde, und – die schöne Danae blieb allein.


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