Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Man erinnert sich vermutlich noch der Zweifel, worin sich Agathon verwickelt fand, als er die bezauberten Ufer von Jonien verließ, wo er, vielleicht zu seinem Vorteil, erfahren hatte, daß die Ideen, welche sich in den Hainen zu Delphi seiner jugendlichen Seele bemächtiget, und durch den Unterricht und Umgang des göttlichen Platons zu Athen noch mehr darin befestiget hatten, ihm bei einer Gelegenheit, wo er sich mit vollkommner Sicherheit auf ihre Stärke und beschützende Kraft verlassen hatte, mehr nachteilig als nützlich gewesen waren, ja sich endlich (zu einem billigen Verdacht gegen ihre Realität) von ganz entgegengesetzten so unmerklich und gutwillig hatten verdrängen lassen, daß er die Veränderung nicht eher wahrgenommen, als da sie schon völlig zu Stande gekommen war. Agathon hatte damals keine Zeit, dieser Zweifel wegen mit sich selbst einig zu werden; er glaubte zwar, oder hoffte vielmehr überhaupt, daß dasjenige was in seinen vormaligen Grundsätzen wahres sei, sich mit seinen neuerlangten Begriffen sehr wohl vereinigen lassen werde – aber er sah doch noch nicht deutlich genug, wie? – und wurde beim ersten Anblick Lücken gewahr, welche ihm desto mehr Sorge machten, je weniger er geneigt war, sie nach dem Exempel der Meisten, die sich in dieser Schwierigkeit befinden, mit dem ersten Besten, es möchte Stroh, Leimen, Lumpen oder was ihm sonst in die Hände fiele, sein, auszustopfen. Indes hatten doch damals seine vorigen Lieblings-Ideen noch einen starken Anhang in seinem Herzen, und er beruhigte sich, auf die Eingebungen desselben hin, mit der Hoffnung, daß es ihm, sobald er in ruhigere Umstände käme, leicht sein würde, die Harmonie zwischen seinem Kopf und seinem Herzen vollkommen wieder herzustellen. Allein die Geschäfte und die Zerstreuungen, welche zu Syracus alle seine Zeit verschlangen, hatten ihn genötigt, eine für ihn so wichtige Arbeit lange genug aufzuschieben, um sie durch immer neu hervorbrechende Schwierigkeiten ungleich schwerer zu machen, als sie anfangs gewesen wäre. Die ungereimte und lächerliche Seite der menschlichen Meinungen, Leidenschaften, und Gewohnheiten ist gemeiniglich die erste, welche sie einem Manne von Verstand und Witz zeigen, der die Muße nicht hat, sie mit anhaltender Aufmerksamkeit zu betrachten. Agathon gewöhnte sich also unvermerkt an diese Art, die Sachen anzuschauen; die natürliche Heiterkeit und Lebhaftigkeit seiner Sinnesart disponierte ihn ohnehin dazu; und die Syracusaner, deren Charakter eine Vermischung des Atheniensischen und Corinthischen, oder eine Komposition von den widersprechendesten Eigenschaften, welche ein Volk nur immer haben kann, ausmachte – und ein Hof, wie Dionysens Hof war – versahen ihn so reichlich mit komischen Charaktern, Bildern und Begebenheiten, daß der Absatz, welchen der gegenwärtige Ton seiner Seele (wenn man uns dieses malerische Kunst-Wort hier erlauben will) mit seinem ehmaligen machte, von Tag zu Tag immer stärker werden mußte. Der Oromasdes und Arimanius der alten Persen werden uns nicht als tödlichere Feinde vorgestellt, als es der komische Geist, und der Geist des Enthusiasmus sind; und die natürliche Antipathie dieser beiden Geister wird dadurch nicht wenig vermehrt, daß beide gleich geneigt sind, über die Grenzen der Mäßigung hinauszuschweifen. Der Enthusiastische Geist sieht alles in einem strengen feierlichen Licht; der Komische alles in einem milden und lachenden; nichts ist dem ersten leichter als so weit zugehen, bis ihm alles, was Spiel und Scherz heißt, verdammlich vorkommt; nichts dem andern leichter, als gerade in demjenigen, was jener mit der größesten Ernsthaftigkeit behandelt, am meisten Stoff zum Scherzen und Lachen zu finden.

