Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Sechstes Kapitel

Ein Gespräch zwischen Hippias und seinem Sklaven

Hippias: »Du scheinst in Gedanken vertieft, Callias?«

Agathon: »Ich glaubte allein zu sein.«

Hippias: »Ein andrer an deiner Stelle würde sich die Freiheit meines Hauses besser zu Nutze machen. Doch vielleicht gefällst du mir um dieser Zurückhaltung willen nur desto besser. Aber mit was für Gedanken vertreibst du dir die Zeit, wenn man fragen darf?«

Agathon: »Die allgemeine Stille, der Mondschein, die rührende Schönheit der schlummernden Natur, die mit den Ausdünstungen der Blumen durchwürzte Nachtluft, tausend angenehme Empfindungen, deren liebliche Verwirrung meine Seele trunken machte, setzte sie in eine Art von Entzückung, worinnen ein andrer Schauplatz von unbekannten Schönheiten sich vor mir auftat; es war nur ein Augenblick, aber ein Augenblick, den ich um eines von den Jahren des Königs von Persien nicht vertauschen wollte.«

Hippias (lächelt.)

Agathon: »Dieses brachte mich hernach auf die Gedanken, wie glücklich der Zustand der Geister sei, die den groben tierischen Leib abgelegt haben, und im Anschauen des wesentlichen Schönen, des Unvergänglichen, Ewigen und Göttlichen, Jahrtausende durchleben, die ihnen nicht länger scheinen als mir dieser Augenblick; und in den Betrachtungen, denen ich hierüber nachhing, bin ich von dir überraschet worden.«

Hippias: »Du schliefst doch nicht, Callias; du hast wie ich sehe, mehr Talente als du nötig hast; du kannst auch wachend träumen?«

Agathon: »Es gibt vielerlei Arten von Träumen, und bei einigen Menschen scheint ihr ganzes Leben Traum zu sein; wenn dieses Träume sind, so sind sie wenigstens angenehmer als alles, was ich in dieser Zeit wachend hätte erfahren können.«

Hippias: »Du gedenkest also vielleicht einer von diesen Geistern zu werden, die du so glücklich preisest?«

Agathon: »Ich hoff' es zu werden, und würde ohne diese Hoffnung mein Dasein für kein Gut achten.«

Hippias: »Besitzest du etwan ein Geheimnis, körperliche Wesen in geistige zu erhöhen, einen Zaubertrank von der Art derjenigen, womit die Medeen und Circen der Dichter so wunderbare Verwandlungen zuwege bringen?«

Agathon: »Ich verstehe dich nicht, Hippias.«

Hippias: »So will ich deutlicher sein. Wenn ich anders dich verstanden habe, so hältst du dich für einen Geist, der in einen tierischen Leib eingekerkert ist?«

Agathon: »Wofür sollt ich mich sonst halten?«

Hippias: »Sind die vierfüßigen Tiere, die Vögel, die Fische, die Gewürme, auch Geister, die in einen tierischen Leib eingeschlossen sind?«

Agathon: »Vielleicht.«

Hippias: »Und die Pflanzen?«

Agathon: »Vielleicht auch diese.«

Hippias: »Du bauest also deine Hoffnung auf ein Vielleicht. Wenn die Tiere vielleicht auch nicht Geister sind, so bist du vielleicht eben so wenig einer; denn das ist einmal gewiß, daß du ein Tier bist. Du entstehest wie die Tiere, wächsest wie sie, hast ihre Bedürfnisse, ihre Sinnen, ihre Leidenschaften, wirst erhalten wie sie, vermehrest dich wie sie, stirbst wie sie, und wirst wie sie wieder zu einem bißchen Wasser und Erde, wie du vorher gewesen warst. Wenn du einen Vorzug vor ihnen hast, so ist es eine schönere Gestalt, ein paar Hände, mit denen du mehr ausrichten kannst als ein Tier mit seinen Pfoten, eine Bildung gewisser Gliedmaßen, die dich der Rede fähig macht, und ein lebhafterer Witz, der von einer schwächern und reizbarern Beschaffenheit deiner Fibern herkommt; und der doch alle Künste, womit wir uns so groß zu machen pflegen, den Tieren abgelernt hat.«

