Christoph Martin Wieland
Geschichte des Agathon
Christoph Martin Wieland

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Fünftes Kapitel

Eine Entdeckung

Die aufgehende Sonne, die von der rosenfingrichten Aurora angekündiget, das Jonische Meer mit ihren ersten Strahlen vergoldete, fand alle diejenigen, mit dem Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben, welche die Nacht durch dem Bacchus und seiner Göttin Schwester geopfert hatten. Nur Agathon, der gewohnt war mit der Morgenröte zu erwachen, wurde von den ersten Strahlen geweckt, die in horizontalen Linien an seiner Stirne hinschlüpften. Indem er die Augen aufschlug, sah er einen jungen Menschen in einer Sklaven-Kleidung vor sich stehen, der ihn mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. So schön als Agathon war, so schien er doch von diesem liebenswürdigen Jüngling an Feinheit der Gestalt und Farbe übertroffen zu werden; in der Tat hatte er in seiner Gesichtsbildung und in seiner ganzen Figur etwas so jungfräuliches, daß er, gleich dem schönen Liebling des Horaz, in weiblicher Kleidung unter einer Schar von Mädchen gemischt, gar leicht das Auge des schärfsten Kenners betrogen haben würde. Agathon erwiderte den Anblick dieses jungen Sklaven mit einer Aufmerksamkeit, in welcher ein angenehmes Erstaunen nach und nach sich bis zur Entzückung erhob. Eben diese Bewegungen enthüllten sich auch in dem anmutigen Gesichte des jungen Sklaven; ihre Seelen erkannten einander in eben demselben Augenblicke, und schienen durch ihre Blicke schon in einander zu fließen, eh ihre Arme sich umfangen, und die von Entzückung bebende Lippen »Psyche – Agathon«, ausrufen konnten. Sie schwiegen eine lange Zeit; dasjenige, was sie empfanden, war über allen Ausdruck; und wozu bedurften sie der Worte? Der Gebrauch der Sprache hört auf, wenn sich die Seelen einander unmittelbar mitteilen, sich unmittelbar anschauen und berühren, und in einem Augenblick mehr empfinden, als die Zunge der Musen selbst in ganzen Jahren auszusprechen vermöchte. Die Sonne würde vielleicht unbemerkt über ihrem Haupt hinweg, und wieder in den Ozean hinab gestiegen sein, ohne daß sie in dem fortdaurenden Augenblick der Entzückung den Wechsel der Stunden bemerkt hätten; wenn nicht Agathon dem es allerdings zukam hierin der erste zu sein, sich mit sanfter Gewalt aus den Armen seiner Psyche losgewunden hätte, um von ihr zu erfahren, durch was für einen Zufall sie in die Gewalt der Seeräuber gekommen sei. »Die Zeit ist kostbar, liebste Psyche« sagte er, »wir müssen uns der Augenblicke bemächtigen, da diese Barbaren, von der Gewalt ihres Gottes bezwungen, zu Boden liegen. Erzähle mir, durch was für einen Zufall wurdest du von meiner Seite gerissen, ohne daß es mir möglich war zu erfahren, wie oder wohin? Und wie finde ich dich itzt in diesem Sklavenkleid, und in der Gewalt dieser Seeräuber?«


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