Nehmen wir zu diesem noch, daß der leichtsinnige und scherzhafte Ton von jeher den Höfen vorzüglich eigen gewesen ist – und den besondern Umstand, daß die anmaßlichen Akademisten, oder Hof-Philosophen des Dionys, den einzigen Aristipp ausgenommen, eine Art von Tragikomischen Narren vorstellten, welche recht mit Fleiß dazu ausgesucht zu sein schienen, um die erhabenen Wissenschaften, für deren Priester und Mystagogen sie sich ausgeben, so verächtlich zu machen, als sie selbst waren – Nehmen wir alles dieses zusammen, so werden wir uns kaum verwundern können, wie es möglich gewesen, daß unser Held nach und nach sich endlich auf einem Punkt befand, wo ihn damals, da er in der Grotte der Nymphen auf Erscheinungen der Götter wartete – oder da er die Grundsätze, die Verheißungen und die Freundschaft des Sophisten Hippias mit einem so feurigen Unwillen von sich stieß – vermutlich niemand, oder nur die schlauesten Kenner des menschlichen Herzens erwartet haben mögen – nämlich da, wo ihm ein großer Teil seiner vormaligen Ideen, an denen er zu Smyrna nur zu zweifeln angefangen hatte, nun selbsten ganz schimärisch und belachenswert, und diejenigen, deren Gegenstände ihm zwar ehrwürdig bleiben mußten, doch subjektivisch betrachtet, in der barokischen Gestalt, wie sie in der Einbildung der Sterblichen verkleinert, verzerrt, vermischt oder verkleidet werden, zu nichts anderm zu taugen schienen, als lustig damit zu machen.

Unsere nachdenkenden Leser werden nunmehr ganz deutlich begreifen, warum wir Bedenken getragen haben, dem Urheber der Griechischen Handschrift in seinem allzugünstigen Urteil von dem gegenwärtigen moralischen Zustande unsers Helden, Beifall zu geben. Wir können uns nicht verbergen, daß dieser Zustand für seine Tugend gefährlich ist, und desto gefährlicher, je mehr man in demselben durch eine gewisse Behaglichkeit, Munterkeit des Geistes, und andre Anscheinungen einer völligen Gesundheit, sicher gemacht zu werden pflegt, sich in seinem natürlichen Zustande zu glauben. Nicht als ob es uns eben so leid sei, unsern Helden (den wir mit allen seinen Fehlern eben so sehr lieben, als ob er ein Sir Carl Grandison wäre) auf dem Wege zu sehen, von allen Arten der Schwärmerei von Grund aus geheilt zu werden – Denn so viel schönes und gutes sich immer zu ihrem Vorteil sagen lassen mag, so bleibt doch gewiß, daß es besser ist gesund sein, und keine Entzückungen haben, als die Harmonie der Sphären hören, und an einem hitzigen Fieber liegen – aber wir besorgen billig, daß die allzustarke Nachlassung, welche in der Seele eben sowohl als im Leibe, auf eine übermäßige Spannung zu folgen pflegt, seinem Herzen wenigstens so nachteilig werden könnte, als es die liebenswürdige Schwärmerei, womit wir ihn behaftet gesehen haben, seiner Vernunft sein mochte. Der neue Schwung, den seine Denkungsart zu Syracus bekam, würde uns ziemlich gleichgültig sein, wenn die Veränderung sich bloß auf spekulative Begriffe oder den Ton und die Verteilung des Lichts und Schattens in seiner Seele erstreckte: Aber wenn er dadurch weniger rechtschaffen, weniger ein Liebhaber der Wahrheit, weniger empfindlich für das Beste des menschlichen Geschlechts, weniger edelgesinnt, und wohltätig, weniger zur vorzüglichen Teilnehmung an der Glückseligkeit irgend einer besondern Gesellschaft (ohne welche die anmaßliche Welt-Bürgerschaft gewisser Leute bloße Großsprecherei oder höchstens eine Art von Don-Quischotterie ist) und zur Freundschaft, diesem Lieblings-Phantom schöner Seelen, weniger aufgelegt würde – erlaubet mir, ihr strengen Anti-Platonisten, denen alles Schimäre heißt, was sich nicht geometrisch beweisen läßt, erlaubet mir noch weiter zu gehen – wenn dieser schöne, herzerhöhende, wohltätige, und der Tugend so vorteilhafte Gedanke – für eine größere Sphäre als dieses animalische Leben, für eine edlere Art von Existenz, für vollkommnere Gegenstände, und zu einer vollkommnern Art von Aktivität, als unsre dermalige bestimmt zu sein – und die begeisternden, wiewohl träumerischen Aussichten, die uns dieser Beste aller Gedanken gibt – wenn er keinen Reiz, keine Macht auf seine Seele mehr hätte – O! Agathon, Agathon! dann würdest du, nicht unsern Haß, nicht eine lieblose Beurteilung, nicht eine triumphierende Freude über deinen Fall, aber – unser Mitleiden verdienen.