Agathon: »Wir haben also sehr verschiedene Begriffe von der menschlichen Natur, du und ich.«

Hippias: »Vermutlich, weil ich sie für nichts anders halte, als wofür meine Sinnen und eine Beobachtung ohne Vorurteile sie mir geben. Doch ich will freigebig sein; ich will dir zugeben, dasjenige was in dir denkt sei ein Geist, und wesentlich von deinem Körper unterschieden. – Worauf gründest du die Hoffnung, daß dieser Geist noch denken werde, wenn dein Leib zerstört sein wird? Was für eine Erfahrung hast du, eine Meinung zu bestätigen, die von so vielen Erfahrungen bestritten wird? Ich will nicht sagen, daß er zu nichts werde; aber dein Leib verliert durch den Tod die Form die ihn zu deinem Leibe machte; woher hoffest du, daß dein Geist die Form nicht verlieren werde, die ihn zu deinem Geiste macht?«

Agathon: »Weil ich mir unmöglich vorstellen kann, daß der Oberste Geist, dessen Geschöpfe oder Ausflüsse die übrigen Geister sind, ein Wesen zerstören werde, das er fähig gemacht hat, so glücklich zu sein, als ich es schon gewesen bin.«

Hippias: »Ein neues Vielleicht? Woher kennst du diesen obersten Geist?«

Agathon: »Woher kennst du den Phidias, der diesen Amor gemacht hat?«

Hippias: »Weil ich ihm zusah wie er ihn machte; denn vielleicht könnt eine Bildsäule auch entstehn, ohne daß sie von einem Künstler gemacht würde.«

Agathon: »Wie so?«

Hippias: »Eine ungefähre Bewegung ihrer kleinsten Elemente könnte diese Form endlich hervorbringen.«

Agathon: »Eine regellose Bewegung ein regelmäßiges Werk?«

Hippias: »Warum das nicht? Du kannst im Würfelspiel von ungefähr alle drei werfen. So gut als dieses möglich ist, könntest du auch unter etlichen Billionen von Würfen einen werfen, wodurch eine gewisse Anzahl Sandkörner in eine zirkelrunde Figur fallen würde. Die Anwendung ist leicht zu machen.«

Agathon: »Ich verstehe dich. Aber es bleibt allemal unendlich unwahrscheinlich, daß die ungefähre Bewegung der Elemente nur eine Muschel, deren so unzählich viele an jenem Ufer liegen, hervorbringen; und die Ewigkeit selbst scheint nicht lange genug zu sein, nur diese Erdkugel, diesen kleinen Atomen des ganzen Weltalls auf solche Weise entstehen zu machen.«

Hippias: »Es ist genug, daß unter unendlich vielen ungefähren Bewegungen, die nichts regelmäßiges und dauerhaftes hervorbringen, eine möglich ist, die eine Welt hervorbringen kann. Dieses setzt der Wahrscheinlichkeit deiner Meinung ein Vielleicht entgegen, wodurch sie auf einmal entkräftet wird.«

Agathon: »So viel als das Gewicht einer unendlichen Last, durch die Hinwegnahme eines einzigen Sandkorns.«

Hippias: »Du hast vergessen, daß eine unendliche Zeit in die andere Waagschale gelegt werden muß. Doch ich will diesen Einwurf fahren lassen, ob er gleich weiter getrieben werden kann; was gewinnt deine Meinung dadurch? Vielleicht ist die Welt immer in der allgemeinen Verfassung gewesen, worin sie ist? – Vielleicht ist sie selbst das einzige Wesen, das durch sich selbst bestehet? Vielleicht ist der Geist von dem du sagtest, durch die wesentliche Beschaffenheit seiner Natur gezwungen, diesen allgemeinen Weltkörper nach den Gesetzen einer unveränderlichen Notwendigkeit zu beleben? Und gesetzt, die Welt sei, wie du meinest, das Werk eines verständigen und freien Entschlusses; vielleicht hat sie viele Urheber? Mit einem Worte, Callias, du hast viele mögliche Fälle zu vernichten, eh du nur das Dasein deines obersten Geistes außer Zweifel gesetzt hast.«

Agathon: »Ich brauche zu meiner eignen Beruhigung keinen so weitläufigen Weg. Ich sehe die Sonne, sie ist also; ich empfinde mich selbst, ich bin also; ich empfinde, ich sehe diesen obersten Geist, er ist also.«

Hippias: »Ein Träumender, ein Kranker, ein Wahnwitziger sieht; und doch ist das nicht, was er sieht.«

Agathon: »Weil er in diesem Zustande nicht recht sehen kann.«

Hippias: »Wie kannst du beweisen, daß du nicht gerad in diesem Punkt krank bist? Frage die Ärzte; man kann in einem einzigen Stück wahnwitzig, und in allen übrigen klug sein; so wie eine Laute bis auf eine einzige falsche Saite wohl gestimmt sein kann. Der rasende Ajax sieht zwo Sonnen, ein doppeltes Thebe. Was für ein untrügliches Kennzeichen hast du, das Wahre von dem was nur scheint; das was du würklich empfindest, von dem was du dir nur einbildest; das was du richtig empfindest, von dem was eine verstimmte Nerve dich empfinden macht, zu unterscheiden? Und wie, wenn alle Empfindung betröge, und nichts von allem was ist, so wäre, wie du es empfindest?«

Agathon: »Darum bekümmere ich mich wenig. Gesetzt, die Sonne sei nicht so, wie ich sie sehe und fühle; für mich ist sie darum nicht minder so, wie ich sie sehe und fühle, und das ist für mich genug. Ihr Einfluß in das System aller meiner übrigen Empfindungen ist darum nicht weniger würklich, wenn sie gleich nicht so ist, wie sie sich meinen Sinnen darstellt, ja wenn sie gar nicht ist.«

Hippias: »Die Anwendung hievon, wenn dirs beliebt?«

Agathon: »Die Empfindung, die ich von dem höchsten Geiste habe, hat in das innerliche System des meinigen den nämlichen Einfluß, den die Empfindung die ich von der Sonne habe, auf mein körperliches System hat.«

Hippias: »Wie so?«

Agathon: »Wenn sich mein Leib übel befindet, so vermehrt die Abwesenheit der Sonne das Unbehagliche dieses Zustands. Der wiederkehrende Sonnenschein belebt, ermuntert, erquicket meinen Körper wieder, und ich befinde mich wohl, oder doch erleichtert. Eben diese Würkung tut die Empfindung des alles beseelenden Geistes auf meine Seele; sie erheitert, sie beruhiget, sie ermuntert mich; sie zerstreut meinen Unmut, sie belebt meine Hoffnung; sie macht, daß ich in einem Zustande nicht unglücklich bin, der mir ohne sie unerträglich wäre.«

Hippias: »Ich bin also glücklicher als du, weil ich alles dieses nicht nötig habe. Erfahrung und Nachdenken haben mich von Vorurteilen frei gemacht; ich genieße alles was ich wünsche, und wünsche nichts, dessen Genuß nicht in meiner Gewalt ist. Ich weiß also wenig von Unmut und Sorgen. Ich hoffe wenig, weil ich mit dem Genuß des Gegenwärtigen zufrieden bin. Ich genieße mit Mäßigung, damit ich desto länger genießen könne, und wenn ich einen Schmerz fühle, so leide ich mit Geduld, weil dieses das beste Mittel ist, seine Dauer abzukürzen.«

Agathon: »Und worauf gründest du deine Tugend? Womit nährest und belebest du sie? Womit überwindest du die Hinternisse, die sie aufhalten; die Versuchungen, die von ihr ablocken, das ansteckende der Beispiele, die Unordnung der Begierden, und die Trägheit, welche die Seele so oft erfährt, wenn sie sich erheben will?«