Die Gemüts-Verfassung worin wir ihn in diesem Kapitel gesehen haben, scheint allerdings nicht sehr geschickt zu sein, uns über diesen Punkt seinetwegen außer Sorgen zu setzen. Es ist eine so unbeständige Sache um die Begriffe, Meinungen und Urteile eines Menschen! Die Umstände, der besondere Gesichts-Punkt, in den sie uns stellen, die Gesellschaft worin wir leben, tausend kleine Einflüsse, die wir einzeln nicht gewahr werden, haben soviel Gewalt über dieses unerklärbare, launische, widersinnische Ding, unsre Seele! – daß wir nicht Bürge dafür sein wollten, was aus unserm Helden hätte werden können, wofern er mit solchen Dispositionen in eine Gesellschaft von Hippiassen und Alcibiaden, oder zurück in die schöne Welt zu Smyrna versetzt worden wäre. Zu gutem Glück sehen wir ihn im Begriff, zu Leuten zukommen, welche ihn mit der Menschheit wieder aussöhnen, und seinem schon erkaltenden Herzen diese beseelende Wärme wieder mitteilen werden, ohne welche die Tugend eine bloße Spekulation ist, die zwar einen unerschöpflichen Stoff zu scharfsinnigen Betrachtungen gibt, aber unter den vielerlei chymischen Prozessen, welche die allzuspitzfündige Vernunft mit ihr vornimmt, endlich ein so abgezogenes, so feines, so delikates Ding wird, daß sich kein Gebrauch davon machen läßt.

So sehr sich auch die Einbildungs-Kraft unsers Helden abgekühlt hat, so unzuverlässig, übertrieben und grillenhaft er die Geister-Lehre und die metaphysische Politik seines Freundes Plato zu finden glaubt; so komisch ihm seine eigene Ausschweifungen in dem Stande der Bezauberung, worin er sich ehemals befunden, vorkommen; so klein er überhaupt von den Menschen denkt, und so fest er entschlossen zu sein vermeint, von dem schönen Phantom, wie er es itzo nennt, von dem Gedanken, sich Verdienste um seine Gattung zu machen, in seinem Leben sich nicht wieder täuschen zu lassen; so ist es doch bei weitem noch nicht an dem, daß er diese zarte Empfindlichkeit der Seele, und diesen eingewurzelten Hang zu dem idealischen Schönen verloren haben sollte, der das geheime Principium seiner ehemaligen Begeisterung, und aller der manchfaltigen Schwärmereien, Bezauberungen und Entzückungen, in deren magischem Labyrinthe sie ihn, nach Maßgabe der Umstände, herumgeführt, gewesen ist. Die verstohlnen Blicke, die er noch so gerne in die Szenen seiner glücklichen Jugend wirft; das Bild der liebenswürdigen Psyche, welches durch alle Veränderungen, die in seiner Seele vorgegangen, nichts von seinem Glanze verloren hat; die Erinnerung dieser reinen, unbeschreiblichen, fast vergötternden Wollust, in welcher sein Herz zerfloß, als er es noch in seiner Gewalt hatte, Glückliche zu machen; und als die Reinigkeit dieser göttlichen Lust noch durch keine Erfahrungen von der Undankbarkeit und Bosheit der Menschen verdüstert und trübe gemacht wurde – diese Bilder, denen er sich noch so gerne überläßt – welche sich selbst in seinen Träumen seiner gerührten Seele so oft und so lebhaft darstellen – die Seufzer, die Wünsche, die er diesen geliebten verschwindenden Schatten nachschickt – alle diese Symptomen sind uns Bürge dafür, daß er noch Agathon ist; daß die Veränderung in seinen Begriffen und Urteilen, die neue Theorie von allem dem, was würklich ein Gegenstand unsrer Nachforschung zu sein verdient, oder von Eitelkeit und Vorwitz dazu gemacht worden, welche sich in seiner Seele zu entwickeln angefangen, die edlern Teile seines Herzens nicht angegriffen habe; kurz, daß wir uns Hoffnung machen können, aus dem Streit der beiden widerwärtigen und feindlichen Geister, wodurch seine ganze innerliche Verfassung seit einiger Zeit erschüttert, verwirrt und in Gärung gesetzt worden, zuletzt eine eben so schöne Harmonie von Weisheit und Tugend hervorkommen zu sehen, wie nach dem System der alten Morgenländischen Weisen, aus dem Streit der Finsternis und des Lichts, diese schöne Welt hervorgegangen sein soll.


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