Hippias: »O Jüngling, lange genug hab ich deinen Ausschweifungen zugehört. In was für ein Gewebe von Hirngespinsten hat dich die Lebhaftigkeit deiner Einbildungskraft verwickelt? Deine Seele schwebt in einer beständigen Bezauberung, in einer Abwechselung von quälenden und entzückenden Träumen, und die wahre Beschaffenheit der Dinge bleibt dir so verborgen, als die sichtbare Gestalt der Welt einem Blindgebornen. Ich bedaure dich, Callias. Deine Gestalt, deine Gaben berechtigen dich nach allem zu trachten, was das menschliche Leben glückliches hat; deine Denkungsart allein wird dich unglücklich machen. Angewöhnt lauter idealische Wesen um dich her zu sehen, wirst du die Kunst niemals lernen, von den Menschen Vorteil zu ziehen. Du wirst in einer Welt, die dich so wenig kennen wird als du sie, wie ein Einwohner des Monds herum irren, und nirgends am rechten Platze sein, als in einer Einöde oder im Fasse des Diogenes. Was soll man mit einem Menschen anfangen, der Geister sieht? Der von der Tugend fodert, daß sie mit aller Welt und mit sich selbst in beständigem Kriege leben soll? Mit einem Menschen, der sich in den Mondschein hinsetzt, und Betrachtungen über das Glück der entkörperten Geister anstellt? Glaube mir, Callias, (ich kenne die Welt und sehe keine Geister) deine Philosophie mag vielleicht gut genug sein eine Gesellschaft müßiger Köpfe statt eines andern Spiels zu belustigen; aber es ist eine Torheit sie ausüben zu wollen. Doch du bist jung; die Einsamkeit deiner ersten Jugend und die morgenländischen Schwärmereien, die etliche griechische Müßiggänger von den Egyptern und Chaldäern nach Hause gebracht, haben deiner Phantasie einen romanhaften Schwung gegeben; die übermäßige Empfindlichkeit deiner Organisation hat den angenehmen Betrug befödert; Leuten von dieser Art ist nichts schön genug, was sie sehen, nichts angenehm genug, was sie fühlen; die Phantasie muß ihnen andre Welten erschaffen, die Unersättlichkeit ihres Herzens zu befriedigen. Allein diesem Übel kann noch geholfen werden. Selbst in den Ausschweifungen deiner Einbildungskraft entdeckt sich eine natürliche Richtigkeit des Verstandes, der nichts fehlt als auf andre Gegenstände angewendet zu werden. Ein wenig Gelehrigkeit und eine unparteiische Überlegung dessen, was ich dir sagen werde, ist alles was du nötig hast, um von dieser seltsamen Art von Wahnwitz geheilt zu werden, die du für Weisheit hältst. Überlaß es mir, dich aus den unsichtbaren Welten in die würkliche herabzuführen; sie wird dich anfangs befremden, aber nur weil sie dir neu ist, und wenn du sie einmal gewohnt bist, wirst du die ätherischen so wenig vermissen als ein Erwachsner die Spiele seiner Kindheit. Diese Schwärmereien sind Kinder der Einsamkeit und der Muße; ein Mensch der nach angenehmen Empfindungen dürstet, und der Mittel beraubt ist, sich würkliche zu verschaffen, ist genötiget sich mit Einbildungen zu speisen, und aus Mangel einer bessern Gesellschaft mit den Sylphen umzugehen. Die Erfahrung wird dich hievon am besten überzeugen können. Ich will dir die Geheimnisse einer Weisheit entdecken, die zum Genuß alles dessen führt, was die Natur, die Kunst, die Gesellschaft, und selbst die Einbildung (denn der Mensch ist doch nicht gemacht immer weise zu sein) Gutes und Angenehmes zu geben haben; und ich müßte mich ganz mit dir betrügen, wenn die Stimme der Vernunft, die du noch niemals gehört zu haben scheinst, dich nicht von einem Irrwege zurückrufen könnte, wo du am Ende deiner Reise in das Land der Hoffnungen dich um nichts reicher befinden würdest, als um die Erfahrung dich betrogen zu haben. Itzo ist es Zeit schlafen zu gehen; aber der nächste ruhige Morgen den ich habe, soll dein sein. Ich brauche dir nicht zu sagen, wie zufrieden ich mit der Art bin, wie du bisher dein Amt versehen hast; und ich wünsche nichts, als daß eine bessere Übereinstimmung unsrer Denkungsart mich in den Stand setze, dir Beweise von meiner Freundschaft zu geben.« Mit diesen Worten begab sich Hippias hinweg, und ließ unsern Agathon in einer Verfassung, die der Leser aus dem folgenden Kapitel ersehen wird.


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